17.11.2022 Klimaschutz und Energie — Anhörung — hib 668/2022

Expertenstreit um Braunkohleausstieg im Rheinischen Revier

Berlin: (hib/HAU) Das Vorhaben der Bundesregierung, den Braunkohleausstieg im Rheinischen Revier von 2038 auf das Jahr 2030 vorzuziehen und gleichzeitig die Laufzeit zweier Kraftwerksblöcke über den 31. Dezember 2022 hinaus bis zum 31. März 2024 zu verlängern, wird von Sachverständigen unterschiedlich beurteilt. Das wurde während einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Klimaschutz und Energie am Donnerstag zu dem entsprechenden Gesetzentwurf der Bundesregierung (20/4300), mit dem das Gesetz zur Reduzierung und zur Beendigung der Kohleverstromung (Kohleverstromungsbeendigungsgesetz - KVBG) geändert werden soll, sowie dem Antrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz zu einem „Änderungsvertrag zum öffentlich-rechtlichen Vertrag zur Reduzierung und Beendigung der Braunkohleverstromung in Deutschland - Einholung eines zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bundestages gemäß § 49 des Kohlverstromungsbeendigungsgesetzes“ (20/4299) deutlich.

Deutliche Kritik am geplanten Weiterbetrieb der Kraftwerksblöcke Neurath D und Neurath E übte Francesca Mascha Klein von der gemeinnützigen umweltrechtlichen Organisation ClientEarth. Das Braunkohlekraftwerk Neurath befinde sich in der Liste der 30 klimaschädlichsten Kraftwerke Europas auf Platz 2, sagte Klein. Der Gesetzentwurf sei klimapolitisch unzureichend. „Mit dem darin enthaltenen neuen Ausstiegspfad wird das 1,5 Grad-Budget um ein Sechsfaches überschritten“, machte sie deutlich. Die Mehremissionen, die durch den Weiterbetrieb der Blöcke Neurath D und E vor allem in den Jahren 2022 bis 2024 entstehen, stünden im Widerspruch zum Kohlekompromiss, zum Klimaschutzgesetz (KSG) und zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum KSG.

Hauke Hermann vom Verein Öko-Institut begrüßte indes den Gesetzentwurf. Die mit der Laufzeitverlängerung verbundenen Mehremissionen seien im Vergleich zu den Einsparungen nach dem Jahr 2030 klein. Auch die Option auf einen Reservebetrieb sei „eine gute Regelung“, befand Hermann. Der Kohleausstieg im rheinischen Revier sei ein erster Schritt in die richtige Richtung, so der Vertreter des Öko-Instituts. Folgen müsse nun der Steinkohleausstieg, der zwei bis vier Jahre vorgezogen werden müsse, der Braunkohleausstieg in Mitteldeutschland, der vier bis fünf Jahre vorgezogen werden müsse, und der Ausstieg aus der Braunkohle in der Lausitz, der acht Jahre früher erfolgen müsse.

Aus Sicht von Frank Hennig, Diplomingenieur für Kraftwerksanlagen und Energieumwandlung, wird die geplante Pfadverkürzung „in keiner Weise bezüglich des energiepolitischen Zieldreiecks bewertet“. Die Behandlung von CO2-Emissionen als Oberziel führe zur Vernachlässigung von Preisentwicklung und Versorgungssicherheit, kritisierte Hennig. Windenergie- und Solaranlagen seien nicht in der Lage, Versorgungssicherheit herzustellen. Kurz- und mittelfristig gebe es noch keine Instrumente, um den Energieüberschuss aus dem Sommer in den Winter hinüberzunehmen. Die Abhängigkeit von Wind und Sonne habe also nichts mit „Freiheitsenergien“ zu tun, sondern sei ein „Rückschritt in vorindustrielle Verhältnisse“, sagte er.

Dem widersprach Barbie Kornelia Haller von der Bundesnetzagentur. Ein sicheres Stromnetz sei auch mit „hauptsächlich erneuerbaren Energien möglich“. Dies zeigten die Analysen der Bundesnetzagentur. Voraussetzung dafür sei die Umsetzung des Netzausbaus, bei dem es keine weiteren Verzögerungen geben dürfe. Haller forderte weitere Einsparungen beim Gasverbrauch. Aktuell liege die Verstromung von Gas bei zehn Terawattstunden monatlich. Dies gelte es zu senken, ohne die Netzstabilität aus dem Blick zu verlieren. Aus Sicht der Bundesnetzagentur sei die im Gesetzentwurf geplante Laufzeitverlängerung richtig, machte Haller deutlich. Keine Aussage konnte sie zu der Frage machen, ob durch einen Weiterbetrieb der drei deutschen Atomkraftwerke über den 15. April 2023 hinaus die Laufzeitverlängerung der Kohlekraftwerke zu vermeiden sei. Das sei weder von der Bundesnetzagentur noch von den Übertragungsnetzbetreibern im Stresstest berechnet worden, sagte Haller.

Der Bürgermeister der Stadt Elsdorf, Andreas Heller, forderte als Vertreter der Anrainer im Rheinischen Revier die Folgen eines nach vorn gezogenen Ausstiegs aus der Braunkohle für die betroffenen Region stärker in den Blick zu nehmen. „Wir als Anrainer tragen die Entscheidung zum beschleunigten Ausstieg 2030 mit“, betonte Heller. Die seit dem Kohlekompromiss vergangenen Jahre Strukturwandel hätten aber gezeigt, „dass der bisherige Instrumentenkasten nicht ausreicht, um den Ausstieg 2038 nachhaltig zu gestalten“. Es gebe bislang kaum Ersatzarbeitsplätze, keine zusätzlichen Gewerbeflächen und auch keine Planungsbeschleunigung und Verfahrensvereinfachungen. Ohne weitere begleitende Maßnahmen sei der Ausstieg schon 2030 nicht zu schaffen, sagte der Bürgermeister. „Geben Sie uns die faire Chance, diesen Wandel zu gestalten“, verlangte er.

Patrizia Kraft vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) warnte davor, den 2019 gefundenen Kohlekompromiss mit der geplanten gesetzlichen Änderung obsolet werden zu lassen. Der Kohleausstieg müsse nach wie vor sozialverträglich ausgestaltet werden, was auch die Schaffung neuer guter Arbeit vor Ort umfasse. „Eigentlich hatten wir die Hoffnung, dass die Zieldebatten durch den Kohlekompromiss überwunden sind“, sagte die DGB-Vertreterin. Viel dringender seien schließlich die Umsetzungsdebatten. Durch den vorgezogenen Ausstieg gebe es noch weniger Zeit, um die massiven strukturpolitischen Herausforderungen zu bewältigen. „Das ist mehr als ambitioniert“, sagte Kraft. Eine Fastfood-Strukturpolitik schaffe aber keine nachhaltige Zukunft.

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