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Wadephul: Wir müssen in der Nato mehr denn je geeint handeln

Dr. Johann Wadephul, CDU/CSU, spricht an einem Rednerpult.

Johann David Wadephul, Vorsitzender der deutschen Delegation zur Parlamentarischen Versammlung der Nato (Nato PV). (© DBT/Marco Urban)

Angesichts der neuen Lage im Nahen Osten braucht es jetzt politische Kraft, in der Solidarität mit der Ukraine nicht zu wanken. Das sei der einhellige Tenor bei der Jahresversammlung der Parlamentarischen Versammlung der Nato (NATO PV) vom 6. bis 9. Oktober 2023 in Kopenhagen gewesen, berichtet Dr. Johann David Wadephul (CDU/CSU), Leiter der Delegation des Deutschen Bundestages zur Nato PV. Die politischen, militärischen und finanziellen Kapazitäten der Nato-Mitgliedstaaten würden künftig immer stärker gefordert. Die Mitglieder müssten jetzt politisch geeint auftreten, die vereinbarten finanziellen Mittel zur Verfügung stellen und die Modernisierung der militärischen Fähigkeiten „ernsthaft in Angriff“ nehmen. Vor was für Herausforderungen das Bündnis konkret steht und welche Erwartungen dabei auf Deutschland ruhen, darüber spricht der CDU-Verteidigungspolitiker im Interview. Das Interview im Wortlaut: 

Herr Dr. Wadephul, unmittelbar vor ihrer Haustür hat die Nato durch die russische Invasion der Ukraine ein anhaltendes, gravierendes Sicherheitsproblem. Viele fragen sich: Warum kann das stärkste Militärbündnis der Welt  das freilich militärisch nicht direkt angegriffen wurde und nicht in den Krieg involviert ist  dieses Problem nicht rasch lösen? Welche neuen Vorschläge kursieren unter den Parlamentariern? Was ist der Plan?

Die Nato beziehungsweise ihre Mitgliedstaaten haben schon sehr viel getan, um die Ukraine zu unterstützen. Machen wir uns nichts vor: Es ging über Monate darum, den russischen Ansturm zu stoppen. Da haben die vielen Lieferungen aus dem Westen der Ukraine definitiv sehr geholfen. Worum es jetzt geht, ist der Ukraine zum Sieg zu verhelfen. Das ist schon sehr viel komplexer und ein Vorhaben über einen längeren Zeitraum. Hier gilt es, dass der Westen, die Nato nicht wankt. Angesichts der neuen Lage im Nahen Osten braucht es jetzt politische Kraft, in der Solidarität mit der Ukraine nicht zu wanken. Das war auch Thema und dann einhelliger Tenor in Kopenhagen. 

Der Nato-Gipfel von Vilnius im Juli wollte ein starkes Signal Richtung Moskau und für eine Modernisierung des Bündnisses senden. Ist das gelungen?

Das ist definitiv gelungen. Vilnius hat letztendlich in drei Fragen eine starke Nachricht gesendet: in der Frage der Verteidigung, der Abschreckung und hinsichtlich der sicherheitspolitischen Zukunft der Ukraine. Die Nato ist geschlossen geblieben und konnte sich auf wegweisende Entschlüsse einigen. Allein der Beschluss, die zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung zukünftig nicht als Ziel, sondern als Ausgangspunkt zu sehen, hat sicherheitspolitisch langfristige Folgen. Denn damit ist klar, dass das Bündnis seine Modernisierung und den Wiederaufbau seiner militärischen Fähigkeiten, nach den Jahrzehnten des Sparens und Schrumpfens, ernsthaft in Angriff nimmt. Und Fähigkeiten sind nun mal das A und O von Verteidigung und Abschreckung. 

Eine von der Versammlung angenommene Resolution befasst sich im Nachgang zu den Vilnius-Beschlüssen der Staats- und Regierungschefs damit, die Nato „an die neuen Gegebenheiten“ anzupassen. Was für Schritte wird das konkret bedeuten?

Grundsätzlich ging es in Vilnius darum, das neue strategische Konzept vom Sommer 2022 operativ umzusetzen. Mit dem neuen Konzept ist es der Nato im letzten Jahr gelungen, in weniger als sechs Monaten strategisch eine Antwort auf die neue Bedrohung durch Russland, die fortbestehenden Herausforderungen durch vielfältige Krisen an der Peripherie des Bündnisses und den Aufstieg Chinas zu finden. In Vilnius ging es natürlich primär um Russland und damit um die Ostflanke. Simpel gesagt steuert die Nato nach 20 Jahren der Priorität der Einsätze „out of area“ wieder um auf Verteidigung des Bündnisgebietes. Dafür braucht es neue Strukturen und neue Pläne. Alles das wurde über Monate vorbereitet und in Vilnius von den Mitgliedern beschlossen. 

Eine weitere Resolution wurde angenommen zur „neuen Abschreckung und Verteidigung der Nato“. Was sind dabei die wichtigsten Punkte?

Zentral ist hier das „New Force Model“ der Nato. Kern dieser künftigen Kräftestruktur ist die Bereitstellung von 800.000 Soldatinnen und Soldaten für die Nato mit umfangreichen Fähigkeiten in verschiedenen, jedoch grundsätzlich höheren Einsatzbereitschaften als jetzt. Sehr praktisch mit klarer Zuweisung von regionalen Verantwortlichkeiten und Unterstellungen. Ferner hat die Nato eine Reihe von regionalen Abwehrplänen entwickelt, um vor allem an der Ostflanke – vom Norden Lapplands bis zum Schwarzen Meer – jederzeit handeln zu können. Mit dem Beschluss in Vilnius haben die Mitgliedstaaten die Bereitschaft erklärt, die Pläne mit Fähigkeiten zu unterfüttern. 

Die Nato hat in den letzten Jahren, über das rein Militärische und über die reine Landesverteidigung hinaus, einen immer umfassenderen Sicherheitsbegriff verinnerlicht. Welche Gefahren muss die Allianz vorrangig in den Blick nehmen?

Das ist zum einen die schon länger von der Nato beackerte Dimension des Cyberraums. Hier ist viel passiert, gerade auch in der Nato und von der Nato vorangetrieben, doch das reicht nicht aus. Hier müssen alle Staaten am Ball bleiben. Das zweite Feld ist das der hybriden Bedrohungen. Da hat der russische Angriff auf die Ukraine, der begleitet war von hybriden Maßnahmen, nochmals unterstrichen, wie wichtig es ist, hier Antworten parat zu haben. Und dann ist da auch die Dimension Weltraum. Außer den USA spielt hier eigentlich kein weiteres Nato-Mitglied in der Oberliga der Weltraummächte Russland, China, Indien wirklich mit. Die Komplexität und die Kosten von Weltraumprogrammen laden dazu ein, sehr viel gemeinsam zu machen. 

Wie stark steigen die Belastungen für Deutschland als großem Bündnispartner? 

Sehr, sehr viele Augen richten sich derzeit auf Deutschland. Als Land in der geographischen Mitte Europas, als größte Volkswirtschaft Europas und bevölkerungsreichstes Land erwarten unsere Bündnispartner, dass wir dementsprechend unseren Beitrag in der Nato leisten. Derzeit tun wir das nicht, das muss man selbstkritisch attestieren. Weder erreichen wir das von uns 2014 zugesagte Zwei-Prozent-Ziel, noch ist es so, dass wir eine angemessen große und ausgestattete Bundeswehr unterhalten. Mit der Verkündung der „Zeitenwende“ durch Bundeskanzler Olaf Scholz ist diese Erwartung noch gestiegen. In Deutschland muss uns klar sein, dass wir „liefern“ müssen, um uns nicht politisch völlig zu blamieren. 

Hat der russische Angriff auf die Ukraine bei der Nato Überlegungen zu weiteren Integrationsschritten ausgelöst? 

Schon seit Gründung der Nato gibt es die Diskussion um eine faire Lastenteilung, was im Grunde heißt, dass die Europäer mehr tun müssen, um die USA zu entlasten. In den Achtzigerjahren waren wir da schon recht gut, derzeit aber tragen die USA deutlich mehr als den Löwenanteil. Das ist nicht nur nicht fair, sondern angesichts der Frage, ob die USA zukünftig sich mehr dem indo-pazifischen Raum widmen müssen, auch von imminent strategischer Bedeutung für uns Europäer. Wir müssen mehr Lasten schultern, indem wir mehr Fähigkeiten aufbauen. Das kann nur gelingen, wenn wir europäischen Nato-Staaten wirklich einen europäischen Pfeiler bilden. Dazu müssen wir mehr kooperieren und unsere vielen einzelnen Investitionen besser bündeln.

Welche Bestandteile der Ukraine-Unterstützung sollten von den einzelnen Mitgliedsländern, ob koordiniert oder unkoordiniert, geleistet werden und wo sollte das Bündnis als Organisation stärker auf den Plan treten?

Die Nato ist nicht am Krieg in der Ukraine beteiligt und keiner ihrer Mitgliedstaaten. Die militärische Hilfe, die geleistet wird, erfolgt national durch die einzelnen Mitgliedstaaten. Die Nato wirkt nur koordinierend. Zugleich aber gibt die Nato natürlich den einzelnen Mitgliedstaaten die nötige Sicherheit, um die völkerrechtliche Unterstützung der Ukraine leisten zu können, ohne sich von Russland erpresst oder unter Druck gesetzt zu fühlen. Wo die Nato aber als Gesamtorganisation eine Rolle spielt, ist die Frage der zukünftigen Sicherheit der Ukraine. Hier hat die Nato in Vilnius ein wichtiges Signal gesendet: Die Zukunft der Ukraine liegt in der Nato. 

Wurde der Ukraine, die eine Mitgliedschaft in der Nato anstrebt, kurzfristig ausreichend Unterstützung zugesprochen, die über Symbolhaftes hinausgeht?

Mit dem Nato-Ukraine-Rat hat die Nato ein Gremium geschaffen, dessen Bedeutung man nicht unterschätzen sollte. Denn in diesem Gremium sitzen nicht 31 Vertreter von Nato-Staaten der Ukraine gegenüber, sondern die Ukraine sitzt gleichberechtigt mit am Tisch. Das gibt der Ukraine ganz andere Möglichkeiten, ihre Punkte zu adressieren, und der gegenseitige Austausch kann eine ganz andere Tiefe und Vertrautheit erlangen. Ferner wurden – und das ist kurzfristig militärisch von Relevanz – der Ukraine durch eine Vielzahl von Mitgliedstaaten umfangreiche militärische Hilfspakete zugesagt, nicht zuletzt von Deutschland. Angesichts der Intensität der Gefechte schon seit Monaten braucht die Ukraine diese materielle Unterstützung dringender denn je. 

Russland und dessen nach Europa getragener Krieg erhält momentan die volle Aufmerksamkeit der Nato. Geraten da nicht andere globale Herausforderungen aus dem Blick? 

Während der Tagung der Nato-Parlamentarierversammlung in Kopenhagen kamen die Nachrichten vom großangelegten Terrorangriff der Hamas auf Israel. Und plötzlich drohten die wichtigen Fragen zur Ukraine völlig aus dem Blickwinkel zu geraten. Also eher war der Effekt umgekehrt als Sie ihn in Ihrer Frage vermuten. Aber es deutet sich mehr und mehr an, dass die politischen, militärischen und finanziellen Kapazitäten der Nato-Mitgliedstaaten immer weiter gefordert werden. Quasi in allen Himmelsrichtungen. Das könnte absehbar zu einer Überforderung führen. Deswegen müssen wir in der Nato alles unternehmen, um so schnell wie möglich unsere militärischen Fähigkeiten zu verbessern und auszubauen und politisch mehr denn je geeint zu agieren. (ll/14.10.2023)

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