Aufnahmeverfahren für Ortskräfte war lange umstritten
Berlin: (hib/CRS) Laut dem Leiter des Referats, das im Auswärtigen Amt (AA) für Visavergabe und Einzelfälle verantwortlich ist, ist das Ortskräfteverfahren (OKV) bis kurz vor dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan erfolgreich praktiziert worden. In den Monaten vor dem Fall Kabuls am 15. August sei außerdem intensiv darüber diskutiert worden, ob es auch in Krisensituationen tauglich wäre, sagte er vor dem 1. Untersuchungsausschuss des Bundestages. Dieser untersucht den Zeitraum vom 29. Februar 2020 - dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban - bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.
Grundlage des OKV sei Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes gewesen, der auch eine Einzelfallprüfung vorsehe, um Sicherheitsrisiken zu vermeiden, führte der AA-Mitarbeiter aus. Das OKV sei aber in der deutschen Öffentlichkeit als sehr langwieriges und zu strenges Verfahren angesehen worden.
Sein Referat habe ab April 2021 in den Ressortbesprechungen immer wieder darauf hingewiesen, dass Einzelfallprüfungen im Falle einer Krise und einer großen Anzahl von Gefährdungsanträgen schwierig geworden wären. Daher habe es vorgeschlagen, ein Alternativszenario vorzubereiten, in dem für die Evakuierung der Ortskräfte ein anderes Verfahren auf Grundlage von Paragraph 23 des Aufenthaltsgesetzes angewandt worden wäre, das sogenannte Visa-on-Arrival-Verfahren (VoA).
Dieser Vorschlag sei jedoch von allen anderen Ressorts, vor allem vom Bundesinnenministerium (BMI), abgelehnt worden. Sie hätten die Risiken eines solchen Verfahrens betont, erinnerte sich der Zeuge. Für das BMI seien es Sicherheitsrisiken gewesen. Aber die Rede sei nicht von unbekannten Personen gewesen, sondern von Menschen, mit denen man zusammengearbeitet habe, betonte der Zeuge.
Mit dem VoA-Verfahren wären die Antragsteller in Gruppen nach Deutschland gekommen und die Sicherheitsprüfung hätte erst dort stattgefunden.
Ein weiteres Gegenargument sei gewesen, dass bei einem solchen Verfahren eine Massenflucht zu befürchten gewesen wäre und die afghanische Regierung das nicht wolle. Diese Argumente haben man zur Kenntnis nehmen müssen, sagte der Zeuge.
Man habe sich dann einvernehmlich darauf geeinigt, das vorhandene Ortskräfteverfahren zu optimieren. Sein Referat habe dabei eigene Erfahrungen eingebracht. Es habe viele Beschwerden über das OKV gegeben, sagte der AA-Mitarbeiter. Die Afghanen hätten zu diesem Zeitpunkt schon unter schweren Bedingungen gelebt. Viele Antragsteller hätten gesagt, dass sie ihren Arbeitgebern die geforderten Dokumente gegeben hätten und man sie dort holen könne. „Das war ein sinnvoller Vorschlag“, befand der Zeuge. „Die Landschaft“ sei jedoch „komplex“ gewesen, es habe sehr viele Arbeitgeber gegeben.
Dennoch seien die Ortskräfte der Bundeswehr durch eine herausragende Zusammenarbeit mit der Bundeswehr und dem BMI mit Visa ausgestattet worden. Für alle anderen Ortskräfte habe man eine Lösung mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) angestrebt.
Der Zeuge führte weiter aus, sein Referat habe auch dieses Verfahren kritisch gesehen. Denn die IOM habe täglich zehn Anträge bearbeiten können. Doch es habe gut funktioniert, weil die Zahl der Anträge anfänglich gering gewesen sei. Der Versuch, die Pässe der Menschen, deren Anträge von der IOM bearbeitet worden waren, zum Generalkonsulat in Istanbul zu bringen und dort Visa auszustellen, sei gescheitert. Die afghanische Regierung habe das mit dem Argument verhindert, die Pässe seien Eigentum des afghanischen Staates und könnten nicht außer Landes gebracht werden.
Das zweite Ziel, anschließend die Anträge der noch nicht berücksichtigten Ortskräfte zu bearbeiten, habe man nicht erreichen können. Davon seien hauptsächlich Mitarbeiter des Bundesministeriums der wirtschaftlichen Zusammenarbeit (BMZ) betroffen gewesen. Laut dem Zeugen habe das BMZ argumentiert, dass diese Menschen nicht gekämpft, sondern Aufbauarbeit geleistet hätten. Da diese nicht gefährdet seien, bräuchten sie auch kein solches Verfahren.
Der Zeuge erinnerte sich, dass es schließlich einen klaren Auftrag gegeben habe, ein Alternativszenario vorzubereiten. Dieses Szenario sei am Anfang „Saigon-Szenario“ genannt worden und weiterhin umstritten gewesen. Je schlechter die Lage vor Ort wurde, desto mehr sei aber auch das BMI bereit gewesen, bei diesem Alternativszenario mitzumachen.
Auf Arbeitsebene habe es um dieses Szenario bis zum Zusammenbruch der afghanischen Regierung Mitte August eine sehr kontroverse Diskussion gegeben, berichtete der Zeuge. Der Minimalkonsens sei gewesen, dass es dazu eine politische Entscheidung geben müsse. Diese sei erst am „krisenhaften Wochenende“ - gemeint ist die Eroberung der afghanischen Hauptstadt Kabul durch die Taliban am 15. Und 16. August 2021 - im Krisenstab auf Ministerebene gefallen. Danach sei zum Visa on Arrival-Verfahren übergangen worden.
Im weiteren Verlauf der Sitzung werden heute Abend eine weitere Referatsleiterin des AA sowie der Leiter des Regionalreferats des Bundesnachrichtendienstes (BND) angehört. Dabei soll es unter anderem um die Entstehung des Asyllageberichtes und der BND-Lageberichte gehen.