Gyde Jensen: Debatte über Virus-Eindämmung in Parlamente zurückbringen
„Das Konzept des Menschenrechts ist die große zivilisatorische Errungenschaft der Menschheitsgeschichte“, sagt Gyde Jensen (FDP), Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Deutschen Bundestag. Heute weltweit vielfach national und international kodifiziert, erhielten die Menschenrechte in Europa rechtliche Verbindlichkeit mit der Europäischen Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) des Europarates. Vor 70 Jahren, am 4. November 1950, unterzeichneten die ersten zwölf Vertragsstaaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland, die EMRK in Rom. Bis heute sind alle 47 Mitgliedstaaten des Europarates der Konvention beigetreten.
Für den Menschenrechtsausschuss des Bundestages sei es Aufgabe und Verpflichtung, sich für den hohen Stellenwert und Schutz der Menschenrechte weltweit einzusetzen, sagt Gyde Jensen im Interview. Sie fordert, „die Debatte über die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus in die Parlamente zurück(zu)bringen“. In der Flüchtlingspolitik gelte es, die Standards der EMRK einzuhalten. Außerdem brauche es „eine neue Regelung zur Aufnahme von geflüchteten Menschen auf EU-Ebene“. Ein „Weiter so“ an den EU-Außengrenzen könne es „auf jeden Fall nicht geben, wenn wir ein neues Moria verhindern wollen“. Das Interview im Wortlaut:
Frau Jensen, was bedeutete die Einigung auf die Konvention und ihre Unterzeichnung 1950?
Die Einigung und Unterzeichnung waren eine bahnbrechende Innovation für den Menschenrechtsschutz in Europa. Sie haben den Grundstein dafür gelegt, dass 830 Millionen Bürger und Bürgerinnen Europas nicht nur institutionalisierte Grund- und Menschenrechte haben, sondern diese auch konkret vor dem Europäischen Gerichtshof (EGMR) einklagen können. Dadurch ist in den meisten Staaten Europas der Menschenrechtsschutz so hoch wie in kaum einem anderen Teil der Erde. Selbst in den Staaten des Europarates, wo von einer vollständigen Umsetzung der Konvention nicht gesprochen werden kann, das zeigt die Lage in Russland oder der Türkei, hat sie dennoch zu einem gestiegenen Grundrechtsschutz beigetragen.
In vielen Mitgliedsländern des Europarates werden Menschenrechte weiterhin verletzt. Wie gehen Sie als Bundestagsabgeordnete damit um?
Dass Mitglieder des Europarates gegen die Konvention verstoßen und Urteile des Europäischen Gerichtshofes nicht umsetzten, frustriert mich als Bundestagsabgeordnete und besonders als Delegierte in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates sehr. Es ist deshalb wichtig, dass wir die Menschenrechtslage in allen Ländern, auch im eigenen, beobachten, Verstöße gegen die Konvention klar benennen und MenschenrechtsaktivistInnen unterstützen. Aber auch der Dialog muss gesucht werden. Daher treffe ich mich oft mit Botschaftern, deren Staaten den Grund- und Menschenrechtsschutz noch verbessern müssen und wollen.
Was bedeutet die EMRK und die Mitgliedschaft Deutschlands im Europarat für die Arbeit des Menschenrechtsausschusses?
Die EMRK ist ein wichtiges Grundlagendokument, anhand dessen wir im Ausschuss die Lage von Menschenrechten nicht nur im Ausland, sondern auch in Deutschland bewerten können. Sie und die Urteile des EGMR sind aber nicht nur eine Richtschnur, sondern dienen auch als eine konkrete Argumentationsbasis, um die Bundesregierung und Regierungen anderer Staaten an den Schutz der Grund- und Menschenrechte zu erinnern und sie mit legislativer Expertise zu unterstützen. Deutschlands Mitgliedschaft im Europarat bedeutet für uns dabei, dass wir als ParlamentarierInnen Einfluss auf die Weiterentwicklung der EMRK nehmen können, zum Beispiel bei der Stärkung von Frauenrechten im digitalen Raum.
Wo liegen in der aktuellen Wahlperiode Schwerpunkte der Ausschussarbeit, auf Europa bezogen?
Die europäischen Themenstellungen des Ausschusses sind vielfältig. Migration steht immer wieder auf der Agenda. Dabei stellen wir uns die Frage, wie wir Migration human und menschenrechtskonform, aber auch kontrolliert gestalten können, um Katastrophen wie die Zustände im Lager Moria auf Lesbos zukünftig verhindern zu können. Zudem gilt dem Schutz von marginalisierten und vulnerablen Gruppen in Europa ein Augenmerk. Ein Beispiel ist hier die Einschränkung der LGBTIQ-Community in vielen Gemeinden in Polen. Aktuell verfolgen wir die Proteste der Demokratiebewegung in Belarus mit großer Aufmerksamkeit und großer Sorge über die gewaltsame Reaktion des Regimes von Alexander Lukaschenko.
In der Corona-Krise sind die Menschenrechte vielerorts unter Druck geraten. Wie kann es der Politik in Deutschland gelingen, das zentrale Menschenrecht auf Gesundheit zu gewährleisten ohne für die Gesundheitsschutzmaßnahmen andere Menschenrechte, beispielsweise auf Versammlungsfreiheit oder auf Bildung, zu stark einzuschränken?
Die Politik in Deutschland muss mit innovativen und der Komplexität der Lage angemessenen Lösungen wie besseren digitalen Bildungsangeboten dafür sorgen, dass Einschränkungen auf ein Minimum reduziert werden (können). Leider gibt es bei staatlichen Eingriffen jedoch falschen Aktionismus hin zu einer schnellen Einschränkung wichtiger Rechte. Wir ParlamentarierInnen müssen hier gegensteuern und dafür sorgen, dass Maßnahmen, die Grundrechte zu stark einschränken, von BürgerInnen angefochten werden können, wie es in den vergangenen Monaten vor vielen Gerichten im Land auch oft erfolgreich geschehen ist. Vor allem aber müssen wir die Debatte über die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus in die Parlamente zurückbringen. Die Herzkammer unserer Demokratie ist der Deutsche Bundestag, und genau hier muss im Rahmen parlamentarischer Debatten über das Für und Wider der Maßnahmen diskutiert werden – transparent und öffentlich.
Auch durch den Klimawandel sind weltweit Menschenrechte bedroht, der Zugang zu Nahrung, Wasser, Wohnung und Bildung ist infrage gestellt, die Gesundheit und das Leben von Menschen steht auf dem Spiel. Greift der Ausschuss dieses Thema auf?
Ja, wir werden uns im nächsten Jahr intensiv mit dem Themenschwerpunkt „Klima und Menschenrechte“ auseinandersetzen. Konkrete humanitäre Notlagen, die aus dem Klimawandel resultieren, stehen bei uns zudem immer häufiger auf der Tagesordnung, sei es bei Antragsberatungen zur humanitären Situation in der Sahelzone, die stark durch den Klimawandel geprägt ist, oder bei Gesprächen mit Internationalen Organisationen. Beispielsweise mit dem Präsidenten des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK), Peter Maurer, oder David Beasley, dem Exekutivdirektor des World Food Programme (WFP), das für seine herausragende und innovative Arbeit den Friedensnobelpreis 2020 erhalten hat.
Sie haben vor einigen Tagen das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos besucht. Was haben Sie dort gesehen?
Ich habe auf Lesbos sowohl das abgebrannte Lager Moria als auch weitere Aufnahmelager besucht. Das neue Lager Kara Tepe, das als provisorischer Ersatz für Moria errichtet wurde, erfüllt kaum humanitäre Standards – es kann nur ein Übergangslager sein. Insbesondere der Schutz von Kindern, Frauen und Kranken ist dort nicht ausreichend gewährleistet. Das ältere Kara-Tepe-Lager und das Pikpa-Lager sind hingegen Beispiele, wie eine humane Unterbringung der Menschen gelingen kann. Die verschiedenen Lager sind ein Sinnbild für die komplexen Zuständigkeiten und zeigen, dass wir dringend eine Neuausrichtung der EU-Migrationspolitik brauchen.
Wie kann die EU eine Flüchtlingspolitik hinbekommen, die die in der EMRK festgeschrieben menschenrechtlichen Standards berücksichtigt?
Die EU-Mitgliedstaaten dürfen die Verantwortung über die EU-Außengrenzen nicht auf Staaten im geografischen Süden wie Griechenland oder Italien abwälzen, sondern müssen sie bei der schnellen Bearbeitung der Asylanträge unterstützen, Menschen aufnehmen und auch bei der Rückführung nicht aufenthaltsberechtigter Menschen mit in der Verantwortung sein. Es ist grundsätzlich richtig, dass wir Aufnahmelager zur schnellen Registrierung und Feststellung der Identität haben. Diese müssen allerdings so ausgestattet sein, dass die Standards der EMRK eingehalten werden. Zügige, transparente Verfahren mit einem ausreichenden Zugang zu Rechtsbeistand sind ein Recht, auf das sich die Menschen verlassen können müssen. Zugang zu sauberem Wasser, ausreichend Nahrung und einer angemessenen gesundheitlichen Versorgung gehören ebenfalls dazu. Damit Menschen nicht so lange wie bisher in diesen Lagern ausharren müssen, kommen wir um eine neue Regelung zur Aufnahme von geflüchteten Menschen auf EU-Ebene nicht herum. Ein „Weiter so“ kann es auf jeden Fall nicht geben, wenn wir ein neues Moria unbedingt verhindern wollen.
(ll/28.10.2020)