13.12.2022 Enquete-Kommission Afghanistan-Einsatz — Anhörung — hib 738/2022

Fehler beim Afghanistan-Engagement bereits zu Beginn

Berlin: (hib/LL) Grundlegende Fehler des zwei Jahrzehnte dauernden internationalen Afghanistan-Engagements, das im Sommer vergangenen Jahres im Chaos endete, wurden ganz am Anfang gemacht, erklärten die Sachverständigen in der zweiten öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ am Montagnachmittag.

Besser hätte man die Taliban als Konfliktpartei an dem Neuaufbau ihres Landes beteiligt und zu der Petersberger Konferenz in Deutschland Ende November 2001 eingeladen, alle Konfliktparteien konsequent entwaffnet, echte demokratische Strukturen zugelassen und die Zivilgesellschaft stärker einbezogen, waren sich die drei Expertinnen und Experten einig. Die Bedingungen und Versäumnisse zu Beginn der Afghanistan-Mission, rund um die Petersberger Konferenz (vom 27. November bis 5. Dezember 2001), sowie die Wahrnehmung des internationalen Eingreifens seitens der afghanischen Bevölkerung und Zivilgesellschaft standen im Mittelpunkt der zweistündigen Anhörung.

Schlichtweg vergessen habe man bei den Vereinten Nationen bei der Vorbereitung der Petersberger Konferenz zunächst eine zivilgesellschaftliche Beteiligung, erklärte Thomas Ruttig von der Denkfabrik Afghanistan Analysts Network. So sei es zu dem Konstrukt gekommen, der Hauptkonferenz ein zivigesellschaftliches Forum, „unten, in Bad Godesberg“ vorangehen zu lassen. Das allerdings ohne größeren Einfluss auf die Entscheidungen „der Eliten, oben, auf dem Berg“ gewesen sei. „Die Distanz konnte kaum größer sein“, so der ehemalige Mitarbeiter der Vereinten Nationen, „zu viel Interaktion war wohl auch nicht gewollt. Beide Veranstaltungen hätte man später besser verlinken sollen“.

Leider sei auch die Zusammensetzung des Petersberger Hauptforums „nur bedingt repräsentativ“ für die staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen Afghanistans gewesen. Die US-Regierung habe die Taliban als Komplizen der Terroristen des 11. September einfach militärisch beseitigen und keinesfalls am Verhandlungstisch sehen wollen. Damit habe man die Chance vertan, den pragmatischen Flügel der Taliban zu stärken und der späteren Aufstandsbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Zusammensetzung der Konferenz habe aber dem militärischen Kräfteverhältnis in Afghanistan, den Interessen der wichtigsten Nachbarländer und der von den USA gewollten Dominanz der Nordallianz entsprochen.

Ruttig bezeichnete es neben dem „Geburtsfehler“ des Afghanistan-Engagements, die Taliban auszuschließen, als „strategischen Fehler“, Repräsentanten der Zivilgesellschaft einen „Platz am runden Tisch des Hauptforums auf dem Petersberg verweigert“ und sie „nicht von Anfang an als selbständige Akteure in die Umsetzung der Bonner Vereinbarungen und die entstehende Interimsregierung eingebunden“ zu haben. Neben der unterlassenen umfassenden Entwaffnung aller politischen Kontrahenten habe man dann Afghanistan auch noch eine mangelhafte Verfassung durchgehen lassen und in den neuen, demokratisch inspirierten Strukturen mehrfach zugunsten des politischen Außenseiters Hamid Karsai als langjährigem Präsidenten interveniert.

„Das Präsidialsystem ohne starke parlamentarische Kontrolle spiegelte die Vielfalt der afghanischen Gesellschaft nicht wieder“, so Ruttig. „Das führte zu innersystemischen Machtkämpfen, die sich auf die jeweiligen Präsidentschaftswahlen, den Kampf um den einzigen Top-Job, konzentrierten und das System destabilisierten.“ Den Afghanen sei mit Karsai „jemand vorgesetzt worden. Dabei hätte der Bonner Prozess eigentlich für Alternativen sorgen sollen.“ Deutschland, das die Konferenz gehostet habe, hätte mehr Gewicht in die Waagschale werfen, gleichgesinnte Länder mobilisieren sowie die Zivilgesellschaft besser fördern können. Es sei dann erschwerend hinzu gekommen, dass bereits nach wenigen Jahren das internationale und vor allem das Interesse der Führungsmacht USA am Schauplatz Afghanistan geschwunden sei.

Für sämtliche Errungenschaften, die Afghanistan in den vergangenen zwanzig Jahren erfahren hätte, bis hin zu den Frauenrechten, seien auf den Bonner Konferenzen 2001 die Grundlagen gelegt worden, erinnerte die afghanische Politikerin und Frauenrechtlerin Habiba Sarabi. Die Menschen in Afghanistan hätten sehr große Hoffnungen in die Petersberger Konferenz - „ein Licht am Ende des Tunnels“ der Gewalt und Gegengewalt - gesetzt. Die Leute hätten sich nach Entwicklung und Wohlstand gesehnt, seien „elektrisiert“ gewesen von der Vorstellung, dass es da nun in Bonn um die Zukunft Afghanistans ging - und „freuten sich auf die Ergebnisse“. Die internationale Gemeinschaft habe ja dann auch begonnen, die Afghanen zu unterstützen, die Taliban zu besiegen und humanitäre Hilfe zu leisten.

Auch wenn die Zusammensetzung der Konferenz auf dem Petersberg letztlich „fehlerhaft“ gewesen sei, „die Staatengemeinschaft hat versucht, Vertreter aus allen Ecken Afghanistans einzubeziehen.“ Der „größte Fehler“ sei sicher der „Ausschluss der Taliban“ gewesen. Damit sei die Grundlage für deren militanten Wiederaufstieg gelegt worden, sagte Sarabi. Hätte man sie einbezogen, hätten sie nicht den bewaffneten Widerstand gegen die Nato-Koalition aufgenommen. Die Taliban seien doch Teil des innenafghanischen Kräftegefüges und Konflikts gewesen. „Dieser Teil fehlte dann im Petersberger Dialog.“ Im August 2021 hätten die Taliban dann erneut gewaltsam die Macht an sich gerissen. „Sie hätten zu Beginn integriert werden müssen.“

Die Organisatoren der Konferenz hätten sich damals sehr viel Mühe gegeben, um Kultur und Geschichte Afghanistans zu respektieren. Dazu habe auch gehört, der so genannten Großen Versammlung des afghanischen Volkes, der Loja Dschirga, als einendes Organ, das die Verfassung hervorbringe, „zu viel Aufmerksamkeit geschenkt“ zu haben. Wenn man eine Modernisierung des Landes vorgehabt hätte, dann hätte man größeres Gewicht auf Recht und Gesetze legen müssen statt eine solche kulturelle Verbeugung zu machen.

Nur zehn Tage habe sie im Herbst 2001 Zeit gehabt, die Konferenz der afghanischen Zivilgesellschaft mit zu organisieren, betonte Susanne Schmeidl von der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace. Man habe versucht, ein so breites und repräsentatives Spektrum an Vertretern und Organisationen aus Afghanistan wie möglich einzuladen. Jedoch in der knappen Zeit längst nicht alle erreichen, geschweige denn nach Bonn bringen können. Es komme hinzu, dass Zivilgesellschaft, wie man sie im Westen verstehe, in Afghanistan damals ein weitgehend unbekanntes Konzept gewesen sei. Man sei daher auch auf traditionelle nichtstaatliche Organisationen zugegangen. Viele hätten sich ausgeschlossen gefühlt. Auch die Teilung der Konferenz habe für Irritationen in der Zivilgesellschaft gesorgt. Man müsse in solchen Prozessen der Zivilgesellschaft dringend ein größeres Gewicht geben. Während der Konferenz habe eine „Mischung aus Optimismus und Frustration“ geherrscht.

Eine verkürzte Vorstellung der Demokratie als Staatsform für Afghanistan seitens der westlichen Partnerländer sowie der knappe Zeitrahmen waren laut Schmeidl dafür verantwortlich, dass die Staatengemeinschaft beim Wiederaufbau Afghanistans eine „echte Chance verpasst“ habe. Die politischen Entscheidungsträger hätten sich viel zu stark auf die Durchführung von Wahlen konzentriert - eine unzulässige „Reduktion von Demokratie“. „Wir wollten die Afghanen einbinden in einen Prozess, der ihr Leben betrifft. Die Menschen dort hatten kaum Zugang zum System. Die Wahlen haben daran nur wenig geändert“, sagte Schmeidl.

Man habe einen „Bildungsprozess“ in Gang setzen, „unterschiedliche Formen von Demokratie“ betrachten wollen. Auch da habe man seine Möglichkeiten nicht genutzt. Statt dessen sei ein „Staat von oben nach unten“ aufgebaut worden, ein zentralistisches System, das der Vielfalt der provinziellen Machtzentren Afghanistans nicht gerecht werde. Karsai sei als „nützlicher Partner“ der Afghanistan-Koalition identifiziert worden. Dagegen hätten die Afghanen hätten ihr System lieber selbst bestimmen und die Petersberger Konferenz der Startschuss für einen „von unten“ inspirierten Staatsaufbau sein sollen.

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