Geschichte

Vor 175 Jahren: Verfassungsgebende Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche

Erste Sitzung der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. - Holzstich, koloriert, um 1890, nach zeitgen. Zeichnung von Vantadour.

Erste Sitzung der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche am 18. Mai 1848. (picture-alliance / akg-images)

Vor 175 Jahren, am 18. Mai 1848, kamen in der Frankfurter Paulskirche die gewählten Vertreter des ersten gesamtdeutschen Parlaments zu ihrer ersten Arbeitssitzung zusammen. Die Deutsche Nationalversammlung hatte sich zuvor im Kaisersaal des Frankfurter Römers konstituiert. Hauptaufgabe der Parlamentarier sollte, wie es der Präsident der Nationalversammlung Heinrich Freiherr von Gagern (1799-1880) in seiner Antrittsansprache am 19. Mai formulierte, die Schaffung einer Verfassung für Deutschland und der deutschen Einheit sein: „Wir sollen schaffen eine Verfassung für Deutschland, für das gesamte Reich. Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung, sie liegen in der Souveränität der Nation.“

Allgemeine und gleiche Wahlen

Nach dem revolutionären Aufstand in Paris im Februar 1848 war es auch in den Staaten des Deutschen Bundes zu Aufständen gekommen. Die Demonstrierenden gingen für eine Veränderung der herrschenden Machtverhältnisse, die Gewährung von Grund- und Freiheitsrechten und die nationale Einheit auf die Straßen. Nach blutigen Straßen- und Barrikadenkämpfen und unter dem Druck der revolutionären Verhältnisse gaben die Monarchen nach und machten der von breiten Schichten getragenen Bewegung wesentliche Zugeständnisse. Die Zensur wurde aufgehoben, politische Aktivitäten zugelassen und reformbereite Regierungen ernannt. Auch der Einberufung einer Nationalversammlung zur Errichtung eines deutschen Nationalstaats stimmten sie zu.

Von Mitte April bis Mitte Mai 1848 wählten die Bürger in allen deutschen Staaten ein gemeinsames Parlament. Wahlberechtigt waren nach einem Beschluss des sogenannten Vorparlaments nach einem allgemeinen und gleichen Mehrheitswahlrecht alle volljährigen selbständigen Männer. Frauen durften nicht wählen. Die gesetzlich vorgesehene Mitgliederzahl des Paulskirchenparlaments betrug 649 Abgeordnete; aufgrund von Wahlboykotten waren es jedoch lediglich 587 Parlamentarier.

Vorläufer der heutigen Fraktionen

Abgeordnete mit ähnlichen politischen Zielen oder Weltanschauungen schlossen sich in sogenannten Klubs zusammen. Die Vorläufer der heutigen Fraktionen erwiesen sich als nützlich, um, zur Vorbereitung der Arbeit in Plenum und Ausschüssen, anstehende Fragen zu beraten oder das weitere Vorgehen abzustimmen. Im Parlament setzen sich diese Abgeordneten jeweils als ein Block zusammen. Je nachdem wo die Abgeordneten dieser Klubs, vom Rednerpult aus gesehen, saßen, nannte man sie politisch links oder politisch rechts.

Die nach den jeweiligen Tagungslokalen benannten Klubs repräsentierten maßgebliche politische Strömungen der Zeit: Die monarchistische Rechte (Steinernes Haus, Café Milani) setzte sich für die Wahrung der Vorrechte der Einzelstaaten und der Monarchen ein. Die verschiedenen liberalen Gruppierungen des sogenannten rechten und linken Zentrums (Casino, Augsburger Hof, Landsberg, Pariser Hof, Württemberger Hof) befürworteten eine föderal strukturierte, konstitutionelle Monarchie mit einem Parlament und einem erblichen Kaiser als Staatsoberhaupt. Die Fraktionen der demokratischen Linken (Deutscher Hof, Donnersberg, Nürnberger Hof, Westendhall) forderten die Errichtung einer auf dem Prinzip der Volkssouveränität gründenden parlamentarisch-demokratischen Republik.

Verabschiedung der Grundrechte

Unter großem öffentlichem Interesse begann die Nationalversammlung bereits eine Woche nach ihrer Konstituierung die Arbeit mit der ihr dringlichsten Aufgabe, der Erarbeitung der „Grundrechte des Deutschen Volkes“ und setzte am 24. Mai mit großer Mehrheit einen Verfassungsausschuss ein. Am 3. Juli begannen mit der ersten Lesung des Ausschussentwurfs die Beratungen der Grundrechte.

Der Sprecher des Ausschusses, der Jurist Dr. Carl Georg Christoph Beseler (1809-1888), begründete die Entscheidung: „Wir konnten die Sache von oben her anfangen, wir konnten uns zuerst beschäftigen mit den Spitzen der höchsten Gewalt, mit der Konstituierung der Zentralgewalt, mit ihrer Organisation. Allein auch ein anderer Ausweg stand uns offen: Wir konnten auch damit anfangen, die tieferen Schichten des öffentlichen Lebens zu erfassen, die Rechte festzustellen, die dem ganzen Volke und dem Einzelnen im Volke zukommen. Ihr Ausschuss hat sich nun zu dem Beschluss vereinigt, mit der Feststellung dieser Rechte – wir haben sie Grundrechte genannt – zu beginnen.“

Die „politische Einheit, die wir jetzt anstreben“ sollte „auch ihre Wirkung äußern müssen auf die staatsbürgerlichen Rechte der Deutschen“ und „wir wollen jetzt aus dem herauskommen, was uns der Polizeistaat der letzten Jahrhunderte gebracht hat. Wir wollen den Rechtsstaat auch für Deutschland begründen“, sagte Beseler.

Persönliche und politische Freiheitsrechte

Die zweite Lesung der Grundrechte fand am 19. und 20. Dezember statt. Nach nur zwei Lesungen beschlossen die Parlamentarier in ihrer 141. Sitzung, am 21. Dezember 1848, mit der Verabschiedung des Einführungsgesetzes den Grundrechtskatalog, der als Kernelemente die Gleichheit aller vor dem Gesetz, die Aufhebung aller Standesvorrechte, die Gewährleistung persönlicher und politischer Freiheitsrechte (wie Meinungs-, Presse-, Religions-, Versammlungs- und Gewerbefreiheit, Vereinsrecht, Freizügigkeit und so weiter) sowie die Abschaffung der Todesstrafe enthielt.

Auch die Unverletzlichkeit des Eigentums, die Freiheit der Person, das Briefgeheimnis, die Freiheit von Wissenschaft und Lehre und das Petitionsrecht gehörten neben weiteren Rechten dazu. Mit einigen Änderungen wurden diese Grundrechte in die Reichsverfassung vom 28. März 1849 aufgenommen (Abschnitt VI, Paragrafen 130 bis 189).

Staatenhaus und Volkshaus

Am 27. März 1849 verabschiedete die Frankfurter Nationalversammlung in ihrer 195. Sitzung die „Verfassung des Deutschen Reiches“. Die nur einen Tag später, am 28. März 1849, verkündete Reichsverfassung sollte einen föderalen deutschen Einheitsstaat konstituieren, dem mit Ausnahme des Kaisertums Österreich alle Staaten des Deutschen Bundes angehörten (kleindeutsche Lösung). Sie sah einen erblichen Kaiser als Staatsoberhaupt vor, der auch das Recht zur Einsetzung der Regierung hatte.

Dem Reichstag, der sich aus einem Staatenhaus und einem demokratisch zu wählenden Volkshaus zusammensetzte, oblagen vor allem die Gesetzgebung, das Budgetrecht und die Kontrolle der Exekutive. Die zentrale Frage der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament blieb offen und sollte später geregelt werden.

Einklagbare Grundrechte

Das Reichsgericht (Judikative), sollte unabhängig von Reichstag (Legislative) und Reichsregierung (Exekutive) Recht sprechen.

Die Nationalversammlung führte nicht nur die Gewaltenteilung ein; beim Reichsgericht (Abschnitt V) sollte der einzelne Staatsbürger, vergleichbar mit der heutigen Verfassungsbeschwerde, seine verfassungsmäßigen Rechte selbst durchsetzen können. Das Reichsgericht war unter anderem auch zuständig für Streitigkeiten zwischen den Verfassungsorganen.

Vorbildfunktion für spätere Verfassungen

Am 3. April 1849 lehnte der von der Nationalversammlung zum „Kaiser der Deutschen“ gewählte preußische König Friedrich Wilhelm IV. das ihm angetragene Amt unter Berufung auf seine im Gottesgnadentum begründete monarchische Legitimation ab.

Die Bemühungen der Nationalversammlung um eine Verfassung und die Errichtung eines deutschen Nationalstaats waren damit gescheitert. Dadurch verloren sowohl das Einführungsgesetz vom 27. Dezember 1848 als auch die Reichsverfassung ihre Gültigkeit.

Anerkennung durch einige Bundesstaaten

Zwar hatten in einer Note vom 14. April 1849 28 Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes (Abschnitt IV, Artikel 2, Paragraf 87) ihre Anerkennung der Reichsverfassung erklärt, Ende April und Anfang Mai waren Württemberg, Sachsen und die bayerische Rheinpfalz gefolgt. Auch die preußischen Kammern hatten sich für die Anerkennung ausgesprochen. Trotzdem wurde die Verfassung nie eingeführt.

Der preußische König ließ am 27. April 1849 die Erste Kammer vertagen und die Zweite Kammer auflösen. Mit einer Depesche vom 28. April ließ er definitiv die Verwerfung der Reichsverfassung erklären.

Scheitern der Reichsverfassung

Die Nationalversammlung forderte daraufhin die deutschen Regierungen, Parlamente und Gemeinden auf, die Verfassung alsbald in Kraft zu setzen und nach ihr zu verfahren, insbesondere die vorgesehenen Wahlen durchzuführen, konnte sich damit jedoch nicht durchsetzen. In der Folge verließen viele Abgeordnete die Nationalversammlung, entweder weil sie von ihren Regierungen zurückberufen wurden oder weil sie die Einführung der Verfassung als gescheitert ansahen. Im Juni wurde die übrige Versammlung gewaltsam aufgelöst.

Die „Verfassung des Deutschen Reiches“ trat zwar nie in Kraft, war aber Vorbild für alle späteren deutschen Verfassungswerke und schuf die Grundlagen für den Parlamentarismus in Deutschland. (klz/12.05.2023)

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