„Islamabad wollte ein stabiles Nachbarland“
Berlin: (hib/LL) Der 1. Untersuchungsausschuss zum Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan hat seine zweite Zeugenvernehmung gestern Abend mit der Befragung eines ehemaligen Referenten in der Deutschen Botschaft Islamabad und späteren Pakistan-Referenten im Auswärtigen Amt fortgesetzt. Dabei ging es den Abgeordneten vor allem um die Rolle des Nachbarlandes Pakistan und dessen Verhältnis zu Afghanistan, dem dortigen internationalen Engagement, dem Doha-Abkommen und den Taliban.
Der Zeuge führte aus, Pakistan habe die international unterstützte afghanische Regierung stets als legitimen Vertreter Afghanistans anerkannt, nicht aber die Taliban. „Politisch ließ Islamabad keine Zweifel an seiner Anerkennung der afghanischen Regierung.“ Islamabads Hauptinteresse sei ein stabiles Nachbarland. „An einem Kollaps der Staatlichkeit hatte Pakistan kein Interesse.“
Zwischen Kabul und Islamabad habe es stets enge Kontakte und einen breiten Austausch in allen möglichen Bereichen gegeben. Über die lange und poröse gemeinsame Grenze gäbe es jedes Jahr eine massenhafte, geduldete Wanderung von Menschen - Funktionäre, Kämpfer, Landsleute, Familien - in beide Richtungen. Drei Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan lebten zudem seit Jahrzehnten in Pakistan.
Der angekündigte Truppenabzug der USA sei unmittelbar eine Genugtuung für die pakistanische Regierung gewesen, berichtete der Außenamts-Referent. Islamabad sei immer der Meinung gewesen, dass das westliche Engagement im Nachbarland nicht von Dauer sein dürfe. Auch das am 29. Februar 2020 zwischen den USA und den Taliban geschlossene Doha-Abkommens hätte Pakistan daher nicht abgelehnt. „Man war in Islamabad der Meinung, dass das den eigenen regionalen Interessen entgegenkommt.“ Dabei sei die dortige Regierung wie fast alle internationalen Akteure davon ausgegangen, dass es in Afghanistan zu längeren Friedensverhandlungen und schließlich zu einer Beteiligung der Taliban an einer nationalen Einheitsregierung kommen werde. „Pakistan wünschte sich eine starke Rolle der Taliban im afghanischen Machtgefüge“, erklärte der Diplomat.
Zu der Initiative der USA und den Chancen und Folgen des Doha-Abkommens hatte zuvor der ehemalige Gesandte in der Deutschen Botschaft Kabul berichtet. Bei allen Risiken, die das Abkommen mit seiner Beteiligung der bis dahin ausgeschlossenen Taliban geborgen hätte, sei der Friedensprozess im Rahmen des dann geschlossenen Abkommens der einzige Weg gewesen, den Verfall der in zwei Jahrzehnten aufgebauten afghanischen Strukturen aufzuhalten, urteilte er. Mit einem so schnellen Zusammenbruch des afghanischen Apparats im Juli und August 2021 habe er bis zum Ende seines Einsatzes in Kabul Mitte Juni desselben Jahres aber nicht gerechnet. Pläne für eine überhastete Massenevakuierung an einem umkämpften Kabuler Flughafen habe man nicht in der Schublade gehabt. Allerdings habe man die Möglichkeit einer Evakuierung des Generalkonsulats und der Botschaft unter Einbeziehung der entsprechenden Fachkräfte frühzeitig durchgespielt.
Eine schrittweise Reduzierung der militärischen Präsenz sei ein bereits über mehrere Jahre laufender Prozess gewesen, führte er weiter aus. Die Planungen dafür hätten bereits 2019 begonnen. Die Diplomatie habe jedoch bis Juni darauf gesetzt, auch nach einem Ende der internationalen Mission „Resolute Support“ eine Vertretung in Kabul zu unterhalten. Es sei ein mögliches Szenario gewesen, dass sich nach dem Abzug der internationalen Streitkräfte eine afghanische Einheitsregierung unter Beteiligung der Taliban bilden würde. Als eine negative Komponente dieses Szenarios habe man in Teilen des Landes bürgerkriegsartige Zustände befürchtet, nicht aber, dass die Taliban in so kurzer Zeit derart mühelos die Macht an sich reißen würden.
Es habe ihm in den letzten Monaten seiner Dienstzeit in Kabul „immer mehr der Glaube gefehlt“, dass die bestehenden Verhältnisse in Afghanistan, die republikanische Staatsform, hätten erhalten werden können, erinnerte sich der Gesandte. „Aber ich hätte nicht gedacht, dass es am Ende so schnell geht.“
Nach den Wahlen in den USA im Herbst 2020 habe man noch die Hoffnung gehegt, die neue Administration unter Präsident Joe Biden könne den Truppenabzug verlangsamen oder verschieben. Es sei ein monatelanger „Reviewprozess“ der neuen Regierung in Washington gefolgt, auf dessen Ergebnis man in der ersten Jahreshälfte 2021 gespannt gewartet habe. „Wir saßen wie auf Kohlen“, berichtete der Zeuge. Man habe wissen wollen, wie sich die Amerikaner entscheiden und sich zu dem Abkommen von Ex-Präsident Donald Trump positionieren. Konkrete Planungen für den Abzug des gesamten zivilen und diplomatischen Personals seien aber erst losgegangen, „als sich die Sicherheitslage rapide verschlechterte. Das war erst Wochen nach meiner Abreise“, so der ehemalige Gesandte.