09.11.2022 Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz — Anhörung — hib 641/2022

Experten uneins über AKW-Laufzeitverlängerung

Berlin: (hib/SAS) Die Gesetzentwürfe von Bundesregierung und CDU/CSU-Fraktion für eine 19. Änderung des Atomgesetzes sind in einer öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz am Mittwoch auf ein geteiltes Echo der Experten gestoßen.

Dabei lehnten einzelne Sachverständige jede Regelung zum befristeten Weiterbetrieb der letzten drei aktiven deutschen Atomkraftwerke (AKW) ab und pochten auf den geplanten Atomausstieg zum Jahresende. Von den übrigen Sachverständigen begrüßte ein Teil der insgesamt neun Experten das Vorhaben der Bundesregierung, andere unterstrichen die Vorteile der von der Union vorgeschlagenen Regelung.

Diese plädiert mit ihrem Gesetzentwurf (20/3488) dafür, angesichts der angespannten Lage auf dem Gas- sowie dem Strommarkt die drei AKW Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 mindestens bis 31. Dezember 2023 weiter laufen zu lassen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung (20/4217) sieht hingegen einen Weiterbetrieb der AKW im Streckbetrieb nur bis 15. April 2023 vor. Die Anschaffung neuer Brennstäbe wird explizit ausgeschlossen. Beide Gesetzesinitiativen zielen auf eine Änderung des Atomgesetzes, das nach geltender Rechtslage die Abschaltung der Reaktoren verlangt. Ohne Änderung würde ihre Betriebserlaubnis am 31. Dezember 2022 auslaufen.

Ein klares Votum für das Festhalten am Ausstiegsbeschluss lieferte Heinz Smital von Greenpeace: Die eigentlichen Probleme, Gasmangel und hohe Strompreise, ließen sich mit beiden Gesetzesentwürfen nicht lösen. Engpässe im Stromnetz könne man „einfacher und unproblematischer“ durch die Hebung von Lastenmanagement-Potenzialen entgegenwirken. Auf „scheibchenweises Verlängern der AKW-Laufzeiten zu setzen, sei in jedem Fall falsch - und vor allem risikoreich: Der “Salami-Betrieb„ sei die “gefährlichste Art„ einen Reaktor zu betreiben sagte der Physiker, weil nicht mehr “substanziell investiert, sondern improvisiert„ werde.

An den Gründen für den Atomausstieg in Deutschland, habe sich nichts geändert, betonte auch Christoph Pistner, Bereichsleiter Nukleartechnik & Anlagensicherheit beim Öko-Institut. Im Gegenteil: Die jüngsten Ereignisse hätten sie eher bestätigt, so Pistner mit Blick auf den Krieg in der Ukraine, in dem auch Atomanlagen wie das AKW Saporischschja unter Beschuss geraten seien. Doch aufgrund der infolge des Krieges schwierigen Lage der europäischen Stromversorgung sei der kurzfristige Weiterbetrieb der deutschen AKW nach Risikoabwägung “vertretbar und sinnvoll„, erklärte der stellvertretende Leiter der Reaktor-Sicherheitskommission, die das Bundesumweltministerium berät.

Auch Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin sprach sich explizit gegen über das Frühjahr hinausgehende Laufzeitverlängerungen aus: Diese seien für die Sicherheit der Stromversorgung nicht notwendig, aus energieökonomischer Sicht unnötig und zudem kontraproduktiv, so die Energieexpertin. Zur Begründung verwies sie vor allem auf den “viel zu geringen Beitrag„ der drei AKW zur Versorgungssicherheit. Der Stresstest der Netzbetreiber habe gezeigt, dass diese auch ohne die AKW gewährleistet sei. Auch die Auswirkungen auf den Strompreis seien mit 0,5 bis 0,8 Prozent “sehr, sehr gering„. Kemfert verwies demgegenüber neben Sicherheitsrisiken auch auf die hohen Kosten der Atomenergie und die ungelöste Endlagerfrage. Vor allem aber blockierten längere Laufzeiten den dringend nötigen Ausbau der erneuerbaren Energien, erklärte die Wirtschaftswissenschaftlerin. Diese ergänzten sich mit Speichertechnologien, Demand-Side-Management und flexiblen Backup-Kapazitäten - aber eben nicht mit unflexiblen Atomkraftwerken.

Dass die Atomkraft anders als oft behauptet keine “Renaissance„ erlebe, bekräftigte auch der international tätige Atomanalyst Mycle Schneider in seiner Stellungnahme. Der Blick auf die Zahlen und Fakten belege stattdessen das Bild einer mit zahlreichen Problemen kämpfenden, alternden Industrie, die auf dem “Weltmarkt der stromerzeugenden Technologien irrelevant„ geworden sei. Es finde ein “undeklarierter, organischer Ausstieg„ statt, der durch Laufzeitverlängerungen nicht aufgehalten werden könne, sagte Schneider. So sei der Atomstromanteil weltweit erstmalig 2021 unter die Zehn-Prozent-Marke gefallen, es seien mehr AKW vom Netz gegangen als gebaut worden. In den vergangenen Jahren seien es vor allem China und Russland gewesen, die neue AKW-Projekte gestartet hätten.

Gegen Sicherheitsbedenken gegenüber Laufzeitverlängerungen wandte sich hingegen der Physiker Ulrich Waas, bis 2021 Mitglied der Reaktor-Sicherheitskommission. Die drei deutschen AKW seien auf dem aktuellen Stand der sicherheitstechnischen Anforderungen und könnten “ohne Abstriche„ im Sicherheitsniveau weiterbetrieben werden, wenn die erforderlichen Vorkehrungen nicht “über Nacht getroffen würden„, mahnte Waas mit Blick etwa auf das nötige Personal. Die Atomkraft könne als Brückentechnologie nach dem Ausfall von Gas einen Beitrag leisten - vor allem mit Blick auf das politische Ziel der Klimaneutralität, so sein Urteil.

Diese Meinung vertrat auch Anna Veronika Wendland: Sie kritisierte, die Bundesregierung habe sich in ihrer Begründung des Gesetzentwurfs ausschließlich auf Fragen der Versorgungssicherheit, des Strompreises und der Netzstabilität bezogen und die Klimasicherheit ausgespart. Der Weiterbetrieb der drei letzten deutschen AKW müsse aber angesichts der Klimakrise neu bewertet werden, so Wendland, die Technikhistorikerin am Herder-Institut ist und zur Thematik der Reaktorsicherheit in Ost- und Westeuropa forscht. In Abwägung der Risiken gelte es, das Risiko der Kernenergie mit den Risiken der Klimaerwärmung sowie der zusätzlichen Kohleverstromung zu vergleichen. Die Kohlenutzung stelle ein höheres Risiko für Gesundheit, Umwelt und Klima dar als die Kernenergienutzung, so Wendland.

Jonas Egerer, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Erlangen-Nürnberg, führte ein anderes Argument für AKW-Laufzeiten über 2023 hinaus an: Er verwies auf Ergebnisse einer eigenen Studie im Team unter anderem mit der Wirtschaftsweisen Veronika Grimm zur Wirkung längerer AKW-Laufzeiten auf die Strompreisentwicklung. Demnach seien die größten Effekte auf die Strompreise zu erwarten, wenn die drei deutschen Atomkraftwerke auch 2024 noch weiterbetrieben würden: Dann sei ein Preiseffekt von 0,5 bis 2 Cent pro Kilowattstunde möglich.

Aus rechtlicher Perspektive schließlich hatten die auf das Energierecht spezialisierte Rechtsanwältin Dörte Fouquet und der Atom- und Strahlenrechtsexperte Christian Raetzke die beiden vorliegenden Gesetzentwürfen betrachtet - und waren dabei zu unterschiedlicher Einschätzungen gekommen: Während Fouquet den im Regierungsentwurf vorgesehenen Streckbetrieb als “geringsten Eingriff„ begrüßte, der den Fahrplan zum Atomausstieg in Deutschland nicht gefährde und das Programm des Rückbaus und der späteren Atommüll-Endlagerung nicht aufhalte, kritisierte Raetzke die fehlende Abwägung mit Gemeinwohlbelangen wie dem Klimaschutz. Dass diese über den kommenden Winter hinaus nicht vorgenommen werde sei ein “Defizit„. Die mit Verfassungsrang ausgestatteten Gemeinwohlbelange würden im Unions-Entwurf besser berücksichtigt, so Raetzke.

Fouquet hatte zuvor zudem darauf hingewiesen, dass ein Weiterbetrieb über den 15. April 2023 hinaus, wie in die Union wolle, eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) erfordere. Das habe ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes zu Laufzeitverlängerungen der belgischen Kraftwerke Doel 1 und Doel 2 gezeigt, so die Sachverständige. Auch die im Fall der Beschaffung neuer Brennstäbe nötige Notifizierung an die EU-Kommission könne den Weiterbetrieb verzögern. Ganz anderer Auffassung war auch hier Raetzke: Die Pflicht zur Durchführung einer UVP bestehe aus seiner Sicht nicht.

Marginalspalte