17.03.2023 1. Untersuchungsausschuss — Ausschuss — hib 207/2023

Zeit des Wartens und der Ungewissheit

Berlin: (hib/LL) Der 1. Untersuchungsausschuss Afghanistan hat am gestrigen Abend seine Sitzung mit der Befragung eines Mitarbeiters des Bundesverteidigungsministeriums fortgesetzt. Der Zeuge war im Referent SE II 1 zuständig für die Einsatz- und Abzugsplanung.

Die Abgeordneten wollten von ihm unter anderem wissen, wie er die sich verschlechternden Bedingungen und die deutschen Optionen für den Afghanistan-Einsatz ab 2020 eingeschätzt hat, wie die Zusammenarbeit mit Kollegen und Vorgesetzten, wo Fehler gemacht wurden und was sich aus seiner Sicht aus ihnen lernen lässt.

Der Berufsoffizier war laut eigener Aussage in seinem Referat für „Militärpolitik“ zuständig und verfasste dort Vorlagen für das Design des Einsatzes. Außerdem hielt er die Verbindung zur Nato und zum Auswärtigen Amt. Er habe einen tiefen Bezug zu Afghanistan entwickelt, berichtete er. Er habe sich in Land und Leute hineinversetzt und nach Abschluss des Doha-Abkommens zwischen den USA und den Taliban nach Perspektiven für Afghanistan nach Ende der ISAF-Mission gesucht.

In seinem umfassenden und detailreichen Eingangsstatement nannte er das Doha-Abkommen einen Wendepunkt und den Anfang vom Ende des von Deutschland als langfristig betrachteten internationalen Afghanistan-Einsatzes. Nach dem Abkommen habe unter den internationalen Kräften eine allgemeine Rückzugsstimmung geherrscht. „Es stand alles auf Abbau.“ Über allem habe das sich nähernde und sich immer wieder nach vorne verschiebende Abzugsdatum geschwebt.

Obwohl es im Doha-Abkommen vor allem um den Nato-Abzug gegangen sei, seien die Nato selbst und deren Mitglieder nicht in die Verhandlungen einbezogen worden. Es sei ein Abkommen lediglich zwischen den USA und Taliban gewesen, das niemand sonst zu Gesicht bekommen habe. Keiner außer den beiden Vertragsparteien habe den Wortlaut je gekannt.

Auf die anschließende Rückzugsdynamik habe man sich ständig neu anpassen müssen. Zugleich habe man auf deren Ablauf selbst kaum Einfluss gehabt. Für alle, die in die Abzugsplanung involviert gewesen seien, habe das eine monatelange Zerreißprobe bedeutet.

Ziel der Bundesregierung sei auch nach Doha ein aufbauendes, nachhaltiges, in die Zukunft gerichtetes Engagement in Afghanistan gewesen. Deutschland habe dort immer Strukturen schaffen, die Menschen vor Ort ausbilden und dazu ertüchtigen wollen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Man habe sich vorgenommen, den im Doha-Abkommen vereinbarten innerafghanischen Friedensprozess zu stärken.

Sein Referat habe zusammen mit dem Auswärtigen Amt ein Szenarien-Papier erstellt, wie sich das Afghanistan-Engagement nach dem Abzug der Nato-Streitkräfte weiter entwickeln könne. Er selbst habe an ein Folgeengagement unter UN-Mandat gedacht. Vonseiten des Amtes sei auch das letzte Wort gekommen, wie es mit der deutschen Abzugsplanung weiterzugehen habe. Den Kollegen dort sei klar gewesen, dass die Bundeswehr am Ende ausreichend Zeit für einen sicheren und geordneten Abzug brauchen werde. Die Abstimmung zwischen den Ministerien schilderte der Zeuge als gut und eng.

Eindrücklich schilderte er außerdem den schrittweisen Rückzug. Man habe lange keine sichtbaren Aktionen durchführen dürfen, da noch nichts beschlossen gewesen sei. Man habe die Zeit aber genutzt, um Vorkehrungen zu treffen und eine möglichst große Zahl an entbehrlichen Soldaten und Material sicher und schnell nach Hause zu bekommen. Um den Taliban nichts in die Hände fallen zu lassen, habe man so wenig wie möglich zurücklassen wollen.

Der Zeuge beschrieb die letzten Monate des Einsatzes als eine Zeit des Wartens, in der den Kräften vor Ort weitgehend die Hände gebunden gewesen seien. Die USA hätten währenddessen ihre Truppenstärke immer weiter reduziert, auf bis dahin nicht für möglich gehaltene Zahlen. Auch die Luftunterstützung sei immer weniger geworden.

Die afghanische Armee sei in dieser Zeit nur noch mit ihrem Selbstschutz befasst gewesen, habe aber, sogar ohne Bezahlung, bis zuletzt tapfer gekämpft. „Der afghanische Soldat war nicht die Ursache für das Scheitern“, urteilte der Berufssoldat.

Die Zeit sei schließlich immer knapper geworden. Man habe auf den innerafghanischen Versöhnungsprozess gewartet, den die Taliban aber nicht ernsthaft betrieben hätten, und den vom neuen US-Präsidenten Joe Biden eingeleiteten Review-Prozess über das amerikanische Engagement. Schließlich habe man das Training der afghanischen Armee einstellen müssen. Um für eine Folgemission zu planen, sei die Zeit am Ende zu kurz gewesen. Da sei es nur noch um die Eigensicherung und den eigenen Rückzug gegangen. Der Flughafenbetrieb sei immer instabiler geworden.

Als letzter deutscher Soldat des Hauptquartiers in Kabul habe er am 26. Juni 2021 seinen Fuß vom afghanischen Boden in den startenden Helikopter gezogen, berichtete der Zeuge. Zuvor habe er einen letzten Rundgang durch die Räumlichkeiten des Hauptquartiers gemacht, in einem Treppenhaus noch eine verlassene deutsche Flagge entdeckt und diesen Stoff sowie eine Reste-Kiste in den Hubschrauber genommen. „Die Zeit war dann zu Ende.“

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