Letzte Spuren der Original-Quadriga im Mauer-Mahnmal geben Rätsel auf
Der Ort ist historisch und das Objekt, mit dem die Gipskunstformer der Staatlichen Museen zu Berlin (SMB) sich seit knapp zwei Jahren vor den Augen der Öffentlichkeit beschäftigt haben, ist es auch: Die Rekonstruktion des Gipsmodells der Quadriga vom Brandenburger Tor im Mauer-Mahnmal des Deutschen Bundestages. Nun kommt diese Kooperation der Gipsformerei der SMB, des Landesdenkmalamtes Berlin und des Deutschen Bundestages zu einem, zumindest vorläufigen, Abschluss: In der 2020 eigens im Mauer-Mahnmal eingerichteten Schau-Werkstatt präsentierten Christoph Rauhut, Landeskonservator Berlin, Miguel Helfrich, Leiter der Gipsformerei der SMB, und Dr. Andreas Kaernbach, Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages, am Donnerstag, 27. Oktober 2022, die Ergebnisse.
Rekonstruktion der Viktoria und eines Pferdes
„Fertig geworden sind wir nicht“, stellte Andreas Kaernbach fest. Aber was die Gipskunstformer geschaffen haben, mache das Mauer-Mahnmal zum aktuell bildmächtigsten Ort der Stadt. Die Rekonstruktion der Viktoria und eines Pferdes aus dem Vierergespann zeugen davon. Aus teils tausenden Fragmenten, erläutert Kaernbach, seien die Gipsmodelle zusammengesetzt worden. Für Miguel Helfrich und seine Mitarbeiter bleibt es nach wie vor ein Rätsel, wie die Gipsmodelle ursprünglich überhaupt entstanden sind. Vermutet werde, dass die Nationalsozialisten aus Sorge vor der Zerstörung der Quadriga Gipsformer auf das Brandenburger Tor geschickt hätten, um dort eine Abformung vorzunehmen, erklärt Helfrich.
Wie dies im Einzelnen bewerkstelligt worden sei, vor allem mit Blick auf die Mengen an Gips, die man benötigt habe, liege im Dunkeln, so der Gipskunstformer Farhad Burg. Sicher sei, dass eine Nacht-und-Nebel-Aktion dafür nicht ausgereicht habe. Tarnnetze, unter denen gearbeitet worden sei, seien eine Theorie. Aber letztlich bestehe Forschungsbedarf, um diese Frage zu klären.
„Ein Pferd tanzt aus der Reihe“
Ein weiteres Rätsel gibt das dritte Pferd von links im Vierergespann den Gipskunstformern auf. So sei bei den Arbeiten deutlich geworden, dass die vier Pferde nicht gleich aussähen. „Ein Pferd tanzt aus der Reihe“, erläutert Burg. Wenn man vor der Quadriga stehe, falle auf, dass das dritte Pferd kleiner sei, eine plattere Mähne habe, mehr nach vorne strebe als die anderen drei und alles in allem nicht die Handschrift Johann Gottfried Schadows trage, der die Quadriga 1792 erschaffen hatte. Eine mögliche Erklärung ergebe sich aus den Rechnungen eines Restaurators in Paris, der Teile der Quadriga repariert hatte, nachdem Napoleon sie 1806/1807 nach Frankreich hatte bringen lassen. Dass ein Pferd ausgetauscht worden sei, sei letztlich nur eine Vermutung, und dieser nachzugehen, eine Aufgabe für die Wissenschaft.
Mit den Gipsmodellen, so Helfrich, habe man die letzten Spuren der Original-Quadriga vor Augen. Sie seien eine Bestandsaufnahme der im Zweiten Weltkrieg stark beschädigten und 1950 endgültig vom Brandenburger Tor entfernten Urfassung, und wie ein analoger Speicher der Zeitgeschichte. Für den Berliner Landeskonservator Rauhut steht die Quadriga für deutsch-deutsche Bedeutungsgeschichte. Dieses Projekt dürfe deshalb auch nicht enden, befand er und betonte zugleich, dass mit der Sicherung der Modelle ein wichtiger Schritt gemacht sei. Weitere werden ein Dokumentationsband sowie eine Ausstellung sein, die im Frühjahr 2023 im Mauer-Mahnmal eröffnet werden und die Arbeit an den Modellen und die Erkenntnisse dokumentieren sollen.
Berlins berühmtestes Bildwerk
Die Quadriga ist Berlins berühmtestes Bildwerk, weltweit bekannt als Symbol des wiedervereinigten Deutschlands. Weniger bekannt sind sein Schöpfer, Johann Gottfried Schadow (1764-1850), der Begründer der Berliner Bildhauerschule des Klassizismus, und die wechselvolle Geschichte der Skulptur. In ihr spiegeln sich Höhen und Tiefen nicht nur der preußischen und deutschen Geschichte. Seit dem Fall der Berliner Mauer wurden die Quadriga und das Brandenburger Tor zum Sinnbild des Freiheitswillens der Menschen in aller Welt. Umso notwendiger ist es, ein solches Kulturgut von internationaler Bedeutung zu bewahren und zu schützen. (nt/27.10.2022)