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Hagedorn: Europa muss Verantwortung für eigene Sicherheit tragen

Bettina Hagedorn, Mitglied des Deutschen Bundestages, SPD

Bettina Hagedorn (SPD) ist Leiterin der deutschen Delegation zur Herbsttagung der Interparlamentarischen Konferenz über Stabilität, wirtschaftspolitische Koordinierung und Steuerung in der Europäischen Union (SWKS). (© picture alliance / photothek | Felix Zahn)

In der Solidarität mit der von Russland angegriffenen Ukraine haben sich die Mitgliedstaaten der EU weiterhin einig gezeigt, sagt Bettina Hagedorn (SPD). Und zwar auch, wenn „dies für die nationalen Haushalte bedeutet, in Zukunft mehr Mittel für Verteidigung zu bewilligen“, so die Leiterin der deutschen Delegation zur Herbsttagung der Interparlamentarischen Konferenz über Stabilität, wirtschaftspolitische Koordinierung und Steuerung in der Europäischen Union (SWKS), die vom 26. bis 27. Oktober 2023 in Madrid stattgefunden hat.

Zusätzliche Ausgaben kämen der Abfederung der verschiedenen Krisen sowie dem Gelingen der digitalen und grünen Transformation in Europa zugute. Im Interview spricht die SPD-Haushaltspolitikerin über die globalen Herausforderungen für den europäischen Wirtschaftsraum, die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und plädiert für „transparente und verständliche Fiskalregeln, die den Mitgliedstaaten möglichst viel Spielraum bei der Erreichung der gesetzten Ziele für wirtschaftliche Stabilität ermöglichen“. Das Interview im Wortlaut:

Frau Hagedorn, wie wurde der nunmehr bald zwei Jahre andauernde Krieg gegen die Ukraine und seine Auswirkungen auf Wirtschaft und Haushalte der EU-Mitglieder beim SWKS-Treffen diskutiert?

Klar ist, dass die Europäische Union weiterhin solidarisch an der Seite der Ukraine steht. Leider hat die Slowakei am 26. Oktober angekündigt, dass sie nur noch bereit ist, humanitäre Hilfe für die Ukraine zu leisten und keine Waffenlieferungen mehr. Ähnliches hört man bedauerlicherweise auch aus Ungarn. Ansonsten bleibt die Einigkeit groß, dass die Ukraine weitere Unterstützung erhält, solange es nötig ist. Allen ist bewusst, dass dies für die nationalen Haushalte bedeutet, in Zukunft mehr Mittel für Verteidigung zu bewilligen. Wir leben in einer Zeit, in der Europa volle Verantwortung für die eigene Sicherheit tragen muss. Das gilt auch ganz besonders, seitdem am 7. Oktober 2023 der terroristische Anschlag der Hamas auf Israel in der Folge die drohende Eskalation im Nahen Osten provoziert hat. Auf der SWKS-Konferenz wurde betont, dass sich die europäische Wirtschaft trotz Corona-Pandemie und des russischen Angiffskrieges, trotz Energiekrise und Inflation insgesamt stabil entwickelt hat, dass aber eigene nationale Anstrengungen ebenso wie Solidarität innerhalb der EU angesichts dieser Krisen zwingend erforderlich sind.

Die Verschuldung wächst in zahlreichen Ländern wieder an. Ein Grund zur Beunruhigung?

Nein, denn diese erhöhten Schuldenstände sind eindeutig auf die erforderlichen Gegenmaßnahmen aller Staaten als Antwort auf die Corona-Pandemie und die Folgen des Überfalls auf die Ukraine zu bewerten. Es ist ökonomisch falsch, in solchen Krisen zu sparen, weswegen überall mit Konjunktur- und Rettungsprogrammen Arbeitsplätze gesichert und Unternehmen gestützt wurden. Nicht zuletzt wurde auch auf europäischer Ebene 2020 in der Deutschen Ratspräsidentschaft mit NextGenerationEU das größte Solidarpaket von 750 Milliarden Euro in der Geschichte der EU beschlossen, das natürlich zu erhöhten Schuldenständen führt, aber wesentlich für nationale Investitionen und das Gelingen der digitalen und grünen Transformation in Europa ist. Natürlich müssen diese Schuldenstände mittelfristig reduziert werden für ein nachhaltiges europäisches Wirtschaftswachstum.

Was für Maßnahmen empfehlen die Parlamentarier zur Stabilisierung der europäischen Volkswirtschaften und des Binnenmarktes?

In vielen Wortbeiträgen wurden die großen Herausforderungen thematisiert, denen sich die EU stellen muss und auf die wir gemeinsame Antworten finden müssen, um nicht den Anschluss an die innovativen Zentren der Welt zu verlieren: die wirtschaftliche Abhängigkeit von China, die geopolitische Instabilität, die notwendigen Investitionen in die grüne und digitale Transformation und mögliche Auswirkungen einer stärker protektionistisch agierenden USA. Der große Binnenmarkt, die gut ausgebildeten Fachkräfte, soziale Sicherheit und die wettbewerbsfähigen Unternehmen sind große Stärken des europäischen Wirtschaftsraums, die wir fördern und weiter ausbauen müssen. Elementare Voraussetzung für die industrielle Wettbewerbsfähigkeit Europas sind tragfähige Energiepreise. Dafür muss der Ausbau der erneuerbaren Energien europaweit energisch forciert werden.

Bevor der wegen der Corona-Pandemie ausgesetzte Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) 2024 wieder in Kraft gesetzt wird, soll das Regelwerk reformiert werden. Was muss aus deutscher Sicht genau passieren und ist der Zeitplan realistisch?

Es ist ein ambitioniertes Ziel, das Regelwerk noch so kurz vor den EU-Wahlen 2024 reformieren zu wollen, da es derzeit noch große Unstimmigkeiten in Detailfragen zwischen den Mitgliedstaaten gibt. Deutschland setzt sich für verständliche und transparente Fiskalregeln ein, die einen realistischen und überprüfbaren Abbau der nationalen Schuldenstände garantieren. Gerade angesichts des aktuellen Hochzinsniveaus spüren wir auch in den öffentlichen Haushalten in Deutschland deutlich, dass enorme Schulden zu enormen Zinslasten führen und die Investitionsfähigkeit für die Zukunft einschränken. Allerdings müssen diese Regeln es auch ermöglichen, politisch und solidarisch auf künftige Krisen zu reagieren. Elementar ist aber, dass die reformierten Fiskalregeln tatsächlich um- und durchgesetzt werden können.

Wie lässt sich der doppelte Spagat zwischen Regeln für alle und nationalen Besonderheiten einerseits sowie notwendigen Investitionen und haushälterischer Bescheidung und Schuldenabbau andererseits meistern?

Gute Fiskalregeln sollten antizyklisch wirken und in guten wirtschaftlichen Zeiten die Bildung von fiskalischen Puffern ermöglichen, damit in schlechten Zeiten gegengesteuert werden kann. Einfach gesagt: mit transparenten und verständlichen Fiskalregeln, die den Mitgliedsstaaten möglichst viel Spielraum bei der Erreichung der gesetzten Ziele für wirtschaftliche Stabilität ermöglichen. Dies auf europäischer Ebene bei den 27 unterschiedlichen Systemen in Einklang zu bringen, ist ein sehr schwieriger Balanceakt. Ich bin gespannt auf das Endergebnis der Verhandlungen dazu im Ministerrat. Dies wird uns sicherlich Aufschluss darüber geben, wie eine mögliche Antwort auf diese sehr komplexe Frage aussehen kann. 

Was sagen die nationalen Parlamente, die ja Inhaber des Haushaltsrechts sind, dazu, dass im Reformvorschlag der EU-Kommission das bislang maßgebliche und sanktionsbewehrte mittelfristige Haushaltsziel und der ausgeglichene oder einen Überschuss aufweisende Haushalt im sogenannten „präventiven Arm“ des SWP keine Erwähnung mehr finden?

Dazu gibt es natürlich unterschiedliche Sichtweisen: insbesondere Mitgliedstaaten mit hohen Schuldenständen begrüßen diesen Vorschlag, während die Bundesregierung diesen Weg als problematisch bewertet. Deswegen plädiert Deutschland dafür, die Beibehaltung der Referenzwerte von drei Prozent Defizit am Bruttoinlandsprodukt und 60 Prozent Schuldenquote festzuschreiben. Es soll aus deutscher Sicht auch keine Änderungen beim Defizitverfahren bei einer Überschreitung des Drei-Prozent-Kriteriums geben.

Die spanische Präsidentschaft möchte die „Europäische Säule Sozialer Rechte“ im Rahmen der wirtschafts- und finanzpolitischen Stabilisierung stärken. Was sind dabei für Sie die wichtigsten Punkte und was könnte zeitnah erreicht werden?

Bereits während der Pandemie haben wir 2020 auf europäischer Ebene nicht nur mit dem Wiederaufbaufonds NextGenerationEU mit 750 Milliarden Euro den europäischen Staaten anhand fester Bedingunsgen für Investitionen in digitale und grüne Projekte die Chance gegeben, massiv zu investieren und die Wirtschaft zu stärken. Nein, schon damals haben wir mit 100 Milliarden Euro maßgeblich auf deutsche Initiative das Programm „Sure“ beschlossen, das die Folgen der Krise für die Menschen sozial abgefedert hat – häufig in Form vergleichbar mit unserem Kurzarbeitergeld. Als Parlamentarische Staatssekretärin im Finanzministerium von Olaf Scholz habe ich in dieser Zeit in Brüssel hautnah erleben können, wie sehr gerade dieses Programm „Sure“ von den EU-Staaten als Akt der Solidarität verstanden und genutzt wurde. Unternehmen, die von EU-Geldern profitieren, stehen in der Verantwortung, langfristig gute Arbeitsplätze in Europa sicherzustellen, damit faire Löhne und Arbeitsbedingungen, hohe soziale Standards und eine gelebte Sozialpartnerschaft langfristig in Europa verankert bleiben. (ll/06.11.2023)

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