Abwägung zwischen politischen Interessen und Risiken
Berlin: (hib/CRS) Der Afghanistan-Untersuchungsausschuss hat am gestrigen Donnerstag drei weitere Zeugen zur Sicherheit der deutschen Botschaft in Kabul, zu den Evakuierungsplanungen und zum Ortskräfteverfahren befragt. Als erster sagte der ehemalige deutsche Botschafter in Kabul, Axel Zeidler, aus, der zwischen Juni 2020 und Juni 2021 in Kabul war. Er erzählte dem Ausschuss, er habe im November 2020 im Auswärtigen Amt (AA) darauf gedrängt, für den Fall einer eventuellen Sicherheitskrise in Kabul Pläne vorzubereiten. „Ich hatte Sorge, dass Fakten geschaffen würden, auf die wir nicht vorbereitet wären.“
Eine Antwort darauf habe er erst im Januar des Folgejahres erhalten. Das AA habe auf die Sitzung des Nato-Verteidigungsministerrates Ende Februar warten wollen, in der Erwartung, dass dort ein konkreter Zeitplan für den Abzug internationaler Truppen aus Afghanistan vorgelegt werden würde. Danach, Anfang März 2021, habe tatsächlich ein Besuch eines Krisenvorsorgeteams stattgefunden.
Bei der Evakuierung des Botschaftspersonals zum Flughafen Kabul habe man auf die Hubschrauberkapazitäten der Amerikaner zählen können, führte der Botschafter aus. Dennoch habe man auch beim AA nachgefragt, ob zusätzliche Hubschrauber zur Verfügung gestellt werden könnten. Diese Bitte sei abgelehnt worden.
Zeidler sagte, diese Themen seien auf Referatsleiterebene diskutiert worden. Mit dem damaligen Außenminister Heiko Maas (SPD) habe er darüber nicht gesprochen. Er habe den Minister zwar während seiner eintägigen Reise nach Afghanistan begleitet, aber keine Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen. Der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, Markus Potzel, sei auch dabei gewesen. „Wahrscheinlich hat sich der Minister auf die Expertise Potzels verlassen“, sagte Zeidler. Der Zeuge beteuerte, dass es jedoch immer regen Informationsaustausch mit dem AA gegeben habe.
Der ehemalige Botschafter wurde von den Abgeordneten auch nach einem von ihm verfassten Bericht gefragt, in dem die Meinung vertreten wurde, dass der Migrationsdruck auf Deutschland steigen würde, wenn die Ortskräfte auf einmal aus dem Land gebracht werden würden. Mit diesem Bericht habe er lediglich darauf hinweisen wollen, dass die Menschen Angst bekommen könnten, falls die Medien darüber berichteten, erklärte Zeidler. Das Ziel sei gewesen, eine Massenpanik zu verhindern.
Er habe ein Jahr in Afghanistan gearbeitet. Man könne auch ein Jahr verlängern, aber das AA habe beschlossen, seinen Vorgänger im Amt, Markus Potzel, im Juni 2021 erneut als Botschafter Deutschlands nach Kabul zu entsenden. Die chaotischen Tage am Flughafen Kabul habe er daher aus den Medien verfolgt.
Nach Zeidler trat der Leiter des Krisenreaktionszentrums im AA in den Zeugenstand. Er habe dem Krisenvorsorgeteam angehört, das im März 2021 die Kabuler Botschaft besuchte, erklärte er. Dabei hätten sie auch das „Schreckensszenario“ bedacht, also einen verlängerten Bürgerkrieg nach dem Abzug der internationalen Truppen und einen Sturm der Taliban auf die afghanische Hauptstadt. Man könne sich jedoch nicht am schlimmsten Szenario orientieren in seinem Job, denn dann müsse man jede Botschaft in einer Krisensituation sofort evakuieren und schließen. Die Schließung einer Botschaft habe eine hohe Signalwirkung. Daher müsse immer zwischen politischem Interesse und den Risiken abgewogen werden.
Im Falle Afghanistans sei auf politischer Ebene beschlossen worden, die Botschaft offen zu halten. Daher habe das AA mit den USA eine Vereinbarung getroffen, um das deutsche Personal im Notfall mit US-Hubschraubern zum Flughafen zu bringen. „Das hat auch funktioniert“, sagte der Zeuge.
Auch die Versendung von zwei bis vier KSK-Soldaten sei im Gespräch gewesen. Das Gerücht, dass dieses Vorhaben am damaligen Minister Maas gescheitert sei, habe auch er gehört. Das müsse jedoch ein großes Missverständnis sein, betonte er ausdrücklich. Denn diesen Vorschlag der Bundeswehr habe man im AA nach Klärung einiger technischer Fragen für sehr gut befunden und unterstützt. Warum die Idee nicht mehr Wirklichkeit wurde, könne er aus seiner Perspektive nicht erklären. Maas habe die Idee aber auf jeden Fall unterstützt.
Dass die Sicherheitsstufe in Kabul zwischen April und August nicht erhöht worden sei, habe auch damit zu tun. Aber selbst, wenn die Sicherheitsstufe erhöht worden wäre, hätte das, nach Meinung des Zeugen, keinen großen Einfluss auf das Geschehen gehabt. Denn die Botschaft in der afghanischen Hauptstadt habe zu diesem Zeitpunkt ohnehin mit einer minimalen Besetzung gearbeitet.
Zur Evakuierung der Ortskräfte und weiterer gefährdeter Personen seien für den 16. August Charterflüge aus dem Kabuler Flughafen geplant gewesen, führte der Zeuge aus. Diese Pläne seien aber nicht mehr zum Tragen gekommen, weil die Taliban bereits einen Tag zuvor die Stadt eingenommen hätten und die afghanische Regierung ins Ausland geflüchtet sei.
Als letzter Zeuge befragten die Abgeordneten am späten Abend den Leiter des Referats „Grundsatzfragen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, Atlantisches Bündnis, bilaterale Konsultationen (außer EU-Staaten)“ im AA. Er klärte den Ausschuss darüber auf, wie die Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen innerhalb der Nato funktionieren.
Der Zeuge betonte, wie zuvor schon andere Zeugen in früheren Sitzungen, die Bundesregierung habe darauf gedrängt, vor dem Rückzug eine gemeinsame Lageeinschätzung vorzunehmen und den Abzug gegebenenfalls mit Konditionen zu versehen. Es habe jedoch nur „taktische Erfolge“ gegeben. Jedem sei klar gewesen, dass der neu gewählte US-Präsident Joe Biden die Entscheidung treffen und dabei die speziellen Interessen der USA vor Augen haben würde. Die neue US-Administration habe auf die Argumente Deutschlands gehört, aber das habe letztendlich am Ergebnis nichts geändert.