2. Untersuchungsausschuss

Zeuge sieht falsche Angaben im Vermerk der Ministerien

Akten, Unterlagen und Bücher auf dem Tisch in Vorbereitung auf die Sitzung eines Ausschusses.

Der Atomausstieg-Untersuchungsausschuss setzt seine Zeugenvernehmungen fort. (© DBT / Julia Nowak/ JUNOPHOTO)

Zeit: Donnerstag, 7. November 2024, 13 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E.800

Der gemeinsame Prüfvermerk des Bundesumweltministeriums und des Bundeswirtschaftsministeriums vom 7. März 2022, wonach ein Weiterbetrieb der deutschen Atomkraftwerke aus Gründen der nuklearen Sicherheit nicht mehr vertretbar gewesen sei, war nach Ansicht eines Zeugen fehlerhaft und vor allem politisch motiviert. Vor dem 2. Untersuchungsausschuss, der die Umstände des deutschen Atomausstiegs untersucht, erklärte Uwe Stoll, ehemaliger wissenschaftlich-technischer Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) und Mitglied der Reaktor-Sicherheitskommission, der Prüfvermerk sei inhaltlich an vielen Stellen falsch gewesen. Das hätten auch andere Kollegen in der Reaktorsicherheitskommission so gesehen, sagte Stoll am Donnerstag, 7. November 2024, in der vom Ausschussvorsitzenden Dr. Stefan Heck (CDU) geleiteten Sitzung.

Genehmigungsvoraussetzung für Kraftwerke

Auf Fragen von Abgeordneten erläuterte Stoll, es habe geheißen, dass die Betriebsgenehmigungen der noch laufenden Kernkraftwerke zum damals gesetzlich festgelegten Abschaltdatum Ende 2022 erlöschen würden und neue Betriebsgenehmigungen erforderlich seien. Das sei falsch gewesen. Erlöschen würden nur die Genehmigungen, Strom zu erzeugen. Die Einschätzung, dass ein Streckbetrieb der letzten Kraftwerke kein Mehr an Energie bringe, sei ebenfalls falsch gewesen. Auch technische Nachrüstungen seien nicht erforderlich gewesen. 

Die Einschätzung, dass erneute Periodische Sicherheitsüberprüfungen (PSÜ), die an den letzten drei Atomkraftwerken wegen der vorgesehenen Abschaltung längere Zeit nicht mehr durchgeführt worden waren, zu umfangreichen Nachrüstungen führen würden, sei falsch gewesen. Die Durchführung einer Periodischen Sicherheitsüberprüfung sei keine Genehmigungsvoraussetzung, sagte Stoll.

Zeuge: Vermerk sollte die Diskussion abwürgen

Er habe den Eindruck zu dem gemeinsamen Vermerk, dass damit eine politische Entscheidung mit sicherheitspolitischem Feigenblatt gefallen sei. Durch den Vermerk sollte die Diskussion abgewürgt werden. Er wurde bei der Befragung mit einer internen Mail aus dem Ministerium konfrontiert, in der es geheißen habe, Stoll sei ein „absoluter Atommann“. Stoll kommentierte dies mit dem Satz: „Ich habe damit kein Problem.“

Unmittelbar nach Beginn des Ukraine-Krieges sei klar gewesen, dass es Diskussionen um die Sicherheit der Energieversorgung geben würde, sagte der Zeuge. Es sei auch klar gewesen, dass es eine Diskussion um die Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke geben werde. Er habe im Umweltministerium seine Hilfe angeboten, habe aber die Auskunft bekommen, dass dies ein „politisches Minenfeld“ sei und sich die GRS besser nicht beteiligen sollte.

Sicherheit von Atomkraftwerken

Auf weitere Fragen wies Stoll darauf hin, dass die deutschen Kernkraftwerke bis zum 31. Dezember 2022 als sicher eingestuft gewesen seien. Er verstehe nicht, warum sie am 1. Januar 2023 plötzlich nicht mehr sicher gewesen sein sollten. Wenn sie unsicher gewesen seien, würde dies die gesamte Aufsicht in Deutschland in Frage stellen.

Zur Sicherheit von Atomkraftwerken allgemein sagte Stoll, jede Form der Energieerzeugung habe Risiken. Atomkraft sei eine mit Risiken behaftete Technologie wie jede andere, keine Hochrisikotechnologie. Die deutschen Anlagen hätten weiterlaufen können, sagte er. In den Niederlanden und der Schweiz würden aus Deutschland gelieferte Kernkraftwerke heute noch laufen. In den Niederlanden solle eine Betriebsverlängerung eines aus Deutschland gelieferten Kraftwerks auf 80 Jahre erfolgen. All diese Kraftwerke würden wesentlich länger betrieben als die in Deutschland.

 

Im weiteren Verlauf der Sitzung zeigte sich ein Mitarbeiter des Bundesumweltministeriums vor dem Ausschuss irritiert, dass ein großer deutscher Energiekonzern in der Debatte um die Laufzeitverlängerung der letzten drei deutschen Kernkraftwerke über das gesetzlich vorgesehene Abschaltdatum am 31. Dezember 2022 hinaus große Bedenken gegen einen Weiterbetrieb geäußert und umfangreiche Nachrüstungen der Meiler für erforderlich gehalten hatte. Die Kernkraftwerke waren durch eine Entscheidung von Bundeskanzler Olaf Scholz über das geplante Abschaltdatum hinaus bis Mitte April 2023 betrieben worden. Danach wurden die Anlagen abgeschaltet und befinden sich derzeit im Rückbau. 

Von Abgeordneten angesprochen auf die Stellungnahme des Energiekonzerns, der die Möglichkeit des Weiterbetriebs der Atomkraftwerke erheblich pessimistischer eingeschätzt hatte als der Ministeriumsbeamte in den dem Ausschuss vorliegenden Unterlagen, sagte der Zeuge, die Angaben des Konzerns zu einem sehr umfangreichen Nachrüstbedarf hätten ihn irritiert. Prüfbedarf habe er aber auch gesehen. Der Konzern hatte argumentiert, es stünden Sicherheitsüberprüfungen mit einem erwartbarem erheblichen Nachrüstbedarf an. „Den Nachrüstbedarf hätten wir so pauschal nicht formuliert“, sagte der Zeuge. 

Drei Szenarien diskutiert

Es sei nicht nachzuvollziehen gewesen, dass der Konzern den Nachrüstbedarf schon gesehen habe, ehe die Prüfungen überhaupt stattgefunden hätten. Die Sicherheitsüberprüfungen seien aber auch nicht als entbehrlich anzusehen, sagte der Zeuge. Man sei im seinem Referat im Ministerium aber nicht davon ausgegangen, dass die Anlagen als unsicher anzusehen gewesen wären.

Auf den Hinweis von Abgeordneten, dass Wirtschaftsminister Dr. Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) und dessen damaliger Staatssekretär Patrick Graichen (Bündnis 90/Die Grünen) sich in der Debatte um einen Weiterbetrieb besonders auf diese Stellungnahme des Energiekonzerns gestützt hätten, wiederholte der Zeuge, er habe das Papier für „nicht abschließend überzeugend“ gehalten. 

Der Zeuge erklärte, dass er zusammen mit zwei Referenten einen Vermerk zur Verlängerung der Laufzeiten mit Datum vom 1. März 2022 erstellt habe. Darin waren hinsichtlich des Betriebs von Kernkraftwerken in Deutschland über das Jahresende 2022 „aus technischer Sicht drei Szenarien diskutiert“ worden, die mit der Aufrechterhaltung der Nuklearsicherheit vereinbar wären. Nach Angaben des Zeugen war mit dem Vermerk keine abschließende Bewertung vorgenommen worden. 

Mit der radiologischen Notfallvorsorge befasst

Ein weiterer Zeuge, der im Umweltministerium im Jahr 2022 für Strahlenschutz zuständig war, erklärte, in der Debatte über den Weiterbetrieb der Kernkraftwerke habe seine Abteilung keine Rolle gespielt. Fragen zum Strahlenschutz seien nicht relevant gewesen. Angesichts des Ukraine-Krieges sei man mit der radiologischen Notfallvorsorge befasst gewesen. 

Es seien Szenarien von Atomunfällen bis hin zu einem Szenario des Einsatzes von Atomwaffen bedacht worden. Man habe auch den allgemeinen Notfallplan des Bundes fertiggestellt und internationalen Austausch zu Strahlenschutz-Themen gepflegt sowie für Unterstützung der Ukraine gesorgt. Die Risiken für die Atomanlagen in der Ukraine hätten ihn seinerzeit sehr stark beschäftigt, erklärte der Zeuge. 

 

Untersuchungsauftrag

Der Untersuchungsausschuss wurde am 4. Juli 2024 vom Bundestag eingesetzt und befasst sich mit den staatlichen Entscheidungsprozessen zur Anpassung der nationalen Energieversorgung an die durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine veränderte Versorgungslage.  Er hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild von den Entscheidungsprozessen sowie deren Kommunikation an den Bundestag und an die Öffentlichkeit zu verschaffen. 

Dies gilt vor allem für die Entscheidungen über einen möglichen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke. Es soll untersucht werden, welche Informationen den Entscheidungen zugrunde gelegt wurden, welche nationalen und internationalen Stellen in die Entscheidungsprozesse einbezogen wurden und ob die Einbeziehung weiterer Informationen oder Stellen sachgerecht gewesen wäre. (hle/11.11.2024)