Soldaten mussten ohne Vorgaben über Schicksale entscheiden
Berlin: (hib/CRS) In der 64. Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses Afghanistan wurde ein Hauptmann der Feldjäger befragt, der während der Evakuierungsoperation vom Flughafen Kabul das Kommando über 14 Frauen und Männer hatte. Der Ausschuss untersucht die Ereignisse zwischen der Unterzeichnung des Doha-Abkommens in Februar 2020, mit dem die USA und die Taliban den Abzug internationaler Truppen aus Afghanistan geregelt hatten, und dem Fall Kabuls in August 2021.
Der heute 32-jährige Hauptmann beschrieb, wie er und seine Soldaten in Kabul ankamen und unter welchen Umständen sie dort arbeiteten.
Als die Tür der Bundeswehrmaschine in den frühen Morgenstunden, noch im Dunkeln, aufging, habe er als erstes die extreme Hitze wahrgenommen. Der Flughafen sei hell erleuchtet gewesen. Dann habe er den Gefechtslärm gehört, der über die zehn Tage, die er in Kabul verbrachte, nicht endete. Er habe die Sicherheitslage nicht einschätzen können. „Ich wusste nicht, wo ich bin“ sagte der Soldat und ergänzte: Eigentlich habe er genau gewusst, wo er war. Denn er habe die politischen Prozesse verfolgt und als der erste Anruf an einem Freitag um Mitternacht kam und ihm mitgeteilt wurde, er habe sich am nächsten Tag um 19 Uhr an der Sammelstelle zu befinden, war ihm klar, wo es hingehen würde.
Bis auf drei Soldaten habe er seine Leute nicht gekannt. Viele seien jedoch wesentlich älter und diensterfahrener als er selbst gewesen. Viele hätten Zugführererfahrungen gehabt, mehrere seien bereits vorher schon einmal in Kabul gewesen, manche sogar zwei Mal. Außer eine Schutzweste hätten sie kein zusätzliches Material bekommen. Das sei aber ausreichend gewesen.
Gleich nach der Ankunft im Kabuler Flughafen habe er sich den Flugplatz anschauen und verstehen müssen, wo er denn überhaupt gelandet sei, gab der junge Soldat zum Protokoll. Er habe aber nie Zeit gehabt, über die Bedrohungslage nachzudenken.
Dann habe er seine Mannschaft eine Schleuse aufbauen lassen, „um die Leute zu registrieren und nach Deutschland auszufliegen.“ Am Anfang hätten sie nichts gehabt, später immerhin einen Schreibtisch. Obwohl der Prozess über Tage immer weiter optimiert wurde, lief es generell immer nach demgleichem Muster.
Sie hätten mit den Amerikanern zusammengearbeitet, die die Tore des Flughafengeländes gesichert und die Menschen nach eigenen Kriterien in der Menge identifiziert und hineingelassen hätten. Er habe ihnen gezeigt, wie ein deutscher Pass aussehe, erzählte der Zeuge, aber keinen Einfluss darauf gehabt, wer in den Flughafen kam.
50 Meter weiter hätten die Deutschen ihre Schleuse aufgebaut. Nicht selten seien Blendgranaten in die Schleuse geflogen. Seine Kollegen und hätten Personenkontrollen gemacht, die Papiere geprüft, die Menschen registriert und auf eine Liste gesetzt. Dann seien die Menschen auf Sammelstellen geführt worden, wo sie auf die Flugzeuge warten mussten, mit denen sie erst nach Taschkent und später nach Deutschland ausgeflogen wurden.
Wenn etwas nicht eindeutig war, habe er in Absprache mit dem deutschen Botschafter Jan Hendrik van Thiel die Entscheidung treffen müssen. Es habe keine Vorgabe gegeben und er habe mit gesundem Menschenverstand vorgehen müssen. Sie hätten zwar von Brigadegeneral Jens Arlt Listen bekommen, es sei aber sehr schwierig gewesen mit diesen Listen zu arbeiten, weil darauf „arabisch klingende Namen, die sich alle gleich anhörten, in nicht alphabetischer Ordnung“ aufgereiht waren. Er sei ständig im Austausch mit dem Botschafter und General Arlt gewesen. Es habe bestimmte Kriterien für die Entscheidung gegeben: Deutsche Staatsbürger, Aufenthaltstitel, Nato-Verbündeter, Mitarbeiter von deutschen Organisationen.
Manchmal hätten Frauen vor ihm gestanden, die berichteten, dass ihre Männer und Kinder noch draußen vor den Toren des Flughafens wären. „Vor dem Gate waren tausende Menschen“ berichtete der Zeuge: „Es war ständig Gefechtslärm. Ich habe afghanische Soldaten gesehen. 20 Meter weiter standen die Taliban. Ich habe Leute gesehen, die mit Gewehrkolben auf die Brüste von Kindern geschlagen haben. Nichts war mit meinen moralischen Vorstellungen vereinbar.“ Dennoch hätten sie es in vielen Fällen geschafft, Familien zusammenzubringen.
Er habe alles getan, um den Menschen zu helfen. Für ihn habe es keine Rolle gespielt, ob jemand irgendwo putzte oder Regierungsmitglied war. „Ich habe die Leute auf der Grundlage der Kriterien geprüft.“ Viele Frauen hätten angegeben, dass ihre Männer Deutsche seien, konnten aber keine Dokumente vorweisen. In solchen Fällen habe er nach Handy-Videos oder -Bildern gefragt, um die Angabe prüfen zu können. Einmal habe eine Frau mit Kindern gesagt, sie sei eine Abgeordnete, aber kein Kriterium habe gegriffen und er habe gewusst, „was der Frau blühte“, wenn er sie zurückschicken würde. Da habe er ganz individuell gehandelt und den italienischen Botschafter gefragt, ob man sie nicht mitnehmen könnten. Das seien alles Einzelfallentscheidungen gewesen. „Wir haben uns viel Zeit gelassen, denn ich habe noch nie so viele Menschen weinen gesehen“ fügte der Hauptmann hinzu.
Aber irgendwann sei die Grenze erreicht gewesen. Wenn die Situation angedauert hätte, hätten es manche Soldaten psychisch nicht aushalten können: „Es macht was mit einem, wenn man eine Frau mit Kindern zurückdrängen muss.“
Die Zusammenarbeit mit dem deutschen Botschafter bezeichnete der Zeuge als „sehr gut“, mit den internationalen Partnern sogar „hervorragend“. Er habe ein Tagebuch geführt, aber dieses sei mit einem Rucksack vor Ort geblieben, berichtete der Zeuge.