28.03.2023 Enquete-Kommission Afghanistan-Einsatz — Anhörung — hib 223/2023

Ausweitung des Afghanistan-Einsatzes zwischen 2009 und 2014

Berlin: (hib/LL) Der mittleren Phase des internationalen Afghanistaneinsatzes, der Jahre 2009 bis 2014, hat sich die Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“ in ihrer öffentlichen Anhörung am Montagnachmittag angenommen. Das Sitzungsthema lautete: „Ausweitung, Eskalation und Transition 2009 bis 2014: Die Ausweitung des deutschen Engagements im Kontext von Strategiewechsel und verschärfter Sicherheitslage“.

Es war die Zeit, in der das Afghanistan-Mandat um das Ziel der Aufstandsbekämpfung erweitert wurde, die Truppenzahlen und auch die finanziellen Mittel der internationalen Geber zum Staatsaufbau aufgestockt wurden, um die Verantwortung mittelfristig in die Hände der afghanischen Regierung zu legen. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg sei ein deutscher Soldat im Kampf gefallen, skizzierte der Vorsitzende, Michel Müller (SPD), den historischen Kontext.

Hintergründe und Schwächen der Policy Review zum amerikanischen Afghanistan-Engagement zu Beginn der Präsidentschaft von Barack Obama, mit der die Aufstandsbekämpfung in den Mittelpunkt des US-Engagements rückte, schilderte Barnett Rubin vom Stimson Center Washington, der Berater des Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan im US State Department war.

Seit dem ursprünglichen Marschbefehl von US-Präsident George Bush 2001 mit dem Ziel der Terroristenjagd sei der Afghanistaneinsatz unter allen Administrationen und vier in dieser Zeit amtierenden Präsidenten in Washington viel diskutiert und umstritten gewesen, zwischen Aufbauambitionen und Abbruchgedanken, bis hin zu der Einsicht, dass man sich am besten so wenig wie möglich dort engagieren und alsbald zurückziehen sollte.

Am Ende sei man gescheitert. Regime Change-Operationen könnten nicht erfolgreich und sollten kein Mittel der Außenpolitik sein, sagte der Politikberater und nannte als limitierende Faktoren des Afghanistan-Einsatzes, dass man die Taliban nicht daran habe hindern können, sich in das Nachbarland Pakistan als sicheren Hafen zurückzuziehen - ein Land, auf das die USA selber als Brückenkopf für den eigenen Nachschub unbedingt angewiesen gewesen sei.

Außerdem hätten die Strategen in Washington verkannt oder verdrängt, dass sich der afghanische Staat, eines der ärmsten Länder der Welt, niemals eine eigenständige, die Taliban abschreckende Armee, hätte leisten können. Die afghanischen Streitkräfte seien mit modernem Gerät nicht zurecht gekommen, dauerhaft von externer Unterstützung abhängig gewesen und hätten sich nie zu einer echten unabhängigen Kraft entwickeln können. Statt eine Rückzugsversicherung für die US-Kräfte zu sein und die Stabilität des Landes über den internationalen Einsatz hinaus zu garantieren, war die afghanische Armee noch vor dem endgültigen Abzug der Amerikaner kollabiert, sagte Rubin.

Über seine Einsatzerfahrungen in Nordafghanistan zu dieser Zeit berichtete Brigadegeneral Jared Sembritzki, Abteilungsleiter Einsatz im Kommando Heer in Strausberg/Brandenburg, er war 2010 Kommandeur der Quick Reaction Force 5, ISAF/Afghanistan. Afghanistan habe eine Generation deutscher Soldaten entscheidend geprägt. Die Bundeswehr habe als Institution einen wertvollen Lernprozess durchgemacht. Für ähnliche Einsätze sei man heute besser aufgestellt. Wichtig sei, dass die Politik bei der Mandatierung keine „Zero Risk“-Strategie suggeriere.

Ab dem Frühjahr 2010 habe man aufgrund des Strategiewechsels schärfer gegen Aufständische vorgehen dürfen. Man habe damals erstmals als Bataillon außerhalb des Feldlagers über sechs Monate in einem ungesicherten, feindlichen Bereich operiert. Die Anwendung militärischer Mittel sei von da an nicht mehr als das letzte Mittel betrachtet worden, sondern man habe im Feld die Möglichkeit bekommen, sich einem Gegner entgegenzustellen, noch bevor man selber angegriffen wurde, führte Sembritzki aus.

Schlüsselfragen seien damals gewesen, Sicherheit und Bewegungsfreiheit für die eigenen Kräfte in einem Raum herzustellen, den man selber nicht vollständig habe kontrollieren können. Den Ansatz des „clear, hold and build“ betrachte er nach wie vor als erfolgsversprechende Strategie, sagte der General. Dazu sei von großer Bedeutung gewesen, mit den lokalen, afghanischen Akteuren zusammenzuarbeiten. Afghanisches Militär, das sich im Aufbau befand, habe man nach und nach in die eigenen Operationen eingebunden.

Auch bei den regelmäßigen gemeinsamen Lagebesprechungen habe man sich kennengelernt. So sei wertvolles Vertrauen gewachsen. Diese Rückbindung zu den Menschen vor Ort als ein Erfolgsfaktor sei leider in den späteren Jahren des Einsatzes wieder verloren gegangen. 2010 aber habe man gemeinsam mit den Afghanen in zum Teil wochenlangen, schweren Gefechten den Feind zurückdrängen und so in einem Raum eine permanente Präsenz schaffen können, der zuvor noch ein Kernland der Taliban gewesen sei. In einen sogenannten vernetzten Ansatz hätte er gerne alle einbezogen, so Sembritzki, aber damals habe es in seinem Einsatzgebiet an Vertretern anderer Bereiche gemangelt, so dass der Truppe entsprechende Aufgaben, von der Polizeiarbeit bis zum Straßenbau, zugewachsen seien, die man dann selbst wahrgenommen habe.

Das Verhältnis von Sicherheitslage und entwicklungspolitischer Arbeit in den Jahren 2009-2013 beleuchtete Florian Broschk, Projektleiter bei der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), von 2010 bis 2015 Sicherheitsberater der staatlichen deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Mazar-e-Sharif und Kabul. Die internationale militärische Präsenz in den großen Feldlagern habe der Entwicklungszusammenarbeit, die ihre Stützpunkte in den Städten gehabt habe, geholfen, sagte Broschk. Direkter Ansprechpartner aber seien die afghanischen Sicherheitskräfte gewesen. Zusätzlich habe man bei der GIZ ein eigenes Risk Management Office (RMO) mit mehreren Teams unterhalten, das für jedes einzelne Projekt den lokalen Sicherheitskontext evaluiert habe.

Es habe zu dem international viel gelobten deutschen entwicklungspolitischen Ansatz gehört, engen Kontakt zu den Afghanen zu unterhalten, und beispielsweise in lokale Ratsversammlungen hineinzugehen, und um Zustimmung und Schutz für Projekte zu werben. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sei stark in der Fläche des Landes präsent gewesen. Ganz unterschiedliche lokale Kontexte, Strukturen, Akteure habe man sich da aneignen beziehungsweise verstehen müssen.

Das vorzubereiten sei Aufgabe der RMO-Teams gewesen. Dank dieser Unterstützung und zivilen Vernetzung hätten sich deutsche Entwicklungshelfer sehr zielgerichtet und sicher im Land bewegt und es sei dadurch nur selten zu Zwischenfällen gekommen. Man habe Projekte in freundschaftlicher Atmosphäre besprechen und Warnzeichen für eine Verschlechterung der Sicherheitslage frühzeitig wahrnehmen können, sagte der GIZ-Vertreter.

Die Taliban seien dann vor allem entlang traditioneller politischer Konfliktlinien und zunächst auch in eher wohlhabenden Gegenden wieder erstarkt, und nicht so sehr aufgrund von Armut. Man hätte den Wiederaufstieg der Taliban auch nicht durch noch mehr Entwicklungshilfeprojekte verhindern können. An die Politik richtete Broschk den Wunsch, die Entwicklungszusammenarbeit nicht mit zu hohen Erwartungen zu überfrachten. Idealerweise müsse man sich bei Entwicklungszielen Bescheidenheit verordnen, kulturell sensibel auftreten und versuchen, den lokalen Kontext zu verstehen und daran die nötige Expertise auszurichten.

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