17.10.2022 Kultur und Medien — Ausschuss — hib 563/2022

Die deutsche und die europäische Perspektive

Berlin: (hib/AW) Das geplante „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ stößt bei Historikern, Politikwissenschaftlern und früheren DDR-Bürgerrechtlern prinzipiell auf viel Zustimmung. Allerdings existieren unterschiedliche Auffassungen darüber, ob das Zukunftszentrum eine eher innerdeutsche oder europäische Perspektive vermitteln soll. Dies zeigte sich am Montag in einer öffentlichen Anhörung des Kulturausschusses zu den von der Bundesregierung vorgelegten „Eckpunkten zur Errichtung eines Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ (20/1764).

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk sprach sich dafür aus, das Zukunftszentrum von Anfang an und auf allen Ebenen europäisch und vor allem osteuropäisch auszurichten. Nicht erst der Krieg Russlands gegen die Ukraine habe gezeigt, dass im Westen eine mitunter große Unkenntnis über die Geschichte der Sowjetunion, Russlands und Osteuropas vorherrsche. Die Geschichte der DDR sei aber ohne die Entwicklungen in Osteuropa ebenso wenig zu verstehen wie die Transformationsgeschichte seit 1990. Das Versprechen von den „blühenden Landschaften“ habe eine fatale Vergleichsgröße geschaffen. Mit Blick auf die Gegenwart und die Zukunft müsse das Zukunftszentrum als „ Demokratie-, Freiheits- und Identitätsanker“ konzipiert werden. Deshalb müsse es die Opposition und den Widerstand gegen die SED-Diktatur ausführlich zu würdigen.

Kowalczuk war ebenso wie die Politikwissenschaftlerin Judith C. Enders Mitglied in der Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“. Diese Kommission hatte in ihrem Abschlussbericht 2020 die Schaffung des Zukunftszentrums vorgeschlagen. Enders warnte davor, das Zentrum nur zu einem Ort „trockener“ Wissenschaft zu machen. Vielmehr müsse das Zentrum zu einem Ort des Dialogs zwischen Ost- und Westdeutschen werden, an dem auch Visionen für die Zukunft entwickelt werden können. Nur so könne auch eine „emotionale Bindung“ an das Thema erreicht werden. Dies müsse sich bereits in einer entsprechend offenen und einladenden Architektur des Zentrums spiegeln, forderte Enders.

Die Politikwissenschaftlerin Beate Neuss warb dafür, die innere Einheit Deutschlands in den Fokus des Zentrums zu stellen. Viele Menschen in Ostdeutschland hätten schon heute vielfach den Eindruck, dass ihre Biografien, persönlichen Erfahrungen und Interessen im vereinten Deutschland eine zweitrangige Rolle spielen würden. Sollte das Zentrum den Schwerpunkt seiner inhaltlichen Ausrichtung auf die europäische Perspektive konzentrieren, dann könne sich dieser Eindruck verstärken. Neuss sprach sich zudem dafür aus, dass das Zentrum neben seinem Hauptsitz in Ostdeutschland zugleich ein kleines Büro in Westdeutschland unterhalten sollte, um Ausstellungen und Veranstaltungen zu koordinieren. Sie glaube nicht, dass sehr viele Westdeutsche, zum Beispiel Schulklassen, das Zentrum im Osten besuchen werden.

Der Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Karl-Heinz Paqué, sprach sich eher für eine Gleichwertigkeit der deutschen und der europäischen Perspektive aus. Es sei zwar richtig, dass viele Westdeutsche „Nachhilfe“ bezüglich der spezifisch ostdeutschen Erfahrungen im Einigungsprozess etwa durch Arbeitsplatzverlust und ökonomische Verwerfungen benötigten. Allerdings dürfe das Zentrum auf keinen Fall eine rein ostdeutsche Sicht vermitteln. Die politischen Umbrüche in den Ländern Mittel- und Osteuropas seien zeitgleich zur Friedlichen Revolution und zur Deutschen Einheit abgelaufen. Die Sichtbarmachung von Transformationserfahrungen, sowohl aus Ostdeutschland wie aus Ostmitteleuropa, könne deshalb dazu beitragen, die richtigen Schlussfolgerungen aus diesen historischen Ereignissen zu ziehen und in aktuellen Diskussionen umzusetzen. Paqué stimmte mit Neuss darin überein, dass diese Transformationserfahrungen auch beim Umgang mit den Herausforderungen beim Klimaschutz genutzt werden könnten. Schließlich werde der Klimaschutz zu weiteren Transformationen in der Wirtschaft führen.

Die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin und frühere Bundestagsabgeordnete Angelika Barbe sprach sich dezidiert dafür aus, dass es bei der Arbeit des Zentrums in erster Linie um das Zusammenwachsen des geteilten deutschen Volkes gehen müsse. Der Begriff „europäische Transformation“ sei „schwammig“ und lasse befürchten, dass die EU-Bürokratie den Bürgern Themen vorschreiben und ihre Interpretation und Deutungshoheit gleich mitliefern wolle. Es müsse vorrangig darum gehen, interessengeleitete „Geschichtslügen“ richtigzustellen, die Verbrechen des real existierenden Sozialismus und Kommunismus zu benennen und den Opfern der SED-Diktatur ihre Würde wiederzugeben. Zu den Geschichtslügen der SED-Propaganda gehöre auch, die Bürger in der DDR hätten eine reformierte DDR gewollt. Die Ostdeutschen hätten aber bei der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 zu 85 Prozent Parteien gewählt, die für die Einheit plädierten.

Der Politikwissenschaftler und Historiker Stefan Bollinger hingegen verwies auf die Widersprüchlichkeit des Einigungsprozesses. So hätten eben sehr wohl viele DDR-Bürger auf eine erneuerte DDR und später auf einen Einigungsprozess auf Augenhöhe zwischen Ost- und Westdeutschen gesetzt, führte Bollinger an. Dies müsse vom Zukunftszentrum thematisiert werden. Ein wichtiges Arbeitsfeld sei zudem der Vollzug der politischen, verwaltungstechnischen und rechtlichen Einheit, in deren Verlauf es zu einem personellen Transfer westdeutscher Verwaltungsfachkräfte und Politiker gekommen sei. Zudem müsse der Prozess der Transformation der ostdeutschen Wirtschaft untersucht werden. Ostdeutschland sei zu einem „Experimentierfeld“ für ein neoliberales Wirtschaftsleben genutzt worden mit weitreichenden Konsequenzen für ganz Deutschland.

Marginalspalte