11.10.2023 Recht — Anhörung — hib 741/2023

Sachverständige uneins über Speicherung von IP-Adressen

Berlin: (hib/PST) In einer öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss über einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion (20/3687) mit dem Ziel, „zur Verfolgung der Straftaten des sexuellen Kindesmissbrauchs und der Kinderpornographie“ IP-Adressen anlasslos sechs Monate zu speichern, sind die Meinungen weit auseinander gegangen. In dem Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der eine solche Speicherung im Einklang mit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur deutschen Vorratsdatenspeicherung ermöglicht.

Der Augsburger Rechtsprofessor Ferdinand Wollenschläger führte in der Anhörung aus, dass es in dieser Frage um einen Grundrechtekonflikt zwischen Freiheit und Sicherheit gehe. In der Abwägung beider Belange sei die von der Unionsfraktion vorgeschlagene Regelung rechtlich möglich und, wie es in seiner schriftlichen Stellungnahme heißt, „auch erforderlich, da kein milderes, gleich wirksames Mittel ersichtlich ist“. Anders als die vom EuGH beanstandete unterschiedslose Speicherung von Telekommunikations-Verkehrs- und -Standortdaten sei die Speicherung der IP-Adresse auch angemessen. Deutschland sei „völker-, unions- und verfassungsrechtlich verpflichtet, Kinder vor sexuellem Missbrauch effektiv zu schützen“.

Auch Vertreter der Strafverfolgungsbehörden befürworteten nachdrücklich die Zielsetzung des Antrags. Die stellvertretende Bundesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Marina Hackenbroch, erklärte, sehr häufig würden Darstellungen von Kindesmissbrauch im Internet erst entdeckt, wenn die IP-Adresse des Urhebers schon nicht mehr feststellbar sei. Auch das Quick-Freeze-Verfahren, nach dem bei Verdacht auf eine Straftat die IP-Adresse gespeichert wird, nütze dann nichts mehr. Dies könne dazu führen, dass „andauernde Missbrauchstaten zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen nicht unterbunden werden können“. Für die Ermittler sei dies frustrierend und belastend.

Oberstaatsanwalt Benjamin Krause von der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main plädierte eindringlich für „die Einführung einer EuGH-konformen Speicherung von IP-Adressen“. Diese würde die Verfolgung von Kinderpornografie und sexuellem Kindesmissbrauch „wesentlich vereinfachen und effektivieren“. Bei Straftaten im Internet sei die IP-Adresse der effektivste und oft der einzige Ermittlungsansatz.

Martina Link, Vizepräsidentin beim Bundeskriminalamt, verwies anhand von Statistiken ihrer Behörde darauf, dass sich schon bei einer 14-tägigen Speicherung von IP-Adressen die Chance zur Identifizierung des Urhebers von jetzt 41 auf 80 Prozent verdoppeln würde. Insbesondere bei komplexen Ermittlungsverfahren, bei denen tatrelevante IP-Adressen erst später festgestellt werden, seien allerdings deutlich längere Speicherfristen erforderlich.

Auch der Deutsche Richterbund begrüßte das Ziel des Antrags ausdrücklich. Präsidiumsmitglied Oliver Piechaczek schrieb, aus Sicht der Strafverfolgungspraxis bestehe „das Bedürfnis, den vom Europäischen Gerichtshof eingeräumten gesetzgeberischen Spielraum auszunutzen“. Das im Referentenentwurf des Justizministeriums aus dem Jahr 2022 vorgeschlagene Quick-Freeze-Verfahren stelle „keine Alternative zur allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen dar“.

Sabine Witting, Assistenzprofessorin an der niederländischen Universität Leiden, weist in ihrer Stellungnahme darauf hin, dass die vorgeschlagene Speicherung nicht nur das Recht von Kindern auf Schutz vor sexualisierter Gewalt berühre, sondern auch deren Recht auf Schutz der Privatsphäre und personenbezogener Daten. Beides gelte es abzuwägen statt gegeneinander auszuspielen. Witting wies ebenso wie andere Sachverständige auf die Problematik dynamischer IP-Adressen hin, die von Providern mehrfach vergeben und nur in Verbindung mit weiteren Daten wie Portnummern und Zeitstempel einem konkreten Nutzer zugeordnet werden können. Deren Vorratsspeicherung bedeute eine höhere Eingriffsintensität und sei höchstrichterlich noch nicht geklärt. Erhebliche Zweifel gebe es zudem an der Zulässigkeit der im Antrag geforderten Speicherungsdauer von sechs Monaten. Es fehle dafür eine evidenzbasierte Begründung, wie sie der EuGH fordere. Insgesamt bewertet Witting die im Antrag vorgeschlagene Regelung als „mit einem erheblichen Rechtssicherheitsrisiko verbunden und unverhältnismäßig“.

Entschieden gegen die Zielsetzung des Antrags wandte sich Tom Jennissen vom Verein Digitale Gesellschaft. In seiner Stellungnahme schrieb er von einem unverhältnismäßigen Eingriff in die durch Grundgesetz und Grundrechtecharta garantierten Rechte. Zudem gebe es national und international keine belastbaren Daten, wonach die Speicherung von IP-Daten für die Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder großen Nutzen hätte, sagte Jennissen in der Anhörung. Wichtig sei vielmehr, „umfassend auf Aufklärung, Unterstützung und Prävention zu setzen, statt mit einer allgemeinen Massenüberwachung das Vertrauen in staatliche Stellen weiter auszuhöhlen“.

Der Berliner Informatiker Hadmut Danisch äußerte in seiner Stellungnahme Zweifel, ob der Besitz von Kinderpornografie eine solche Bedrohung der Gesellschaft darstellt, wie sie nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Zulässigkeit einer Vorratsdatenspeicherung gegeben sein müsse. Davon abgesehen mangele es Deutschland an den vom EuGH geforderten rechtsstaatlichen Qualitäten. So seien, wie er in der Anhörung sagte, die deutschen Strafverfolgungsbehörden „deutlich politisch infiltriert“. Danisch unterstellte der antragstellenden Fraktion, dass der Kampf gegen Kindesmissbrauch für sie nur ein Vorwand sei und es ihr tatsächlich „um die Verfolgung politisch Andersdenkender geht“.

Mayeul Hiéramente vom Deutschen Anwaltverein verwies darauf, dass eine anlasslose IP-Speicherung die Rechte aller Bürgerinnen und Bürger betreffe, während kriminelle Nutzer vielfältige Möglichkeiten hätten, ihre Identität zu verschleiern. Zwar sei die vorgeschlagene Maßnahme dennoch für die Ziele der Strafverfolgung geeignet, die Frage sei aber, ob sie vertretbar und rechtspolitisch erwünscht ist. Hiéramente verwies zudem auf das Risiko, dass ein solches Gesetz vom EuGH erneut gekippt wird. Insbesondere die Sechs-Monats-Frist ist aus seiner Sicht europarechtswidrig. Für sie gebe es keine belastbare empirische Grundlage.

Auch Bijan Moini von der Gesellschaft für Freiheitsrechte vertrat die Ansicht, dass bei der vorgeschlagenen Regelung die Gefahren die Vorteile überwiegen. Es handele sich um eine „anlasslose Massenüberwachung“. Aus den gespeicherten Daten lasse sich sehr viel über die Person des Nutzers nachvollziehen. Zudem könnten IP-Daten von Dritten zweckentfremdet und zum Schaden von Personen eingesetzt werden. Dadurch könne es zu falschen Verdächtigungen kommen. Selbst wenn es sich bei der vorgeschlagenen Regelung um einen Grenzfall handele, sollte sich nach Ansicht Moinis die Gesetzgebung „nicht am Rande des Zulässigen bewegen“.

Skeptisch äußerte sich auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Ulrich Kelber. Der EuGH habe den Korridor des Zulässigen fest umrissen. Dieser müsse bei jeder Regelung „zwingend eingehalten werden“. Die vorgesehene Sechs-Monats-Frist ist nach Kelbers Einschätzung mit diesen Vorgaben „nicht vereinbar“. Er warne davor, ein Gesetz zu verabschieden, das ein weiteres „höchstrichterliches Stopp-Signal“ erhalte. Dies würde das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat weiter untergraben.

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