Arbeit

Kontroverse um gesetzliche Anhebung des Mindestlohns

Zeit: Montag, 16. Mai 2022, 13 bis 14.30 Uhr
Ort: Berlin, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, Sitzungssaal 3.101

Die geplante gesetzliche Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro ab 1. Oktober 2022 stößt bei Verbänden und Sachverständigen auf ein unterschiedliches Echo. Während einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am Montag, 16. Mai 2022, begrüßte Stefan Körzell vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) die Erhöhung. Dies sei eine seit langem bestehende Forderung der Gewerkschaften.

Kritisch äußerte sich unter anderen Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der mit Blick auf die gesetzliche Regelung von einem fundamentalen Eingriff in die Tarifautonomie sprach. Grundlage der Anhörung war ein von der Bundesregierung vorgelegter Entwurf eines Mindestlohnerhöhungsgesetzes (20/1408). 

„Das ist kein Job-Killer“

DGB-Vertreter Körzell verwies auf eine hohe Zustimmung innerhalb der Bevölkerung für die Erhöhung des Mindestlohns. 88 Prozent fänden das in Ordnung, so Körzell. 6,2 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seien davon betroffen – „vor allem in Ostdeutschland und vor allem Frauen“, betonte der DGB-Vertreter. Insofern schließe man damit auch ein Stück weit den Gender-Pay-Gap.

Besondere Wirkung werde die Erhöhung in den Wirtschaftsbereichen der Gastronomie, dem Taxigewerbe, dem Einzelhandel und der Landwirtschaft entfalten. Negative Auswirkungen auf die Beschäftigung seien nicht zu erwarten, so Körzell. „Das ist kein Job-Killer“, betonte er.

„Kipppunkt für den Mindestlohn“

Die Kritik des BDA, so Hauptgeschäftsführer Kampeter, richte sich nicht gegen eine bestimmte Lohnhöhe. „Sie richtet sich vor allen gegen das hier gewählte Verfahren.“ Obwohl die Arbeit der Mindestlohnkommission über viele Jahre lang positiv bewertet wurde, sei „im Rahmen einer Wahlkampfkampagne“ eine bestimmte Lohnhöhe politisch vorgegeben worden. Dies sei ein erheblicher Eingriff in die Tarifautonomie und in die konsensual gefundenen Entscheidungen der Mindestlohnkommission.

Unsicher, so Kampeter, sei man mit Blick auf die Beschäftigungswirkung. Es gebe einen Kipppunkt für den Mindestlohn, ab dem eine starke negative Beschäftigungswirkung zu erwarten sei. Diesen Kipppunkt in der aktuellen Krise ausloten zu wollen, sei falsch, befand er.

Überbietungswettbewerb befürchtet

Der Handelsverband Deutschland (HDE) lehne die Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns unmittelbar durch den Gesetzgeber ebenfalls ab, sagte HDE-Vertreter Steven Haarke. Damit werde ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen, der den gesetzlichen Mindestlohn zum Spielball der Politik werden lasse.

Es sei zu befürchten, dass ein entsprechender Überbietungswettbewerb der Parteien fortan die Wahlkämpfe zu den Bundestagswahlen prägen werde, sagte Haarke.

„Angemessen und verfassungskonform“

Professor Dr. Raimund Waltermann von der Universität Bonn hält die Neuregelung für „angemessen und verfassungskonform“. Der Einwand, das geplante Gesetz konterkariere die Entscheidung der Mindestlohnkommission, die den Mindestlohn zum 1. Juli 2022 auf 10,45 Euro festgelegt hat, verfange nicht, urteilte er. Der Gesetzgeber dürfe an der Mindestlohnkommission vorbei gestalten.

Die Erhöhung ist nach Auffassung von Professor Dr. Gerhard Bosch von der Universität Duisburg-Essen ein richtiger und fälliger zweiter Schritt, „nachdem im ersten Schritt der Mindestlohn niedrig angesetzt wurde“. Das Hauptproblem in der Zukunft sei aber, dass der aktuelle Anpassungszeitraum für den Mindestlohn von zwei Jahren angesichts hoher Inflationsraten nicht akzeptabel sei. „Da hängt man zu lange hinterher“, sagte Bosch und forderte eine Verkürzung auf ein Jahr.

Kritik an Ausweitung der Geringfügigkeitsgrenze

Die geplante Ausweitung der Geringfügigkeitsgrenze bei Minijobs auf 520 Euro und die Kopplung an die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns, lehnte der Politikwissenschaftler Frederic Hüttenhoff von der Universität Duisburg-Essen ab. In der Praxis kämen bei Minijobs die eigentlich verpflichtenden arbeits- und tarifrechtlichen Regelungen, wie etwa die Entgeltfortzahlung, bezahlter Mindesturlaub oder Elternzeit „nicht oder nur begrenzt zur Anwendung“. Gesetzesverstöße seien „eher die Regel als die Ausnahme“.

Außerdem entfalteten Minijobs „starke Klebeeffekte“ und erschwerten sowohl für Beschäftigte als auch für Unternehmen systematisch Übergänge in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, sagte Hüttenhoff.

„Minijobs sind wichtig für den Arbeitsmarkt“

Aus Sicht von Peggy Horn von der Minijob-Zentrale bei der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See sind Minijobs hingegen „wichtig für den Arbeitsmarkt“. Sie verdrängten keine sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen sondern führten zu einer Reduzierung der Schwarzarbeit.

Durch neue Geringfügigkeitsgrenzen sei im Übrigen auch keine Zunahme von Minijobs zu erwarten, wie die Vergangenheit gezeigt habe, sagte Horn.

Reform zum Abbau geringfügiger Beschäftigung gefordert

Durch die Reform würden Beschäftigungsverhältnisse im unteren Teilzeitbereich und insbesondere geringfügige Beschäftigungsverhältnisse im Vergleich zum Status quo attraktiver, befand Bernd Fitzenberger, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).

Mit der Koppelung der Minijob-Grenze an die Entwicklung des Mindestlohns drohten eine Stärkung der geringfügigen Beschäftigung und eine Vergrößerung der mit dem Minijob-Arrangement verbundenen Probleme, sagte er. Es brauche daher eine Reform zum Abbau statt zur Ausweitung der geringfügigen Beschäftigung.

Forderung nach Absenkung der Geringfügigkeitsgrenze

Die Arbeitnehmerkammer Bremen begrüße die Erhöhung des Mindestlohns, sehe aber die Anhebung der Geringfügigkeitsgrenze von 450 Euro auf 520 Euro und ihre dynamische Anpassung an die künftige Höhe des Mindestlohns „aus arbeitsmarktpolitischer Sicht kritisch“, sagte Carsten Sieling. Er plädierte ebenfalls für eine perspektivische Absenkung der Geringfügigkeitsgrenze und die Abschaffung der Steuer- und Abgabenprivilegierung der geringfügigen Beschäftigung als Nebentätigkeit.

Durch die Mindestlohnanhebungen im Jahr 2022 entkoppelt sich laut Christoph Schröder vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln der Mindestlohn spürbar von der allgemeinen Tariflohndynamik. Allein im Jahr 2022 ergäben sich Steigerungen von 22,2 Prozent. Damit nähere sich der Mindestlohn einer kritischen Grenze, die den Arbeitsmarkt herausfordern werde „und zweifellos wirtschaftliche Auswirkungen auf die Güterpreise und auf die Unternehmensgewinne haben wird“, gab er zu bedenken.

Gesetzentwurf der Bundesregierung

Die Bundesregierung will den für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geltenden Mindestlohn zum 1. Oktober 2022 einmalig auf einen Bruttostundenlohn von zwölf Euro erhöhen. Zudem soll sich künftig die Geringfügigkeitsgrenze an einer Wochenarbeitszeit von zehn Stunden zu Mindestlohnbedingungen orientieren. Mit der Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns soll sie auf 520 Euro monatlich erhöht und dynamisch ausgestaltet werden. Zugleich will die Bundesregierung Maßnahmen treffen, die die Aufnahme einer sozialversicherungsrechtlichen Beschäftigung fördern und verhindern helfen, „dass Minijobs als Ersatz für reguläre Arbeitsverhältnisse missbraucht werden“. Dazu werde die Möglichkeit eines zulässigen unvorhersehbaren Überschreitens der Entgeltgrenze für eine geringfügig entlohnte Beschäftigung gesetzlich geregelt.

Die Höchstgrenze für eine Beschäftigung im Übergangsbereich soll nach dem Willen der Bundesregierung von monatlich 1.300 Euro auf 1.600 Euro angehoben werden. Damit will sie eine weitergehende Entlastung von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten mit geringem Arbeitsentgelt erreichen. Durch die Regelungen zur Anhebung des Mindestlohns entstünden für die öffentliche Hand zusätzliche Kosten durch erforderliche Anhebungen von Löhnen und Gehältern von geschätzt rund 4,41 Millionen Euro im Jahr 2022 und von rund 14,9 Millionen Euro pro Jahr ab dem Jahr 2023, schreibt die Bundesregierung. Soweit durch das Gesetz eine Anhebung der Arbeitsentgelte erforderlich werde, komme es bei den betroffenen Arbeitgebern zu höheren Lohnkosten von geschätzt rund 1,63 Milliarden Euro im Jahr 2022 und zu geschätzt rund 5,63 Milliarden Euro im Jahr 2023. Als Folge der Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns könnten sich zudem bei vollständiger Überwälzung der Lohn- und Gehaltssteigerungen die Preise für Güter und Dienstleistungen moderat erhöhen. Eine Quantifizierung dieses Effekts sei jedoch nicht möglich. (che/eis/hau/16.05.2022)

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