Wirtschaftliche Zusammenarbeit

Experten mahnen Ausbau sozialer Sicherungssysteme im Globalen Süden an

Der Ausbau sozialer Sicherungssysteme in den Ländern des Globalen Südens kann Sachverständigen zufolge Armut, Hunger und soziale Ungleichheiten effektiv reduzieren und sei daher eine lohnende Investition auch für Länder mit mittlerem und niedrigem Einkommen. Die Finanzierungslücken vor allem in Niedrigeinkommensländern seien jedoch erheblich, betonten sie am Mittwoch, 29. März 2023, in einer öffentlichen Anhörung des Entwicklungsausschusses. Die Abgeordneten wollten in der Sitzung vor allem klären, wie verbreitet soziale Sicherungssysteme in den betreffenden Ländern sind, welche Auswirkungen sie haben, wie sie auf- und ausgebaut werden können und welche Rolle dabei der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sowie globalen Finanzierungsmechanismen zukommt.

Idee eines internationalen Finanzierungsinstruments

Weltweit hätten weniger als 30 Prozent der schutzbedürftigen Menschen Zugang zu einer wirksamen sozialen Sicherung, etwa einer Krankenversicherung oder einer Kindergrundsicherung, erklärte Arthur van de Meerendonk, Associate Professor an der United Nations Universität in Maastricht sowie an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. In einigen Niedrigeinkommensländern in Afrika, Asien und dem Pazifikraum seien es sogar weniger als zehn Prozent. „Ein Sozialversicherungssystem können sich diese Länder nicht leisten“, sagte der von der SPD-Fraktion benannte Sachverständige. Sie seien auf internationale Hilfe angewiesen, müssten aber auch eigene, politische Prioritäten setzen.

Van de Meerendonk unterstützte die Idee eines internationalen Finanzierungsinstruments, wie es seit längerem von UN-Menschenrechtsexperten und zivilgesellschaftlichen Gruppen gefordert wird. Dieses könnte unter dem Dach des 2021 vom UN-Generalsekretär Antonio Guterres vorgeschlagenen “Global Accelerator on Jobs and Social Protection for Just Transitions” eingerichtet werden.

„Soziale Sicherungssysteme können Länder stabilisieren“

Esther Schüring, Professorin für Systeme der sozialen Sicherheit an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (benannt durch die Fraktion Die Linke) betonte, es gebe mittlerweile eine „fantastische Evidenzbasis“ über die positiven Effekte sozialer Sicherung. Bedenken von Kritikern, die Empfänger würden beispielsweise mehr Alkohol konsumieren und sich keine Arbeit mehr suchen, seien längst widerlegt. Tatsächlich sei der Aufbau sozialer Sicherungssysteme eine Investition in mehr Wirtschaftskraft, eine höhere Krisenresilienz, bessere Gesundheit, Bildung und größere Arbeitsmarkterfolge.

„Soziale Sicherungssysteme tragen außerdem zur Befriedung unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen bei und können Länder somit stabilisieren“, sagte Schüring, die es begrüßte, dass die internationalen Bemühungen in dem Bereich zugenommen hätten. Deutschland könne hier eine noch größere Rolle spielen.

„Es darf keinen Export unseres Modells geben“

„Soziale Sicherung wirkt“, konstatierte Ralf Radermacher, Leiter des Globalvorhabens „Innovation und Lernen in der sozialen Sicherung“ der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Sie stärke die lokale Wirtschaft und wirke gerade im ländlichen Raum wie ein Konjunkturprogramm.

Zwar sei im Zuge der Pandemie und weltweiter Preisschocks eine massive Ausweitung sozialer Sicherungsmaßnahmen zu beobachten, berichtete der von der FDP-Fraktion benannte Sachverständige. Allerdings seien dies meistens temporäre Maßnahmen, denen kein systematischer Ausbau folge. „Hier muss die Staatengemeinschaft ansetzen und die Instrumente stärken, damit die multiplen Krisen nicht zu noch mehr Verwerfungen führen“, sagte Radermacher. Deutschland, betonte er, sei hierbei ein geschätzter Partner und leiste im Rahmen seiner finanziellen Zusammenarbeit bereits eine wichtige Anschubfinanzierung. Wie die anderen Sachverständigen stellte er klar, dass Ausgestaltung und Implementierung der Systeme Sache der Länder sei. „Die Partner müssen entscheiden. Es darf keinen Export unseres Modells geben.“

„Viele Menschen wurden nicht erreicht“

Florian Juergens-Grant vom Globalen Netzwerk „Women in Informal Employment. Globalizing and Organizing (WIEGO) legte das Augenmerk besonders auf die im informellen Sektor Beschäftigten. Dies seien weltweit zwei Milliarden Menschen – 61 Prozent aller Erwerbstätigen der Welt und 70 Prozent der Erwerbstätigen in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen. Ihr Armutsrisiko und insbesondere das von Frauen sei um ein Vielfaches höher, sagte der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen benannte Sachverständige.

Die Tatsache, dass sie in der Regel keinerlei Zugang zu sozialen Sicherungssystemen hätten, habe in der Covid 19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen gehabt. „Viele Menschen wurden nicht erreicht. Das war eine Katastrophe.“ Eine wichtige Lehre daraus sollte sein, die Systeme vor einer Krise aufzubauen, „und nicht erst, wenn sie da ist“, betonte Juergens-Grant.

„Nur im Einklang mit nationalen Anstrengungen“

Annette Niederfranke, Direktorin der der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), benannt durch die CDU/CSU-Fraktion, bezeichnete den weltweiten Finanzbedarf als „immens“. Internationale Unterstützung, zum Beispiel in Form des angedachten Global Accelerators, sei daher „essentiell“. Ziel sei es dabei nicht, neue Abhängigkeiten zu schaffen, „sondern die Länder in die Lage zu versetzen, sozialen Schutz dauerhaft und eigenverantwortlich herbeizuführen“.

Dafür müssten diese auch ihre Einnahme- und Steuerbasis verbessern und entsprechende administrative Strukturen schaffen. „Internationale Hilfe kann nur im Einklang mit nationalen Anstrengungen und Reformen bereitgestellt werden“, stellte Niederfranke klar.- (joh/29.03.2023)

Zeit: Mittwoch, 29. März 2023, 10.30 Uhr bis 13 Uhr
Ort: Berlin, Jakob-Kaiser-Haus, Sitzungssaal 1.302

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