Atmar: „Deutschland hatte guten Willen, aber kein Einfluss“
Berlin: (hib/CRS) Im Afghanistan-Untersuchungsausschuss hat gestern die ehemalige stellvertretende Flüchtlingsministerin Afghanistans, Alema Alema, von einem „Politikversagen aller Beteiligten“ während der 20-jährigen internationalen Präsenz im Land gesprochen. Die Politikerin kritisierte vor allem die Haltung der westlichen Staaten in der Zeit vor dem Zusammenbruch der afghanischen Regierung. Sie hätten nach der Unterzeichnung des Doha-Abkommens zwischen den USA und den Taliban, das den Abzug der US-amerikanischen Truppen aus Afghanistan regelte, behauptet, die Taliban hätten sich geändert und keinen Druck auf sie geübt. Sie selbst habe gedacht, dass es am Ende eine Interimsregierung mit Beteiligung beider Seiten und eine neue Verfassung geben würde.
Alema erklärte, sie sei Mitglied eines Teams zur Vorbereitung der Afghanistan-Friedenskonferenz in Istanbul gewesen, die dann aber nie stattfand. Die Taliban seien unwillig gewesen teilzunehmen, weil sie gewusst hätten, dass sie dort ihre Positionen hätten aufgeben müssen.
Die afghanische Regierung habe bis zum letzten Tag nicht gedacht, dass die Taliban in die Hauptstadt Kabul einmarschieren würden. Die Mitglieder hätten auch nicht das Land verlassen wollen, weil ihnen zugesichert worden sei, dass Kabul nicht fallen würde. Am Ende sei sie aber eine der ersten sieben Personen gewesen, die mit einer Maschine aus Deutschland ausgeflogen wurde.
Alema betonte, dass viele bedrohte Menschen in Afghanistan weiterhin auf eine Evakuierung warteten. Sie rief die Bundesregierung dazu auf, ihre Versprechen einzuhalten und wies vor allem auf die schwierige Situation von ehemaligen Soldaten der afghanischen Armee hin. Viele von ihnen würden sterben, weil niemand ihnen helfe.
Gefragt nach den Abschiebungen aus Deutschland nach Afghanistan berichtete die ehemalige Vize- Flüchtlingsministerin, es habe mit der EU ein Memorandum of Understanding (MoU), also eine Absichtserklärung, gegeben, Rückführungen von Afghanen zu akzeptieren. Deutschland habe jedoch auf ein separates MoU bestanden, weil Kabul mehr als 50 Personen bei einem Flug prinzipiell nicht zugestimmt habe und die europäischen Staaten um Plätze in den Maschinen verhandeln mussten. Bei den Rückführungen habe es viele strittige Fälle gegeben, aber die europäischen Vertreter hätten großen Druck ausgeübt, sagte Alema.
Der ehemalige afghanische Außenminister Mohammed Haneef Atmar lobte im Anschluss zunächst den Einsatz deutscher Soldaten, Polizisten und Entwicklungshelfer in Afghanistan. In den 20 Jahren des internationalen Engagements habe Afghanistan enorme Fortschritte gemacht bei der Staatsbildung, Menschenrechten und gesellschaftlicher Entwicklung.
Dass die Republik dennoch gescheitert sei, habe jedoch politische Gründe, urteilte Atmar. Die afghanischen Politiker seien uneins gewesen, manche auch korrupt, und die USA hätten mit einem einseitigen Beschluss ihr militärisches Engagement beendet. Außerdem habe sich der damalige afghanische Staatspräsident Aschraf Ghani bei allen unbeliebt gemacht. Es habe nur widersprüchliche Signale gegeben, die die Kampfmoral der afghanischen Sicherheitskräfte unterminiert hätten.
Atmar sagte, das Doha-Abkommen sei das schlechteste Abkommen, das er in seinem Leben je gesehen habe. Die USA seien entschieden gewesen, ihre Truppen zurückzuziehen. Die afghanische Regierung habe die internationale Gemeinschaft daraufhin gebeten, den Taliban öffentlich zu signalisieren, dass es keinen Übergang geben werde, ohne dass sie die an sie gestellten Bedingungen des Doha-Abkommens erfüllten. Er selbst habe in stundenlangen Gesprächen mit einem deutschen Diplomaten versucht zu erklären, dass sich der Prozess in eine falsche Richtung entwickle und die Europäer ihre Stimme erheben müssten. In diesen Gesprächen habe er verstanden, dass es keinen starken Willen in der Nato gegeben habe, diesen Prozess zu stoppen.
Deutschland habe in dieser Zeit guten Willen gezeigt, aber keinen Einfluss gehabt, konstatierte Atmar. In einem Gespräch mit Ghani habe die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) betont, dass sie die Entwicklung nicht gut fände und sich dagegen einsetzen werde. Sie sei aber die einzige Regierungschefin auf der Welt gewesen, die sich so geäußert habe. Am Ende habe die Glaubwürdigkeit des Westens Schaden genommen.
Der frühere Außenminister räumte aber auch ein, dass die afghanische Politik bei der Bekämpfung der Korruption erfolglos geblieben sei. Die internationale Gemeinschaft habe die korrupten Politiker aus pragmatischen Gründen geduldet. Daraus sollte man für die Zukunft lernen, empfahl er.
Bis kurz vor dem Zusammenbruch der afghanischen Regierung habe niemand irgendeinen Plan für eine friedliche Transition gehabt, führte der Zeuge weiter aus. Am 14. August 2021 habe er einem Telefongespräch zwischen Ghani und dem US-Außenminister Antony Blinken beigewohnt, in dem Ghani zum ersten Mal gesagt habe, dass er die Macht an die Taliban abgeben wolle. Das sei für alle, auch für Blinken, ein Schock gewesen. Er habe dann am nächsten Tag die Flucht Ghanis aus Afghanistan mitverfolgt. „Inzwischen weiß ich, dass er seine Ausreise bereits früher geplant hatte.“
Die Evakuierung der ausländischen Botschaften in Kabul sei ein monatelanger Prozess gewesen, berichtete Atmar weiter. Die Nachricht, dass es in Afghanistan bald keine US-Soldaten mehr geben werde, habe den Prozess jedoch beschleunigt und zum Chaos geführt.
Am Ende seiner Aussage bat er die Abgeordneten, ihre Aufmerksamkeit auch in die Zukunft zu richten. Das Doha-Abkommen beinhalte vier Elemente, die am Ende zu einer neuen, verhandelten islamischen Regierung führen sollen. Dieses Ziel sei noch erreichbar, betonte Atmar.