23.05.2023 Enquete-Kommission Afghanistan-Einsatz — Anhörung — hib 379/2023

Petraeus: Fehlende „strategische Geduld“ in Afghanistan

Berlin: (hib/LL) Fehlende strategische Geduld des US-Militärs, das Zurücklassen der Landbevölkerung seitens der Entwicklungszusammenarbeit und den durch den bevorstehenden Rückzug verursachten Zeitdruck, unter dem viele Projekte litten, machten die Expertinnen und Experten in der öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan“ am Montagnachmittag als Gründe für das Scheitern des internationalen Afghanistan-Einsatzes aus.

Die Schwächen des amerikanischen Engagements in Afghanistan nahm Ex-US-General David H. Petraeus in den Blick. Man habe in Afghanistan das Problem der Helfershelfer der Terroristen von 9/11 angehen und Staatsaufbau leisten wollen, beide Ziele aber nur halbherzig verfolgt: „Our foundational mistake was our lack of commitment“ - der grundlegende Fehler sei mangelndes Engagement gewesen.

Amerika habe es an „strategischer Geduld“ („lack of American strategic patience“), an einem umfassenden Ansatz gefehlt. Und man habe sich zu viele Fehler geleistet, beklagte der General. „Damit haben wir alles unterminiert.“

Es sei nicht gelungen, überlebensfähige afghanische Streitkräfte und Institutionen aufzubauen. Auch sei man bis auf einen kurzen Zeitraum 2010 selbst nie mit genügend eigenen Kräften vor Ort präsent gewesen. Neun Jahre hätten die USA gebraucht, um ausreichend Personal und Material den Hindukusch zu bringen, mit dem es möglich gewesen wäre, in dem komplexen Umfeld Afghanistan nachhaltig zu stabilisieren.

Von vornherein sei bei dem Unternehmen Afghanistan der Rückzug offenbar eingepreist gewesen, so Petraeus. Dabei wäre langfristige Unterstützung beim „Staatsaufbau zwingend nötig“ gewesen. Ihm sei klar gewesen, dass es sich bei dem Afghanistan-Engagement um „mehr als nur eine kurzfristige militärische Anti-Terror-Intervention“ hätte handeln müssen.

Man habe „Afghanistan den Terroristen als Asyl nehmen“ wollen. Um einen Raum der Sicherheit zu schaffen, habe man eine umfassende zivile und militärische Kampagne gestartet. „Wir wollten helfen, in Afghanistan Strukturen aufzubauen, die funktionieren.“ Von vornherein hätte man das als „Generationenaufgabe“ begreifen müssen.

Als der Führung in Washington jedoch klar geworden sei, dass man die Taliban und andere extremistische Kräfte nicht würde ausschalten können, habe man den „Rückzug einem langen und frustrierenden Engagement vorgezogen“, berichtete Petraeus.

Die von Offiziellen ständig wiederholten Äußerungen, dass man Afghanistan verlassen und bald mit der Reduzierung der Kräfte beginnen werde, hätten dann verheerende Auswirkungen auf die afghanischen Verantwortlichen, auf die internationalen Partner und auf die Verhandlungsposition der USA mit den Taliban gegen Ende des Engagements gehabt.

Der Kollaps des nur halbherzig ausgebildeten afghanischen Staatswesens sei auch dadurch vorprogrammiert gewesen, dass man „der afghanischen Armee nicht das gegeben“ habe, „was sie gebraucht hätte“: robuste, ehemals sowjetische Ausrüstung.

Stattdessen habe man dem Druck des US-Kongresses und auch der Afghanen nachgegeben und amerikanische Hightechgeräte beschafft, die eine Armada von Ingenieuren und Wartungsfirmen nach sich gezogen habe. Aber diese seien beim US-Rückzug sofort weg gewesen. Die Entscheidung für komplexes westliches Kriegsgerät „war genauso falsch wie unser Rückzug“, so der US-General.

Die Luftunterstützung durch US-Helikopter aber sei die Achillesferse der afghanischen Armee in dem bergigen und zerklüfteten Land gewesen. Sobald Logistik und Luftunterstützung eingestellt worden seien, seien die afghanischen Streitkräfte am Ende und schließlich den Taliban unterlegen gewesen. Er habe das bereits damals als einen „psychologischen Zusammenbruch“ mit Ansage gesehen, so Petraeus.

Man sei sich „der Komplexität des Einsatzes“, in dem herausfordernden topografischen Umfeld, mit seinen kulturellen und politischen Besonderheiten, der endemischen Korruption und Drogenwirtschaft, „durchaus bewusst gewesen“, habe aber zahlreiche Probleme nicht schnell genug in den Griff bekommen.

Zu den Fehlern habe gehört, nicht frühzeitig mit den gesprächsbereiten Taliban verhandelt, afghanische Führungskräfte nicht genug einbezogen und das Nachbarland Pakistan nicht dazu gebracht zu haben, sich den Taliban als Rückzugsort zu verweigern.

In den Jahren 2010/11 „hatten wir es eigentlich geschafft“, so der US-Militär. Das Design des Engagements habe gestimmt, eine ausreichende Zahl an Einsatzkräften sei vor Ort gewesen. „Aber wir haben es nicht lange genug durchgehalten.“ Man habe quasi auf halber Strecke begonnen die Streitkräfte viel zu schnell zurückzuziehen.

Gegen Ende des Einsatzes hätten die US-Streitkräfte dann bereits die Rolle des „Beratens, Unterstützens und Ermöglichens“ übernommen, „den Ansatz, den ich für richtig hielt. Ich dachte, wir hätten eine nachhaltige Situation erreicht.“ Die Verluste hätten eingegrenzt werden können, in den letzten 18 Monaten habe man keinen einzigen Soldaten mehr verloren. Das Budget sei überschaubar gewesen. „Wir hätten das beibehalten sollen. Ab dem Juli 2011 wäre es nachhaltig gewesen.“

Was das sich verschlechternde sicherheitspolitische Umfeld und der graduelle Rückzug der internationalen Gemeinschaft für die Situation der Frauen in Afghanistan bedeutete, darüber berichtete Zarifa Ghafari, Gründerin der Nichtregierungsorganisation „Assistance and Promotion of Afghan Women“ aus der Perspektive der afghanischen Zivilgesellschaft.

Ab 2001, mit dem Einsatz der internationalen Gemeinschaft, habe eine neue, junge Generation, darunter die Frauen, Verantwortung in Afghanistan übernommen, das Land entwickelt und stabilisiert. „Die Frauen wurden Teil der Gesellschaft, Menschenrechte wurden angewendet. Afghanistan war in der Region führend.“

Mit der Unterzeichnung des Doha-Abkommens mit den Taliban jedoch seien sämtliche Anstrengungen an einem Tag verloren gegangen. Das sei wie ein Verrat gewesen, so Ghafari. Afghanistan sei heute das einzige Land der Welt, in dem Frauen das Recht auf Bildung bei Strafe verweigert werde.

„Sie sind von freien Wesen zu versklavten Personen geworden.“ Sie und ihre Kinder seien die Opfer der neuen Taliban-Herrschaft, sagte Ghafari und appellierte an die deutsche und internationale Politik, den Frauen in Afghanistan jetzt zu helfen.

Hauptgrund für das Scheitern des internationalen Einsatzes sei gewesen, sich zu stark auf Kabul und die städtischen Zentren konzentriert zu haben. Man habe das Land und die Frauen auf dem Land vergessen. Die Bevölkerung dort, die oft nicht einmal Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdiensten hatte, habe sich zurückgesetzt gefühlt. Dort konnten die Taliban schnell wieder Fuß fassen oder waren überhaupt nie weg. Es wäre sinnvoll, Projekte zu Berufsbildung und Landwirtschaft in den Regionen durchzuführen. Die Lehre sei, auf dem Land anzufangen. Dort müssten Veränderung beginnen.

Die Rückkehr der Taliban und der Warlords habe sie wie auch viele andere ins Exil getrieben, sagte Ghafari. Ihr Vater sei von den Taliban getötet worden. Sie selbst habe „bereits mit fünf Jahren religiöse Belästigung erfahren. Mafiöse und religiöse Gruppen sind die Hauptfeinde der Frauen“. Der Schmerz sei groß, aber sie werde nicht aufgeben, für die Zukunft ihres Landes zu arbeiten. Es müsse eine politische Lösung geben.

Es stimme sie traurig, dass die Menschen in Afghanistan gezwungen würden, anders zu leben als im Rest der Welt, Menschen, die gegen die Russen gekämpft und damit auch Fall der Berliner Mauer mit ermöglicht hätten. „Helfen Sie uns, damit wir der Welt helfen können.“ Mit dem von ihr gegründeten Radiosender habe sie den Frauen in ihrem Land Mut machen, ihnen eine Stimme geben können.

Mit den Taliban aber gebe es keine Rechte für Frauen. Der Zusammenbruch des demokratischen Afghanistan sei ein gemeinsames Versagen von allen. Die afghanischen Frauen hätten sich gewehrt. „Wir hatten nicht die Fähigkeit, die Verantwortung zu übernehmen beim Rückzug der internationalen Kräfte.“ Man müsse jetzt neue Formate finden, um auch mit den Taliban zu sprechen. „Sonst ist das Land verloren. Sonst gibt es einen neuen Bürgerkrieg.“

Ulrike Hopp-Nishanka, ehemalige stellvertretende Leiterin des Referats Afghanistan/Pakistan im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), berichtete vom deutschen entwicklungspolitischen Engagement in Afghanistan.

Die internationalen Bemühungen hätten zu zahlreichen nachweislichen Verbesserungen geführt, ob man nun auf die Verringerung der Kindersterblichkeit schaue, die Steigerung der Beschulung oder die Wasserversorgung.

Aber diese Fortschritte hätten „nicht wettmachen können, was Militär und Politik nicht erreicht“ hätten. Die Entwicklungshilfe habe „im Rahmen der sehr begrenzten Wirkungsmöglichkeiten zum Staatsaufbau in Afghanistan beigetragen“.

Eine Transformation wie man sie in Afghanistan vor sich habe könne aber „nicht in 20 Jahren“ abgeschlossen sein. Unter Zeitdruck und den drohenden Abzug des Militärs vor Augen habe man in der späteren Phase des Engagements größere Projekte schnell zu Ende geführt und sei zu kleineren Vorhaben übergegangen, deren Realisierung man besser habe absehen können.

Hopp-Nishanka erinnerte daran, dass für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit und die Kooperation zwischen Auswärtigem Amt und BMZ zahlreiche neue Ansätze und Methoden während des Afghanistaneinsatzes gefunden worden seien, es habe einen Prozess des institutionellen Lernens gegeben. „Das ressortgemeinsame Arbeiten ist bis heute geprägt von den gemeinsamen Erfahrungen“

Deutschland sei dadurch kohärent aufgetreten. Die Entwicklungszusammenarbeit hätte aber den internationalen strategischen Kontext stärker einbeziehen müssen. Nach einer Phase des Aufbaus in den ersten Jahren habe man in ganz Afghanistan, auch in der Hauptstadt, von den im Nordosten gemachten Erfahrungen profitieren können. Das Sicherheitsumfeld habe sich dann in der zweiten Hälfte des Engagements immer weiter verschlechtert, Handlungsspielräume seien geschwunden.

Man habe versucht, die schwache afghanische Verwaltung zu ertüchtigen, wo es ging, etwa, um die vielen sinnvollen Gesetze auch umsetzen oder wirksam gegen Korruption vorgehen zu können. Aber das habe dann schließlich unter einem immer stärkeren Zeitdruck geschehen müssen.

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