1. Untersuchungsausschuss

Aufnahmeverfahren für Ortskräfte war lange umstritten

Luftbild von Kabul im Winter mit verschneiten Bergen am Horizont

Der Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. (picture alliance / EPA | STRINGER)

Laut dem Leiter des Referats, das im Auswärtigen Amt (AA) für Visavergabe und Einzelfälle verantwortlich ist, ist das Ortskräfteverfahren (OKV) bis kurz vor dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan erfolgreich praktiziert worden. In den Monaten vor dem Fall Kabuls am 15. August sei außerdem intensiv darüber diskutiert worden, ob es auch in Krisensituationen tauglich wäre, sagte er vor dem 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) des Bundestages am Donnerstag, 28. September 2023. Dieser untersucht den Zeitraum vom 29. Februar 2020 - dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban - bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Grundlage des OKV sei Paragraf 22 des Aufenthaltsgesetzes gewesen, der auch eine Einzelfallprüfung vorsehe, um Sicherheitsrisiken zu vermeiden, führte der AA-Mitarbeiter aus. Das OKV sei aber in der deutschen Öffentlichkeit als sehr langwieriges und zu strenges Verfahren angesehen worden.

Zeuge: BMI stellte sich gegen Visa-on-Arrival-Verfahren  

Sein Referat habe ab April 2021 in den Ressortbesprechungen immer wieder darauf hingewiesen, dass Einzelfallprüfungen im Falle einer Krise und einer großen Anzahl von Gefährdungsanträgen schwierig geworden wären. Daher habe es vorgeschlagen, ein Alternativszenario vorzubereiten, in dem für die Evakuierung der Ortskräfte ein anderes Verfahren auf Grundlage von Paragraph 23 des Aufenthaltsgesetzes angewandt worden wäre, das sogenannte Visa-on-Arrival-Verfahren (VoA). Dieser Vorschlag sei jedoch von allen anderen Ressorts, vor allem vom Bundesinnenministerium (BMI), abgelehnt worden. Sie hätten die Risiken eines solchen Verfahrens betont, erinnerte sich der Zeuge. Für das BMI seien es Sicherheitsrisiken gewesen. Aber die Rede sei nicht von unbekannten Personen gewesen, sondern von Menschen, mit denen man zusammengearbeitet habe, betonte der Zeuge. 

Mit dem VoA-Verfahren wären die Antragsteller in Gruppen nach Deutschland gekommen und die Sicherheitsprüfung hätte erst dort stattgefunden. Ein weiteres Gegenargument sei gewesen, dass bei einem solchen Verfahren eine Massenflucht zu befürchten gewesen wäre und die afghanische Regierung das nicht wolle. Diese Argumente haben man zur Kenntnis nehmen müssen, sagte der Zeuge.

Optimierung des Ortskräfteverfahrens

Man habe sich dann einvernehmlich darauf geeinigt, das vorhandene Ortskräfteverfahren zu optimieren. Sein Referat habe dabei eigene Erfahrungen eingebracht. Es habe viele Beschwerden über das OKV gegeben, sagte der AA-Mitarbeiter. Die Afghanen hätten zu diesem Zeitpunkt schon unter schweren Bedingungen gelebt. Viele Antragsteller hätten gesagt, dass sie ihren Arbeitgebern die geforderten Dokumente gegeben hätten und man sie dort holen könne. „Das war ein sinnvoller Vorschlag“, befand der Zeuge. „Die Landschaft“ sei jedoch „komplex“ gewesen, es habe sehr viele Arbeitgeber gegeben.

Dennoch seien die Ortskräfte der Bundeswehr durch eine herausragende Zusammenarbeit mit der Bundeswehr und dem BMI mit Visa ausgestattet worden. Für alle anderen Ortskräfte habe man eine Lösung mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) angestrebt. 

„Weg über Generalkonsulat in Istanbul gescheitert“

Der Zeuge führte weiter aus, sein Referat habe auch dieses Verfahren kritisch gesehen. Denn die IOM habe täglich zehn Anträge bearbeiten können. Doch es habe gut funktioniert, weil die Zahl der Anträge anfänglich gering gewesen sei. Der Versuch, die Pässe der Menschen, deren Anträge von der IOM bearbeitet worden waren, zum Generalkonsulat in Istanbul zu bringen und dort Visa auszustellen, sei gescheitert. Die afghanische Regierung habe das mit dem Argument verhindert, die Pässe seien Eigentum des afghanischen Staates und könnten nicht außer Landes gebracht werden.

Das zweite Ziel, anschließend die Anträge der noch nicht berücksichtigten Ortskräfte zu bearbeiten, habe man nicht erreichen können. Davon seien hauptsächlich Mitarbeiter des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) betroffen gewesen. Laut dem Zeugen habe das BMZ argumentiert, dass diese Menschen nicht gekämpft, sondern Aufbauarbeit geleistet hätten. Da diese nicht gefährdet seien, bräuchten sie auch kein solches Verfahren.

Kontroverse über „Saigon-Szenario“

Der Zeuge erinnerte sich, dass es schließlich einen klaren Auftrag gegeben habe, ein Alternativszenario vorzubereiten. Dieses Szenario sei am Anfang „Saigon-Szenario“ genannt worden und weiterhin umstritten gewesen. Je schlechter die Lage vor Ort wurde, desto mehr sei aber auch das BMI bereit gewesen, bei diesem Alternativszenario mitzumachen.

Auf Arbeitsebene habe es um dieses Szenario bis zum Zusammenbruch der afghanischen Regierung Mitte August eine sehr kontroverse Diskussion gegeben, berichtete der Zeuge. Der Minimalkonsens sei gewesen, dass es dazu eine politische Entscheidung geben müsse. Diese sei erst am „krisenhaften Wochenende“ - gemeint ist die Eroberung der afghanischen Hauptstadt Kabul durch die Taliban am 15. Und 16. August 2021 - im Krisenstab auf Ministerebene gefallen. Danach sei zum Visa-on-Arrival-Verfahren übergangen worden. 

Drei Listen mit Aufnahmeanträgen aus Afghanistan

Im zweiten Teil der Sitzung haben die Abgeordneten eine weitere Zeugin aus dem Auswärtigen Amt sowie einen Zeugen aus dem Bundesnachrichtendienst (BND) angehört. 

Die erste Zeugin hat im Untersuchungszeitraum das Referat 508, verantwortlich unter anderem für humanitäre und Asylangelegenheiten, beim Auswärtigen Amt geleitet. Ihr zufolge ist das Referat in das Ortskräfteverfahren (OKV) nur teilweise eingebunden gewesen. An dem Wochenende im August 2021, als die Taliban Kabul eroberten, habe es die Aufnahmegesuche von Ortskräften aus Afghanistan bearbeitet und an das Bundesinnenministerium geschickt.

Die AA-Mitarbeiterin sagte weiter, insgesamt hätten im August drei Listen mit Aufnahmeanträgen aus Afghanistan existiert: eine Ortskräfteliste, die von jeweiligen Ministerien geführt worden sei, eine Menschenrechtsliste, für die ihr Referat die Verantwortung getragen habe, und ein Sammelpostfach. In Letzterem seien alle Anfragen von Nichtregierungsorganisationen sowie von Einzelpersonen aus Deutschland eingegangen, die Menschen helfen wollten, mit denen sie in Afghanistan zusammengearbeitet hatten.

Namen nach Berufen kategorisiert

Ihre Aufgabe sei es gewesen, die Namen auf diesen Listen nach Berufen zu kategorisieren und den zuständigen Referaten im AA zur Plausibilitätsprüfung weiterzuleiten, führte die Beamtin aus. Danach mussten die durch die Referate bestätigten Namen wiederum in einer Liste zusammengeführt und täglich an das BMI weitergeleitet werden. Die Zahl der Anfragen sei in diesen Tagen so hoch gewesen, dass die Bearbeitung eine enorme Herausforderung dargestellt habe. betonte sie. Dass manche Namen aus verschiedenen Kanälen mehrfach eingereicht worden seien und die Qualität der Informationen nicht immer gut gewesen sei, habe die Arbeit erschwert.

Die Fachreferate hätten die Abfragen schnell geprüft, aber dennoch „sehr stark geguckt, ob die Kriterien stimmten“. Darauf habe auch das BMI geachtet. Wenn beispielsweise 20 Familienangehörige angemeldet wurden, habe es genauer geprüft und gegebenenfalls Nachweise von den einreichenden NGOs angefordert.

Das Ziel dieser Liste sei gewesen, dass die Personen dann auch eine Zusage vom BMI bekommen. Dafür sei mit dem Ministerium zuvor ein Ortskräfteverfahren (OKV) mit bestimmten Rahmenbedingungen ausgehandelt worden. So hätten die Antragsteller einen Deutschlandbezug haben müssen, sie mussten also entweder für eine deutsche Institution, ein von Deutschland unterstütztes Projekt oder als Journalist für deutsche Medien gearbeitet haben. Außerdem sei nur die Kernfamilie für eine Aufnahmezusage in Frage gekommen. Volljährige Kinder seien damit ausgeschlossen gewesen, was den Antragstellern aber bekannt gewesen sein soll. Außer diesem Personenkreis hätten der Referatsleiterin zufolge, auch Menschen eine Zusage erhalten, an denen Deutschland „ein außenpolitisches Interesse“ habe.

Thesenpapier zum Aufnahmeverfahren

Die Menschenrechtsliste sei täglich aktualisiert an das BMI weitergeleitet und am 31. August 2021 durch eine Entscheidung auf Ministerebene geschlossen worden, sagte sie weiter. Damals sei ein Thesenpapier diskutiert worden, das zwei Alternativen für das weitere Vorgehen beinhaltet habe. Die erste habe vorgesehen, dass weiterhin mit Listen und auf der Grundlage des Paragraphs 23 des Aufenthaltsgesetzes mit Visa-on-Arrival gearbeitet werde. Alternativ sei diktuiert worden, zum alten Einzelfallverfahren zurückzukehren. Die zweite Option sei gewählt worden. 

Die Referatsleiterin hat außerdem über die Rolle ihres Referats bei der Zusammenstellung des Asyllageberichtes berichtet, das wichtig für Asyl- und Rückführungsentscheidungen sei. Es sei dabei federführend gewesen, erklärte sie. Im Falle Afghanistans habe das BMI an Abschiebungen festgehalten. Sie hätten den Asyllagebericht am 11. oder 12. August aktualisiert, aber nach den Ereignissen am 15. hätten sie von vorne anfangen müssen.

Zeuge sollte Personaleinsatz planen und realisieren

Zum Schluss trat ein ehemaliger Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes und Oberst a.D. in den Zeugenstand. Der heute pensionierte ehemalige Soldat war im Untersuchungszeitraum stellvertretender Leiter eines Regionalreferats, das unter anderem auch für Afghanistan zuständig ist. Ihm zufolge sei sein Referat in Afghanistan für die Aufklärung und Beschaffung von Informationen zuständig gewesen. Er sollte den Personaleinsatz planen, vorbereiten und realisieren. Die Unterzeichnung des Doha-Abkommens am 29. Februar 2020 zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban habe eine wesentliche Lageänderung bedeutet. Man habe neu bewerten müssen, ob der BND seinen Auftrag noch erfüllen könne. 

Der ehemalige BND-Mitarbeiter unterstrich, die Aufgabe seines Referats sei nie gewesen, mögliche zukünftige Entwicklungen zu bewerten. Im Frühjahr 2020 jedoch, zur Zeit der Covid-Pandemie, hätten einige Mitarbeiter intern vorgeschlagen, Prognosen zu erstellen. Das Ergebnis sei ein Szenario gewesen, das sie Emirat 2.0 getauft hätten. Zu diesem Zeitpunkt sei innerhalb der Nato noch nicht klar gewesen, ob die internationalen Truppen aus Afghanistan abziehen würden oder nicht. Das Szenario Emirat 2.0 habe prognostiziert, dass die Taliban am Ende das ganze Land kontrollieren würden. Das sei unter allen Szenarien das wahrscheinlichste gewesen, urteilte der Zeuge. (crs/29.09.2023)

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