1. Januar 2021 Presse

Schäuble mahnt verantwortungsvollen Umgang mit dem Thema Nation an

Vorabmeldung zu einem Interview in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag: 04. Januar 2021)
– bei Nennung der Quelle frei zur sofortigen Veröffentlichung –

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hat einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Thema Nation angemahnt. Dass das Thema in der nationalsozialistischen Zeit „grauenvoll missbraucht wurde“, sei jedermann bekannt, sagte Schäuble in einem Gespräch mit der Wochenzeitung „Das Parlament“. Dabei  wisse man aus der deutschen Geschichte schon vor 1933, dass es verheerende Folgen habe, nationale Gefühle zu übertreiben. „Sie einfach wegzuschieben, wäre aber auch ganz falsch – dann überlassen wir sie den Gegnern der freiheitlichen Demokratie“, betonte der Parlamentspräsident. Es sei für jede freiheitliche Organisation des Zusammenlebens  wichtig, „dass es etwas gibt, das den Menschen eine gewisse Zugehörigkeit vermittelt“.

Dieses „Wir“ wolle er „gar nicht so genau definieren, das hätte immer etwas Abschließendes an sich“, fügte Schäuble hinzu: „Wir sind aber eine offene Gesellschaft“. Es gehörten nicht nur diejenigen dazu, deren Urgroßeltern schon hier geboren sind.

Er verwies zugleich darauf, dass auch Werte Identität und Zugehörigkeit stifteten. Die Werte des Grundgesetzes, insbesondere die Unantastbarkeit der Menschenwürde, seien „doch etwas Tolles“, unterstrich der CDU-Parlamentarier. Nation sei indes „mehr als das, was der Begriff Verfassungspatriotismus meint“. Man erreiche die Menschen nicht allein mit der Ratio, sondern auch die Emotionen gehörten dazu. „Ein vernünftiger Umgang damit, was Nation ist, kann die stärksten Kräfte im Menschen ansprechen, zum Beispiel Solidarität. Das ist doch gut“, sagte der Bundestagspräsident.


Das Interview im Wortlaut:

Herr Präsident, den Deutschen wird gern attestiert, sich beim Thema Nation schwer zu tun, als Folge der nationalsozialistischen Verbrechen. Zu Recht?
Dass das Thema Nation in der nationalsozialistischen Zeit grauenvoll missbraucht wurde, ist jedermann bekannt. Insofern ist nachvollziehbar, dass die Deutschen sich damit schwerer tun, auch wenn man manchmal das Gefühl hat, dass nicht mehr alle so gern daran erinnert werden wollen, in welchen Abgrund Deutsche sich selbst und die Menschheit geführt haben. Aber das bleibt immer ein Teil unserer Geschichte und der Umgang damit Teil unserer nationalen Identität. Davon unbenommen ist für jede freiheitliche Organisation des Zusammenlebens – zumal unter den Bedingungen der Moderne – wichtig, dass es etwas gibt, das den Menschen eine gewisse Zugehörigkeit vermittelt.

Zum Beispiel Nation?
Was immer die Nation im Einzelnen ist: In der Regel, und das weit über Europa hinaus, bildet sich in ihr staatliche Organisation – insbesondere dann, wenn diese auf einer freiheitlichen Grundlage erfolgt. Zur freiheitlichen Staatsorganisation gehört zwingend, dass die Bürger Mehrheitsentscheidungen akzeptieren. Das macht das Zugehörigkeitsbewusstsein der Menschen so wichtig für die Demokratie. Deshalb müssen wir mit dem Begriff Nation und allem, was sich damit verbindet, verantwortungsvoll umgehen. Nationale Gefühle zu übertreiben, das wissen wir aus unserer Geschichte auch schon vor 1933, hat verheerende Folgen, sie einfach wegzuschieben, wäre aber auch ganz falsch – dann überlassen wir sie den Gegnern der freiheitlichen Demokratie.

Während der deutschen Teilung wurde im Westen zwar staatlicherseits die Einheit der Nation betont, das Gros der Bevölkerung – zumal die Jüngeren – aber orientierte sich stark nach Westen.
Das stimmt. Wenn man nicht persönliche Beziehungen hatte oder im Zonenrandgebiet lebte, waren Paris, Italien oder die USA viel interessanter. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Ich habe damals zu denen gehört, die an der Einheit der Nation festhielten – da galt man schon fast als kalter Krieger. Und es gab in Deutschland – anders als im geteilten Korea – immer viele gesellschaftliche Kontakte: durch die vielen persönlichen Beziehungen, durch die evangelische Kirche, und auch dadurch, dass die Menschen in der DDR Westfernsehen geschaut haben. Ein Drittel der Bevölkerung war in den letzten Jahren vor dem Mauerfall jährlich für eine Woche im Westen; wir hatten dazu den Besucherverkehr zwischen der Bundesrepublik und der DDR stark ausgeweitet. Bei der Friedlichen Revolution dauerte es dann nur ein paar Wochen, bis aus dem Ruf „Wir sind das Volk“ der Ruf „Wir sind ein Volk“ wurde.

Dieser Ruf war nicht nur der Anziehungskraft der D-Mark und der Verlockungen des Westfernsehens geschuldet?
Die Debatte, ob damals nur der Konsum lockte, ödet mich manchmal etwas an: Es war nicht nur der Konsum! Die Reisefreiheit war mindestens so entscheidend, überhaupt der Wunsch, frei zu leben. Dass der Beitritt der DDR zum Grundgesetz so schnell ging, hat ausschließlich die Mehrheit der Menschen in der DDR bestimmt. Die wollten so leben, wie sie es mit der Bundesrepublik verbanden. Sie hatten ja eine eigene Vorstellung davon, wie es in Westdeutschland sei, und die Mehrheit fühlte sich davon ausgesprochen angezogen. Und sie waren dann eben Deutsche in Deutschland. Denn es war doch mehr an Einheit geblieben. Das zeigt: Nation ist viel mehr als das, was der Begriff Verfassungspatriotismus meint....

...also Identifikation mit Werten, Verfahren, Institutionen der Verfassung...
... alles wahr, aber man erreicht die Menschen eben nicht allein mit der Ratio – die Emotionen gehören dazu. Ein vernünftiger Umgang damit, was Nation ist, kann die stärksten Kräfte im Menschen ansprechen, zum Beispiel Solidarität. Das ist doch gut. Für mich stammt die schönste Definition von Richard Schröder, dem SPD-Fraktionsvorsitzenden in der frei gewählten DDR-Volkskammer. Der sagte: „Deutschland ist nichts Besonderes, aber etwas Bestimmtes“ – und jeder braucht etwas Bestimmtes.

Haben Friedliche Revolution und Einheit auch zu einer Renaissance des deutschen Nationalgefühls insgesamt geführt, das sich etwa beim „Sommermärchen“ während der Fußball-WM in Deutschland 2006 zeigte?
Das gab es schon vorher. Eine Zeit lang war es verpönt, Flagge zu zeigen. Aber ich kann mich erinnern, wie Boris Becker in den 1980er Jahren, deutlich vor der Wiedervereinigung, nach einem dramatischen Davis-Cup-Spiel gegen John McEnroe mit der schwarz-rot-goldenen Fahne herumlief. Insofern hatte das einen Vorlauf; es war schon länger nicht mehr völlig verpönt. Beim sogenannten Sommermärchen hat das dann einen Höhepunkt gefunden. Warum auch sollen nicht alle an ihre Autos eine schwarz-rot-goldene Fahne hängen, wenn es ihnen Spaß macht? Das war kein überzogener Nationalismus, eher eine Mode. Aber noch viel schöner an dem Sommermärchen war ja die Tatsache, dass man in diesem Deutschland fröhlich sein kann. Selbst als die deutsche Mannschaft ausgeschieden war, hat dies der Stimmung keinen Abbruch getan. Das ist eigentlich fast ein Symbol für einen vernünftigen Umgang mit der Nation: Die Menschen haben sich einfach weiter gefreut und mit Gästen aus der ganzen Welt gefeiert. Und wenn die Mannschaft das Spiel um den dritten Platz verloren hätte, wäre sie am Brandenburger Tor genauso gefeiert worden. Das war eine Phase, in der wir einen entspannten, aber vernünftigen Umgang mit der Nation hatten: gemäßigt und unverkrampft. Das war nicht schlecht, und das würde ich mir auch für die Zukunft wünschen.

Gibt das „Wir-Gefühl“ den Menschen Halt?
Ein Stück weit ja. Nicht im Überschwang, da steckt immer eine Gefahr drin. Aber ein Zugehörigkeitsgefühl kann helfen, vor allem eine gemeinsame Aufgabe. Denken Sie an die Anfangsphase der Flüchtlingskrise, an die Bilder vom Münchner Hauptbahnhof, dieses „Wir helfen denen, so gut wir können; das kriegen wir gemeinsam hin“. Wir dürfen dieses emotionale Bindemittel nicht den Gegnern der Demokratie überlassen.

Sie haben in diesem Zusammenhang von einer identitätsstiftenden Funktion der Nation gesprochen...
Ja. Sobald Sie anfangen, dieses „Wir“ genauer zu definieren, kommen Sie ins Unterholz: Warum feuern wir beim Länderspiel gegen Frankreich die eigene Mannschaft an? Nicht wegen der Verfassung; die Grundwerte hat Frankreich auch, und trotzdem ist man für die eigene Mannschaft – einfach nur, weil es „unsere“ ist.

Ist dieses „Wir“ die historisch gewachsene Gemeinschaft mit gleicher Sprache, Kultur, Geschichte?
Dieses „Wir“ will ich gar nicht so genau definieren, das hätte immer etwas Abschließendes an sich. Wir sind aber eine offene Gesellschaft. Es gehören nicht nur diejenigen dazu, deren Urgroßeltern schon hier geboren sind. Die Migration, die Mobilität hat sich unheimlich beschleunigt. Am Ende des Zweiten Weltkriegs sind mindestens 15 Millionen Menschen von Ost nach West verschoben worden. Das hat damals auch „gerumpelt“; so angesehen waren die deutschen Flüchtlinge in den ersten Jahren in ihrer neuen Heimat nicht. Aber wir haben es verkraftet. Und jetzt müssen wir die viel stärkeren globalen Wanderungsbewegungen auch verkraften. Das ist eine der großen Herausforderungen der freiheitlichen Gesellschaft. Wenn wir allerdings zurückfallen in den Anspruch „Me first“, wird die Welt nicht besser, sondern schwieriger.

Wir leben in einer offenen, pluralen Gesellschaft, in der jeder Vierte einen Migrationshintergrund hat. Neben der „Kulturnation“ gibt es auch das Modell der „Staatsnation“, deren Bürger auf der Grundlage bestimmter Werte, Rechte und Pflichten zusammenfinden. Ist das ein Gegensatz?
Nein, das ergänzt sich. Denken Sie an die Aufnahme der Hugenotten in Preußen im 17. Jahrhundert: Das waren nicht Bürger zweiter Klasse. Über das Abstammungs- und das Territorialprinzip beim Staatsbürgerschaftsrecht kann man trefflich streiten; diese Debatte habe ich auch eine Zeit lang aushalten müssen, aber heute sind wir darüber hinweg. Man kann seine Staatsbürgerschaft wechseln, und die Staatsbürgerschaft muss man in ihrer Bedeutung nicht überziehen. Aber ohne eine gewisse Zuordnung, welcher Staat für wen mit welchen Rechten und Pflichten zuständig ist, geht es nicht. Teilhabe braucht Teilnahme, also Zugehörigkeit.

Um dabei auf das Stichwort Verfassungspatriotismus zurückzukommen: Stiftet nicht auch das Zusammenfinden zu bestimmten Werten Identität?
Das ist kein Entweder-oder, das überlagert sich gegenseitig. Werte stiften natürlich Identität und Zugehörigkeit. Die Werte des Grundgesetzes, insbesondere die Unantastbarkeit der Menschenwürde, sind doch etwas Tolles. Und für Franzosen sind natürlich die Werte der Revolution, also Liberté, Égalité, Fraternité, von ganz entscheidender Bedeutung. Ich habe nichts gegen Verfassungspatriotismus, im Gegenteil: Ein vernünftiger Deutscher, dem sein Land nicht völlig egal ist, ein Patriot, der darf die Menschenwürde nicht mit Füßen treten. Sonst ist er kein guter Deutscher.

Sie sind ein ausgewiesener Europäer. Ihre Generation und die vorherige hat im Aufbau eines gemeinsamen Europa eine identitätsstiftende Aufgabe gefunden. Geht dieses Identitätsstiftende, geht die europäische Begeisterung verloren?
Ich hoffe nicht, aber die Frage ist nicht entschieden. Natürlich ist die europäische Identität noch eine zarte Pflanze. Sie war wie der Verfassungspatriotismus am Anfang eher eine Kopfgeburt, weil man nicht noch einmal Krieg wollte; dann besann man sich: Europa war doch immer schon mehr. Statt „Wir-Gefühl“ kann man auch pathetischer von „Schicksalsgemeinschaft“ sprechen. Die Nation ist eine Schicksalsgemeinschaft, und Europa ist das im 21. Jahrhundert auch. Aber eben noch bei vielen eher im Kopf. Deshalb brauchen wir mehr Identitätsstiftung.

Was könnte dazu beitragen?
Früher hat man Identität gewonnen über Mythen und große Erzählungen, über gemeinsame Erfolge oder Niederlagen. Für Europa wird das schwierig; wir wollen ja keine europäischen Kriege führen. Was also stiftet Identität? Da Personalentscheidungen bei vielen Menschen oft sehr viel mehr Interesse wecken als Wahlen von irgendwelchen Listen, habe ich vorgeschlagen, dass wir den Präsidenten der Europäischen Kommission direkt durch das Volk wählen sollten. Das würde beim ersten Mal sicher auch „rumpeln“, nicht zuletzt wegen der Sprachenfrage – aber wäre erst einmal ein Präsident gewählt, wäre das ein identitätsstiftendes Element, über das man streiten kann. So etwas braucht Europa noch mehr.

Europa ist aber kein Nationalstaat oder könnte ihn ersetzen?
Ich bin gegen den Begriff „Vereinigte Staaten von Europa“, weil er bei den Menschen Assoziationen von den Vereinigten Staaten von Amerika weckt, also von einem größeren Nationalstaat. Ich glaube, dass der Nationalstaat als Organisationsprinzip – im Sinne des vor 150 Jahren von Bismarck gegründeten deutschen Nationalstaates – in der Endphase seiner geschichtlichen Bedeutung ist. Er bleibt wichtig, aber wir werden Souveränität als die Allzuständigkeit für die Regelung politischer Sachverhalte im 21. Jahrhundert vermutlich nicht weiter allein auf nationaler Ebene leisten können. Nicht in der globalisierten Welt. Die Zuständigkeiten werden sich auf verschiedene Ebenen verteilen. Aber Zugehörigkeit und emotionale Bindung wird man auch in der Zukunft brauchen. Ich würde einiges, was wir heute noch national regeln, an Europa abgeben, aber dabei darf dann nicht die Nationalzugehörigkeit verloren gehen. Der richtige Umgang damit – das ist die Aufgabe. Gerade in Zeiten der Globalisierung dürfen wir nicht unsere Wurzeln kappen. Sonst werden wir anfälliger für Populisten. Wenn wir globale Herausforderungen annehmen wollen, müssen die Menschen auch das Gefühl haben: Ja, da gehören sie dazu, da sind sie dabei.