Daniela De Ridder: Wir können Konflikte nur ganzheitlich lösen

Daniela De Ridder (SPD), Vizepräsidentin der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und Mitglied der deutschen Delegation zur OSZE PV (© DBT/Thomas Trutschel/photothek)
Am 7. Oktober jährte sich die Terrorattacke auf Israel, die russische Aggression in der Ukraine dauert an. „Angesichts von Krisen, Terror und Krieg wird die OSZE PV stärker gebraucht denn je“, sagte Dr. Daniela De Ridder (SPD), Vizepräsidentin der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE PV) und Mitglied der deutschen Delegation zur OSZE PV nach deren Herbsttagung, die vom 2. bis 4. Oktober 2024 in der irischen Hauptstadt Dublin stattgefunden hat.
Im Interview unterstreicht die Außenpolitikerin den Anspruch der OSZE-Parlamentarier, den Dialog zwischen Konfliktparteien zu fördern, um politische Lösungen zu finden und humanitäre Krisen zu verhindern und erklärt, wie das Ad-hoc-Komitee für Migration die mit Migration verbundenen Risiken in den Griff bekommen und Chancen besser nutzen will. Das Interview im Wortlaut:
Frau Dr. De Ridder, Tagesordnung hin oder her: Die Eskalation im Nahen und Mittleren Osten war das beherrschende aktuelle Thema der diesjährigen Herbsttagung. Die OSZE geht auf die Entspannungspolitik der 1970er Jahre zurück. Wird die Organisation und ihre Versammlung angesichts der aktuellen Konflikte rund um Europa dringender denn je als Dialogforum gebraucht?
In der Tat hat der Krieg im Nahen und Mittleren Osten unsere Herbsttagung überschattet. Angesichts der aktuellen Konflikte rund um Europa ist die Rolle der OSZE PV in Europa als Dialogforum dringlicher denn je. Wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen unsere internationalen Kommunikationskanäle intensiv pflegen. Mit großem Bedauern habe ich daher die Absage der israelischen Delegation in Dublin zur Kenntnis genommen. Begrüßenswert ist allerdings, dass uns ein Sprecher der Palästinensischen Administration zugeschaltet wurde. Ich selbst bin für Gespräche nach Israel und in das Westjordanland gereist. Dabei habe ich traumatisierte Gesellschaften erlebt. Die Erfahrungen sind für mich weiterer Ansporn, die entscheidenden Stimmen an einen Tisch zu holen. Nur so können wir politische Lösungen finden und das Vertrauen zwischen den Beteiligten aufbauen. Wir müssen gemeinsam an einer nachhaltigen Friedenslösung für den Nahen Osten arbeiten.
Und das ist nicht der einzige Krisenherd in Europa, der Ihre Aufmerksamkeit beansprucht...
Neben der Eskalation im Nahen Osten beschäftigt uns auch die anhaltende Aggression des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Unsere Solidarität mit der Ukraine muss ungebrochen bleiben. Es ist entscheidend, dass die militärische und humanitäre Unterstützung hier nicht nachlässt, damit das Land seine Souveränität erfolgreich verteidigen kann. Angesichts von Krisen, Terror und Krieg wird die OSZE PV stärker gebraucht denn je. Gäbe es sie nicht, müssten wir sie wieder erfinden!
Wie war jetzt die Stimmung in der Versammlung – ein Jahr nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und angesichts der jüngsten iranischen Raketenangriffe?
Die Atmosphäre war von tiefer Besorgnis über die aktuellen Entwicklungen geprägt. Angesichts des Angriffs des Irans auf Israel und der Ausweitung des Kriegs auf den Libanon müssen wir alles daransetzen, weitere Eskalationen zu verhindern. Der Jahrestag des terroristischen Angriffs vom 7. Oktober auf die israelischen Kibbuzim und das Nova-Festival mahnt uns, dass sich immer noch mehr als 100 Geiseln in den Händen der Hamas befinden.
Können sich die Mitglieder der OSZE-Versammlung im Hinblick auf den Nahostkonflikt auf einen gemeinsamen Nenner einigen?
Innerhalb der PV gibt es ein breites Meinungsspektrum. Im Gastgeberland Irland ist die Stimmung sehr pro-palästinensisch. Selbst Unterstützer Israels hinterfragen zunehmend die Verhältnismäßigkeit der militärischen Reaktion unter Verweis auf die Genfer Konventionen und das Völkerrecht. Wir alle fordern den Schutz der Zivilbevölkerung und wollen verhindern, dass der Nahostkonflikt zu einem Flächenbrand wird. Trotz unterschiedlicher Standpunkte teilen wir in der OSZE zudem den Anspruch, den Dialog zu fördern und die humanitäre Krise zu lösen.
Der Umgang der Organisation mit Konflikten, Krisen und Kriegen und die Rolle der Parlamentarier war Thema in zwei Plenarsitzungen. Was ist dabei das Charakteristische der OSZE? Und was nehmen Sie aus der Herbsttagung an Lösungsansätzen mit?
Wir haben einen breiten Sicherheitsbegriff, der sowohl den Schutz der Menschenrechte umfasst als auch die Eindämmung und die Beendigung von Krieg und Krisen, Armut und Hunger oder politischer Verfolgung sowie die Sicherung von Wohlstand. Zunehmend gewinnen auch ökologische Fragen an Bedeutung. Weder der Krieg in der Ukraine noch jener im Nahen Osten wird sich allein militärisch lösen lassen. An dem Finden politischer Lösungen müssen sich Parlamentarierinnen und Parlamentarier mit stetigem Engagement beteiligen.
Worauf richten Sie dabei konkret Ihr Augenmerk?
Nur ganzheitlich können wir Konflikte lösen. Was bringt uns beispielsweise ein militärischer Waffenstillstand in der Ukraine, wenn gleichzeitig Menschenrechte in den besetzen Gebieten massiv verletzt werden? Wie können wir sexualisierter Gewalt, Flucht, Vertreibung und humanitären Krisen als Kriegswaffen entgegentreten? Unsere Konferenz in Dublin bestärkt mich darin, den Blick mit aller Deutlichkeit auf das Leid der Zivilbevölkerung, insbesondere in der Ukraine sowie in Israel und den palästinensischen Gebieten Gaza und Westjordanland, zu richten.
Als Vorsitzende des Ad-Hoc-Komitees für Migration befassen Sie sich in diesem Gremium mit dem Thema Migration in seiner ganzen Bandbreite und seinen Wechselwirkungen mit anderen Handlungsfeldern wie der Sicherheit, dem Klimawandel, humanitären Aspekten oder dem Bedarf an Fachkräften. Auch auf dem „Mediterranen Forum“ der Versammlung war Migrationssteuerung ein Thema. Geben Sie uns bitte einen kurzen Einblick in die Arbeit des Ad-hoc-Komitees!
Migration wird oft viel mehr als Problem denn als Chance sowohl für die Migrantinnen und Migranten als auch für die Aufnahmegesellschaft wahrgenommen. Wir hingegen haben eine globalere Sicht und möchten einen produktiven Umgang mit internationaler Mobilität im OSZE-Raum und in unseren Partnerländern bewirken. Dies gebietet allein schon der demografische Wandel in den meisten OSZE-Ländern. Daher setzen wir auf Best-Practice-Beispiele.
Worauf kommt es dabei vor allem an?
Ich betone dabei stets zwei zentrale Botschaften: Erstens dürfen nicht nur wenige Länder die Hauptlast irregulärer Migration tragen: Solidarität, Kooperation und Koordination müssen die Leitprinzipien sein. Zweitens müssen wir internationale Anstrengungen verstärken, um die Ursachen von Migration wie Kriege, politische Verfolgung, Hunger, die Auswirkungen des Klimawandels und die daraus resultierende Ressourcenknappheit zu bekämpfen.
Sie wollen die Steuerung der Migration verbessern?
Wir entwickeln Strategien, um reguläre und sichere Migrationswege zu fördern, die den Schutz der Migrantinnen und Migranten und die Bedürfnisse der Aufnahmeländer berücksichtigen. Auch fördern wir einen konstruktiven Dialog und die enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten sowie unseren Partnerländern, wie beispielsweise Marokko und Algerien, um diese Herausforderungen gemeinsam zu meistern.
Welchen Beitrag kann die Behandlung des Themas Migration im OSZE-Rahmen für eine Anwendung in Deutschland und im Hinblick auf die Debatte hierzulande leisten?
Die aktuelle Debatte besorgt mich zutiefst. Migration wird zynischerweise zur „Mutter aller Probleme“ stilisiert. Das ist sie nicht! Stattdessen müssen wir betonen, dass die internationale Mobilität ein Fakt ist und immer schon war, den wir in enger Zusammenarbeit innerhalb der OSZE gemeinsam managen können und müssen. Deutschland ist als Einwanderungsland auf Migration angewiesen. Unsere demografische Lücke manifestiert sich auf dem Arbeitsmarkt durch einen Mangel an Fach- und Arbeitskräften. Wir können diese nur durch gesteuerte und reguläre Migration schließen, müssen aber gleichzeitig auch einen Blick auf den Brain Drain, also den Verlust qualifizierter Arbeitskräfte, in den Herkunftsländern lenken.
Deutschland tut sich mit dem Thema Migration momentan eher schwer, schultert zudem eine große Last …
Gleichzeitig dürfen wir uns aber auch einmal loben: Wir haben in Deutschland humanitären Schutz für viele Geflüchtete gewährt, insbesondere aus Syrien und der Ukraine, und integrieren diese in unseren Arbeitsmarkt und in unsere Gesellschaft. Das gebietet nicht nur unsere Solidarität, sondern auch die Genfer Flüchtlingskonvention und das Völkerrecht. Das großartige zivile Engagement in der Integrationsarbeit ist beeindruckend. Für mich sind all dies Gründe, auch Deutschland als Best-Practice-Modell zu betrachten.
Sie haben in diesem Jahr als Vorsitzende des Ad-Hoc-Komitees bereits einige „Feldbesuche“ durchgeführt. Was waren Ihre wichtigsten Erkenntnisse?
Ich habe Feldbesuche nach Lampedusa in Italien, in das türkische Erdbebengebiet und nach Marokko organisiert. Auch meine Reise nach Israel und in die West-Bank möchte ich an dieser Stelle noch einmal nennen. In Zeiten globaler Krisen nimmt Migration zu. Nur mit einer wirklich nachhaltigen Behebung von Fluchtursachen können wir Fluchtbewegungen eindämmen. Im Hafen von Tanger habe ich gelernt, wie die wirtschaftliche Entwicklung durch internationale Kooperation und die Einrichtung zahlreicher Arbeitsplätze Perspektiven in den Herkunftsländern schaffen kann. Vor allem darf Migration kein Geschäftsmodell sein. Menschen werden zum Spielball von Schlepperbanden, die mit Träumen und Hoffnungen sehr viel Geld verdienen. Diese Skrupellosigkeit kennzeichnet auch Hotspots wie Lampedusa oder die Kanarischen Inseln. Die Schließung von Fluchtrouten führt allerdings nur zu Verlagerungen. Wir brauchen schnellstmöglich reguläre und sichere Wege der Migration nach Europa.
Als deutsche Delegation haben Sie ein Side Event zum Thema Wassermanagement durchgeführt. Worauf zielte diese Veranstaltung im Rahmen der OSZE PV?
Das Wassermanagement ist zu einer der drängendsten globalen Herausforderungen geworden, bedingt durch den Klimawandel und die steigende Nachfrage. Ein effektives Management der Wasserversorgung ist entscheidend für die Ernährungssicherheit, die Verhinderung von Naturkatastrophen, die Industrieansiedlung und den Umweltschutz – kurzum für unseren Wohlstand. In den vergangenen Jahrzehnten fanden Kriege um Gas und Öl statt. Heute und in Zukunft werden Kriege um Wasser geführt. Auch aus migrationspolitischer Sicht ist Präventionsarbeit entscheidend. Ich konnte Kolleginnen und Kollegen sowie Expertinnen und Experten aus Spanien, der Tschechischen Republik, Zentralasien und den Niederlanden gewinnen, um bewährte Praktiken und innovative Lösungen zu diskutieren. Auch hier gilt es über nationale Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten, denn Dürren, Überschwemmungen oder andere Naturkatastrophen machen an keiner nationalen Grenze Halt.
Welche Themen haben die Parlamentarierinnen und Parlamentarier während der Herbsttagung noch beschäftigt?
Weiterhin schauen wir auf den Kampf der mutigen Ukrainer gegen den russischen Aggressor. Die aktuellen Entwicklungen müssen wir stets im Auge behalten. Die OSZE wirkt in einem sich rapide verändernden Europa. Unser Blick richtet sich weiter auf die ehemaligen Sowjetstaaten. Diese dürfen wir nicht allein lassen. Zudem will ich mich deutlich für die Wichtigkeit der Staaten Zentralasiens stark machen. Wir müssen diese Länder noch mehr involvieren und ihre Anliegen adressieren. Selbstverständlich blicken wir jetzt auch auf die anstehenden Wahlen in zahlreichen OSZE-Teilnehmerstaaten. Die OSZE wird noch dieses Jahr Wahlbeobachtungen in Moldau, Usbekistan, Georgien und den USA durchführen. Ich selbst werde für einige Wahlbeobachtungen vor Ort sein. Insbesondere die Wahlen in den USA sind für uns von höchster Relevanz, da sie Signalwirkung für die Wahrung von Demokratie und Menschenrechten haben.
(ll/08.10.2024)