29.09.2022 1. Untersuchungsausschuss — Ausschuss — hib 503/2022

Zeuge: „Waren überrascht vom schnellen Zusammenbruch“

Berlin: (hib/LL) Der 1. Untersuchungsausschuss in der 20. Wahlperiode, der sich mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan befasst, hat am Donnerstag mit der Zeugenvernehmung begonnen. Als ersten Zeugen befragten die Mitglieder einen Mitarbeiter des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg). Der Lage-Referent war im Untersuchungszeitraum vom 29. Februar 2020 - dem Abschluss des Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung und den Taliban - bis zum Ende des Mandats und der militärischen Evakuierung am 30. September 2021 in der Abteilung Strategie und Einsatz mit für die bundeswehrinterne Lagebeobachtung und -berichterstattung zuständig.

Die Ausschussmitglieder interessierte vor allem, zu welchen Zeitpunkten sich für den Befragten Anhaltspunkte für ein verändertes Lagebild, also eine Verschärfung der Sicherheitslage, ergaben, woher er seine Informationen bezog, wie sich sein Referat mit anderen nachrichtendienstlichen Stellen abstimmte und wo es gegebenenfalls zu Unterschieden in der Lagebeurteilung kam.

Der Zeuge sagte aus, mit dem Bundesnachrichtendienst habe man sich täglich bis wöchentlich ausgetauscht und sich immer um eine gemeinsame Lageeinschätzung bemüht. Die Informationsgewinnung aus den verschiedenen Landesteilen Afghanistans sei jedoch im Zuge des stetigen Rückzugs der afghanischen Streitkräfte immer schwieriger geworden. Mit der zunehmenden Versagung der Luftunterstützung durch das US-Militär hätten sich die Afghanen immer weiter in eine abnehmende Zahl gesicherter Provinzen zurückgezogen, sich vor allem defensiv verhalten und so den Taliban mehr und mehr Raum überlassen.

Für eine brauchbare Einschätzung der Durchhaltefähigkeit der afghanischen Sicherheitskräfte hätten ihm zunächst Informationen über die Größe der Abhängigkeit dieser Kräfte vom amerikanischen Militär gefehlt. Alle mit dem Einsatz befassten Mitarbeiter seien von dem schnellen Zusammenbruch der afghanischen Truppen überrascht gewesen.

Für die afghanischen Kräfte habe der Abschluss des Doha-Abkommens zwischen den USA und den Taliban ein „Motivations-Schock“ dargestellt. Bis zuletzt hätten diese aber wohl an die weitere Präsenz der US-Streitkräfte geglaubt. Gegen Ende des Bundeswehreinsatzes habe man eigene verwertbare Erkenntnisse nur noch durch Patrouillenfahrten rund um das eigene Lager gewinnen können, so der Ministeriumsmitarbeiter.

Der Abschluss des Doha-Abkommens sei im Grunde ein Fingerzeig gewesen, dass der internationale Einsatz zu Ende gehe - und darauf, wie zielgerichtet die Taliban ihre Interessen verfolgt hätten. Mit dem Abkommen, an den afghanischen Kräften vorbei verhandelt, sei der Wille der Amerikaner deutlich geworden, das Land zu verlassen, urteilte der Zeuge. Die Taliban hatten sich im Gegenzug verpflichtet, Nato-Kräfte nicht anzugreifen. Mit dem schriftlich garantierten Abzug Washingtons hätten sie eines ihrer beiden Hauptziele erreicht: den vollständigen Abzug der internationalen Truppen. Zugleich hätten sie die internen Machtkonkurrenten demoralisiert.

Das zweite Ziel der Taliban sei die Errichtung eines islamischen Gottesstaates gewesen, führte der Zeuge weiter aus. Die Taliban seien dabei sehr strukturiert vorgegangen, hätten für jede eroberte Provinz Schattenstrukturen gebildet. Aber zuletzt seien sie selbst von der Schnelligkeit des eigenen Vorrückens überrascht gewesen, hätten Kabul kampflos eingenommen, und seien mit der Bildung von Verwaltungsstrukturen kaum hinterhergekommen.

Im August 2021 hätten die Taliban dann so große Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht, dass die offiziellen afghanischen Kräfte keinen Bewegungsspielraum mehr gehabt hätten. Die seitens der Taliban vertraglich zugesicherten Verhandlungen mit den politischen Konkurrenten um die Macht in Afghanistan sei da bereits nur noch eine Farce gewesen. Er habe damals bereits darauf hingewiesen, dass nun ein Kipppunkt der Machtverhältnisse in dem Land am Hindukusch erreicht sei, und es möglicherweise nur noch des nächsten kleinen Auslösers bedürfe, damit sich die Machtverhältnisse erdrutschartig und grundlegend zugunsten der Taliban änderten, sagte der Zeuge.

Für die deutschen Streitkräfte habe man aus der sich zuspitzenden Situation und aus dem sich schnell wandelnden Lagebild die richtigen Handlungen abgeleitet, urteilte er. Für die Bundeswehr und seinen Tätigkeitsbereich als Lagereferent sei es darum gegangen, die eigenen Kräfte bestmöglich zu schützen, Gefährdungen zu verringern und die Kräfte herauszubringen. Die Schutz- und Warnfunktion seiner Dienststelle habe funktioniert, so der Oberstleutnant. Der Ablauf „ist aus unserer Sicht erfolgreich gewesen“.

Als weitere Zeugen befragt der Ausschuss im Verlauf der heutigen Sitzung den Leiter der Einsatzgruppe Afghanistan, Einsatzführungskommando, sowie den Leiter der Abteilung Strategie und Einsatz im Bundesverteidigungsministerium.

Marginalspalte