23.06.2023 1. Untersuchungsausschuss — Ausschuss — hib 488/2023

Bürokratie hat Aufnahme von Ortskräften erschwert

Berlin: (hib/CRS) Die Hintergründe der nur schleppend verlaufenen Aufnahme von afghanischen Ortskräften der Bundeswehr haben den Afghanistan-Untersuchungsausschuss auch in seiner Sitzung am gestrigen Donnerstag beschäftigt. Laut Aussage eines Obersts im Generalstab, der im Untersuchungszeitraum bei der Bundeswehr unter anderem für das Ortskräfteverfahren verantwortlich war, hat die Rückführung der Soldatinnen und Soldaten „super geklappt“. Es habe jedoch mehrfacher Bitten bedurft, bis auch das Ortskräfteverfahren beschleunigt werden konnte.

Der Bundeswehroffizier, der als Einsatzgruppenleiter im Einsatzführungskommando der Bundeswehr den Abzug des deutschen Kontingentes aus Afghanistan geplant hat, erklärte dem Ausschuss, sein Arbeitsschwerpunkt habe in der Führung des Einsatzes gelegen. Die Beschäftigung mit dem Ortskräfteverfahren habe anfangs nur etwa fünf Prozent seiner Arbeit ausgemacht. Später habe es etwa ein Viertel seiner Arbeitszeit beansprucht.

Mit dem umfangreichen Ortskräfteverfahren habe die Bundeswehr bis zum 22. April 2021 gearbeitet, danach seien Anpassungen vorgenommen worden, führte der Oberst aus. „Wir wussten schon Ende 2019, dass mehr Gefährdungsanzeigen kommen würden“, sagte er. Erfahrungsgemäß steige die Zahl in unsicheren Zeiten. So sei es auch in dieser Situation gewesen. Er berichtete, dass es anfangs nicht genügend Personal gegeben habe, um die steigende Zahl der Anträge zu bewältigen. Dies sei in der Vorbereitung der Rückverlegung und auch danach aber sukzessive immer weiter erhöht worden.  Schwere Fälle hätten das Personal auch psychisch belastet. 

Die Anträge hätten streng geprüft werden müssen, weil teilweise die gleichen Bilder von verschiedenen Personen und mehrmals auch zweifelhafte Drohbriefe der Taliban vorgelegt worden seien. Um die Arbeit zu schaffen, habe man schließlich intern neue Verfahren und Kriterien entwickelt, um festzustellen, welche Fälle man bevorzugt behandeln müsse.

Aufgrund der Bearbeitungsdauer habe er ab dem 4. Februar 2020 mehrmals den Vorschlag gemacht, das Verfahren zu verändern und extra für die Ortskräfte eine temporäre Visastelle innerhalb des deutschen Konsulats in Masar-i-Sharif einzurichten, sagte der Oberst. Ihm sei eine Prüfung dieser Idee zugesagt worden, doch eine Antwort habe er nicht erhalten. Die Gründe dafür seien ihm nicht bekannt.

Der Kreis der Berechtigten sei dreimal erweitert worden. Bei der ersten Erweiterung habe man diejenigen Ortskräfte miteinbezogen, die schon einmal einen Antrag gestellt hatten, aber abgelehnt worden waren. Dieses Vorgehen sei jedoch aus seiner Sicht ungerecht gewesen, denn es habe diejenigen ausgeschlossen, die zunächst keine Gefährdung angezeigt hätten, sagte der Zeuge. Zu diesem Zeitpunkt seien die Taliban dabei gewesen, das Land unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Annahme, dass lediglich die Ortskräfte bedroht waren, die einen Antrag gestellt hatten, sei vor diesem Hintergrund falsch gewesen, sagte der Bundeswehroberst. Irgendwann sei aber auch dieser Fehler korrigiert und 75 weiteren Ortskräfte eine Aufnahme zugesagt worden. Später seien alle Ortskräfte als gefährdet eingestuft worden, erinnerte der Zeuge sich.

Während des gesamten Afghanistan-Einsatzes seien insgesamt 26 Ortskräfte der Bundeswehr ums Leben gekommen, berichtete er weiter. Bei nahezu allen habe die Todesursache aber nicht im Zusammenhang mit ihrer Beschäftigung bei der Bundeswehr gestanden. Eine Ortskraft sei „in den letzten Wirren der Kämpfen in Kundus“ gestorben; eine andere an einem Taliban-Checkpoint getötet worden, wobei es unklar gewesen sei, ob es sich dabei um Taliban gehandelt habe. Das Bundesverteidigungsministerium (BMVg) habe dennoch beschlossen, deren Familien aufzunehmen.

Kritik äußerte der Zeuge insbesondere an bürokratischen Hürden: Das Auswärtige Amt habe beispielsweise Anträge aufgrund fehlender Daten zurückgeschickt, obwohl diese durchaus hätten bearbeitet werden können. „Mit solchem bürokratischen Kleinkram sind die Menschen hin und her geschickt worden. Alles Dinge, die nicht helfen, wenn man schnell sein will“, so der Oberst.

Der Einsatz in Afghanistan sei inzwischen in mehreren Erfahrungsberichten analysiert worden, sagte er. Seine Kameraden in Mali hätten davon bereits profitiert. Für die operative Ebene habe er zwei Lehren aus seinen Erfahrungen gezogen: Man müsse wissen, wo es in der Endphase zu einem Angriff kommen könne. Und: Was in Deutschland funktioniere, müsse nicht unbedingt in anderen Gesellschaftsstrukturen funktionieren.


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