Egils Levits: Demokratie darf nicht hilflos sein
Der Staatspräsident der Republik Lettland, Dr. h. c. Egils Levits, hat dazu aufgerufen, die Widerstandsfähigkeit des demokratischen Verfassungsstaates zu stärken. „Die Demokratie darf nicht hilflos sein“, sagte Levits in seiner Gedenkrede während der zentralen Gedenkveranstaltung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge zum Volkstrauertag am Sonntag, 13. November 2022. Die Gedenkstunde unter der Schirmherrschaft von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas stand im Zeichen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der gemeinsamen Erinnerung an die deutsch-lettische Geschichte.
An der Gedenkstunde nahmen neben der Bundestagspräsidentin und Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier, der das Totengedenken sprach, auch Bundesratspräsident Dr. Peter Tschentscher, Verteidigungsministerin Christine Lambrecht in Vertretung von Bundeskanzler Olaf Scholz, die Vizepräsidentin des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Doris König und die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Dr. Eva Högl, teil.
„Deutsche Vergangenheitsbewältigung ein globales Vorbild“
Levits erinnerte an die Stürme des 20. Jahrhunderts, die in Deutschland besonders heftig gewesen und zu Millionen Toten und zum Holocaust geführt hätten. Deutschland habe sich der Verantwortung für diese gewältgeprägte Geschichte nicht entzogen, sondern „tiefe Reue“ für die Verbrechen der Nationalsozialisten gezeigt. Die deutsche Gesellschaft sei bereit, fortwährend über die Vergangenheit nachzudenken und Bezüge zur Gegenwart herzustellen, sagte Levits.
Ohne diese Vergangenheitsbewältigung wäre es der Bundesrepublik nach seinen Worten nicht möglich gewesen, ein demokratisches Land aufzubauen und hätte Deutschland nicht die Achtung der internationalen Völkergemeinschaft wiedererlangt. Ohne sie gäbe es auch keine Europäische Union „wie wir sie kennen“, so Levits. Die deutsche Vergangenheitsbewältigung sei zu einem globalen Vorbild geworden, an der man die Geschichtspolitik anderer Staaten messen könne. Russland sei ein „krasses Gegenbeispiel“.
„Sondertribunal zur Aufarbeitung des Angriffskrieges einsetzen“
Levits erinnerte daran, dass Lettland im Zweiten Weltkrieg unter deutscher und später sowjetischer Besatzung ein Drittel seiner Bevölkerung verloren habe. Durch seine „schonungslose Aufarbeitung“ der Geschichte habe Deutschland ein festes Fundament demokratischer Werte aufgebaut. „Die Wahrheit würde die Fundamente der autokratischen Herrschaft erschüttern“, sagte Levits mit Blick auf Russland und erinnerte an die Angriffe auf Georgien 2008 und die Ukraine 2014 bis hin zum „Totalangriff“ am 24. Februar 2022. Levits zitierte den US-Historiker Timothy Snyder, wonach Russland auf Thesen der Nationalsozialisten zurückgegriffen habe, dass die Ukraine keine Geschichte, keine Sprache und keine Elite habe.
Das Nürnberger Tribunal als Schlusspunkt der NS-Ideologie habe den Angriffskrieg zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Recht erklärt. Ein Zurückfallen hinter diese Standards des Völkerrechts darf es nach den Worten Levits nicht geben. Der Internationale Gerichtshof und der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hätten bereits begonnen, spezifische Aspekte der russischen Verbrechen zu untersuchen. „Ich unterstütze die Idee, ein Sondertribunal zur Aufarbeitung des russischen Angriffskrieges einzusetzen, juristisch ist das möglich“, sagte der lettische Staatspräsident.
„Werteunion eine Verpflichtung für die Zukunft“
Die Geschichte zeigt aus seiner Sicht, dass die politische und institutionelle Schwäche der Demokratie zu Krieg und Gewalt führen kann. Das Wichtigste sei daher die „Werteunion“. Die Werte der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte unterschieden die Demokratie von anderen Modellen. Die Werteunion bedeute eine Verpflichtung für die Zukunft: „Wir müssen gebührend in unsere Verteidigung investieren und solidarisch mit denen sein, die für unsere Werte kämpfen“, hob Levits hervor. Die Mitgliedschaft in der EU nannte er „eine Art Gütesiegel“, das nicht entwertet werden dürfe.
Levits schloss mit den Worten: „Heute trauern wir um die Opfer von Krieg und Gewalt und um diejenigen, die in der Ukraine und anderswo Krieg und Gewalt zum Opfer fallen. Nie wieder Angriffskrieg, nie wieder Völkermord, Freiheit und Demokratie sind es wert, geschützt zu werden.“
Schneiderhan: Gedenken notwendiger denn je
Der Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, General a. D. Wolfgang Schneiderhan, sagte eingangs, mit „Nie wieder Krieg“ habe man gedacht, eine Selbstverständlichkeit auszusprechen. Jetzt sei die Ukraine wieder Opfer, wie im Zweiten Weltkrieg gehe es um die Vernichtung eines Volkes und das Auslöschen eines Staates. „Unser Gedenken an die Weltkriegsopfer ist aktueller und notwendiger denn je“, betonte Schneiderhan. Es gehe darum, die Toten nicht zu vergessen und als Mahnung an die Lebenden zu verstehen. Jeder Krieg schlage auf seine Verursacher zurück.
Für Schneiderhan ist es kein Zufall, dass die lettische Republik in der ersten Reihe derer steht, die die Ukraine unterstützen und Russland entschieden begegnen: „Die Letten wissen, wie wichtig die europäische Solidarität ist.“ Wenn ein Aggressor erfolgreich sei, plane er neue Eroberungen. „Wird ein friedliches Miteinander von Ukrainern und Russen wieder möglich sein?“, fragte er. „Wir wissen, wie schwierig und langwierig ein Prozess der Versöhnung ist.“ Voraussetzung der Versöhnung sei gewesen, dass „wir uns mit unserer eigenen Vergangenheit auseinandergesetzt haben, uns zu eigener Schuld bekannt haben“.
Lesung und musikalischer Rahmen
Die Lesung mit „Stimmen der Erinnerung aus Lettland und Deutschland“ gestalteten Rozīte Katrīna Spīča, Leiterin des lettischen Landesbüros im Jugendwerk der Deutschbaltischen Studienstiftung in Riga, Kristians Feldmanis, Kadett der lettischen Luftwaffe und Student der Ingenieurswissenschaften an der Universität der Bundeswehr in Hamburg, Jan Schillmöller, Doktorand der Rechtswissenschaften an der Technischen Universität München und stellvertretender Vorsitzender des Bundesjugendarbeitskreises, der Jugendorganisation des Volksbundes, und Almut Möller, Staatsrätin und Bevollmächtigte der Freien und Hansestadt Hamburg beim Bund, der Europäischen Union und für auswärtige Angelegenheiten sowie Vertreterin Hamburgs im Deutschen Riga-Komitee.
Die Gedenkstunde wurde musikalisch umrahmt vom Hamburger Knabenchor unter Leitung von Luiz de Godoy und dem Musikkorps der Bundeswehr unter Leitung von Oberstabsfeldwebel Matthias Reißner. Auf das Totengedenken foltgen die Gedenkminute, das lettische Totensignal „Junda“, vorgetragen von Solotrompeter Oberfeldwebel Normunds Katais-Peglis vom Orchester der Lettischen Nationalgarde sowie das deutsche Totensignal „Der gute Kamerad“, vorgetragen von Solotrompeter Hauptfeldwebel Patrick Lorbach vom Musikkorps der Bundeswehr in Siegburg. Die Gedenkstunde endete mit der Europahymne und der Nationalhymne. (vom/13.11.2022)