Digitalisierung gegen Kinderarmut
Berlin: (hib/LL) Digitale Anwendungen - für den Datenaustausch zwischen Behörden und als App, Bildungs- oder Kulturkarten für die Bürger - können helfen, damit Leistungsberechtigte aus dem „Bildungs- und Teilhabepaket“ die ihnen zustehende Förderung in Anspruch nehmen. Darin waren sich die Sachverständigen in einem Fachgespräch des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am Mittwochvormittag unter dem Titel „Chancen der Digitalisierung bei der Bekämpfung von Kinderarmut“ einig.
Erfahrungen und Möglichkeiten mit sogenannten „Bildungskarten“, wie sie viele Kommunen für Bezieher von Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket anbieten, stellte Marc Panzer, Produktleiter Bildungskarten bei der Firma Syrcon GmbH, vor. Die in mittlerweile 50 Kommunen in Deutschland eingeführte digitale Bildungskarte habe zu einer erhöhten Inanspruchnahme von Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket geführt.
Mit der digitalen Bildungskarte, bislang im klassischen Kartenformat zum Mitnehmen oder künftig als App für das Smartphone, biete man Kommunen eine umfassende Möglichkeit, den Leistungsbeziehern Angebote zu machen, die Gutscheine bei den Anbietern einzulösen und die einzelnen Vorgänge abzurechnen: vom Schwimmkurs über das Nahverkehrsticket oder Geldbeträge bis zum Voucher für den Mittagessen-Caterer oder das Theater. Beliebig viele Leistungen könnten aufgespielt werden.
Für die Leistungsempfänger bedeute das eine hohe Flexibilität bei der Wahl der Angebote, den Kommunen nehme außerdem man die Abrechnung ab. Künftig wolle man weg von der Plastikkarte hin zu einem App-basierten Angebot. Damit werde es möglich, zusätzlich einen Kommunikationskanal zu den Kindern aufzubauen.
Andreas Aust, sozialpolitischer Referent beim Paritätischen Gesamtverband, rief in Erinnerung, dass die Leistungen teilweise bei den Berechtigten nicht ankämen und plädierte dafür, das Teilhabegeld pauschal auszuzahlen, damit alle Betroffenen es erhalten. Zudem gelte es im Blick zu behalten, ob die Höhe des Betrages weiterhin angemessen sei. „Gegen Armut hilft Geld.“ An der Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands aber ändere Digitalisierung erst einmal nichts. Ca. 20 Prozent der armutsbetroffenen Haushalte könnten mangels Internetanschluss und anderer technischer Voraussetzungen nicht an digitalen Lösungen teilhaben.
Es müsse daher auch in Zukunft möglich sein, Leistungen analog zu beantragen und ein Beratungsgespräch zu bekommen. Digitalisierung könne helfen, den Datenaustausch zwischen Behörden zu erleichtern, beispielsweise um Leistungsansprüche einfacher zu erkennen und die Leistungshöhe zu bestimmen. Es müsse darum gehen, die Vergabe von Leistungen unbürokratischer umzusetzen, das System hin zu der sich aus dem Gesetz ergebenden Bringschuld der öffentlichen Hand zu entwickeln.
„Digitalisierung ist kein Allheilmittel“, stellte auch Jonas Botta, Forschungsreferent am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung in Speyer, fest. Die digitale Verwaltungstransformation habe aber das Potenzial zur Bekämpfung von Kinderarmut beizutragen, indem sie Zugänge zu Leistungen verbessern helfe. Unnötige Gänge aufs Amt würden entfallen, wenn Daten und Nachweise nicht immer wieder aufs Neue erhoben werden müssten, das Ausfüllen komplexer Formulare könne entfallen, wenn die nötigen Daten und Nachweise lediglich einmal für alle Behörden übermittelt würden und diese die Informationen dann untereinander direkt digital abrufen könnten.
Es gebe bereits einige vielversprechende Pilotprojekte der Verknüpfung und Verarbeitung von Bürgerdaten. Diese leuchteten aber lediglich deshalb so hell, weil es rund um die E-Governance in Deutschland insgesamt noch sehr dunkel sei, so der Experte. Momentan täten sich die Behörden schwer, elektronisch miteinander zu kommunizieren. Ob es eine bundesweite Plattform geben könne, müsse geprüft werden. Der Bund dürfe den Kommunen keine neuen Aufgaben übertragen.
Bei allen neuen Möglichkeiten gelte es die grundrechtlichen Leitplanken wie den Gleichheitsgrundsatz zu beachten und weiterhin auch analoge und barrierefreie Wege der Antragstellung offen zu halten. Nur so lasse sich die Digitalisierung nach und nach rechtlich, gesellschaftlich und sozial „unfallfrei zum Ziel bringen“. Botta plädierte dafür, stärker auf die Empfängerseite zu schauen und staatliche Leistungen „proaktiv zum Bürger“ zu bringen. Vorstellbar sei auch ein völlig „antragsloses Verfahren“ beim Bürgergeld.
Wie stark die Kommunen über die Kartenangebote Familienpolitik betreiben, betonte Regina Offer, Hauptreferentin beim Deutschen Städtetag. Als Sozial- oder Familienkarten enthielten diese oft Freizeit- und Ferienangebote, die weit über die Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket hinausgingen. Dabei setzten die Kommunen und Anbieter von Veranstaltungen und Kursen überwiegend auf die vor Jahren etablierten technischen Lösungen und hätten ihre Verwaltungsverfahren darauf aufgebaut. Die Einführung neuer Anwendungen brauche Zeit. Außerdem hätten nicht alle Jugendlichen die neuesten, leistungsfähigen Smartphones, um etwa eine neue App nutzen zu können. „Wir müssen den digitalen Zugang kindgerecht denken.“
Um die Kinderarmut und die Benachteiligung von Kindern in den Griff zu bekommen seien zudem dringend weitere Maßnahmen nötig. Es brauche spezialisierte Beratungsangebote, sowohl vor Ort als auch online. Viele freie Träger weiteten gerade ihr Angebot im digitalen Raum aus. Damit erhielten mehr Betroffene unabhängig von ihrem Wohnort Zugang. Wohnortnah fehlten häufig die nötigen Fachkräfte. „Durch die Digitalisierung können wir das auffangen, aber auch nicht völlig das persönliche Gespräch ersetzen.“ Offer unterstrich die Verwaltungszuständigkeit der Städte, die in der kommunalen Selbstbestimmung verankert sei.