2. Untersuchungsausschuss

Patrick Graichen: Laufzeitverlängerung ergebnisoffen geprüft

Mikrofone, Glocke, Bücher, Akten und Unterlagen auf dem Tisch in Vorbereitung auf eine Ausschusssitzung

Der Untersuchungsausschuss zum Atomausstieg setzte seine Beweisaufnahme fort. (© DBT / Julia Nowak/ JUNOPHOTO)

Zeit: Donnerstag, 19. Dezember 2024, 10.30 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal E 800

Eine mögliche Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke im Jahr 2022 sei im Wirtschaftsministerium ergebnisoffen geprüft worden. Dies erklärte Dr. Patrick Graichen, ehemaliger Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, am Donnerstag, 19. Dezember 2024, bei seiner Vernehmung im 2. Untersuchungsausschuss, der die Umstände des Atomausstiegs aufklärt. 

„Laufzeiten-Verlängerung eine von mehreren Optionen“

Sein Leitmotiv sei gewesen, die Versorgungssicherheit mit Gas, Öl und Strom in Deutschland zu gewährleisten, erklärte Graichen. Auf die Frage, ob die zu ergreifenden Maßnahmen ergebnisoffen geprüft worden seien, sagte Graichen: „Eindeutig ja.“ Zentraler Punkt sei gewesen, alle Optionen zu prüfen. Die Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke sei eine von mehreren Optionen gewesen. Wenn es notwendig gewesen wäre, „tun wir das. Das war die klare Botschaft“, sagte Graichen. 

Er erinnerte aber daran, dass die Betreiber der Kernkraftwerke erklärt hätten, dass es durch eine Laufzeitverlängerung bis zum Frühjahr keine zusätzlichen Strommengen geben werde. Das Ergebnis der Beratungen sei daher gewesen, dass der Bedarf mit Kohlekraftwerken gedeckt werden könne. 

„Die wollen das nicht“

Graichen hatte im Laufe der Diskussion um die Laufzeitverlängerung einen kritischen Vermerk des Kraftwerksbetreibers RWE als „Anmerkungen der Betreiber“ per Mail mit dem Hinweis an Umweltstaatssekretär Stefan Tidow geschickt mit der Anmerkung: „Die wollen das nicht.“ Zudem habe er angemerkt, so etwas brauche man auch von der Atomaufsicht. Auf Fragen, wie das mit der von Minister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) angekündigten ergebnisoffenen Prüfung der Laufzeitverlängerung zusammenpasse, sagte Graichen, ihm sei es dabei um eine Anmerkung der Atomaufsicht gegangen. 

Zentrale Frage für ihn sei gewesen, ob es durch eine Laufzeitverlängerung einen Nutzen für die Energiesicherheit gebe. Tidow erklärte bei seiner Vernehmung zu Graichens Mail, damit sei kein Ergebnis vorweggenommen worden. Er habe die Mail so verstanden, dass Graichen die Anmerkungen der Betreiber zur Kenntnis gegeben habe. 

„Es ging um die Versorgungssicherheit“

Weiterhin spielte in der Vernehmung ein Auftrag von Graichens Büroleiterin an Abteilungsleiter Dr. Volker Oschmann eine Rolle. Danach sollte Oschmann einen Vermerk schreiben, wie man die Versorgungssicherheit auch ohne Kernkraftwerke sicherstellen könne. Das klinge nicht nach ergebnisoffener Prüfung ohne Denkverbote, stellte der Ausschussvorsitzende Dr. Stefan Heck (CDU/CSU) fest. 

Graichen sagte dazu, es sei darum gegangen, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Es hätten sich alle mit Atomkraftwerken befasst, aber es gebe viele Möglichkeiten wie die Wiederinbetriebnahme von Kohlekraftwerken, mehr Nord-Süd-Stromleitungen und die Wiederinbetriebnahme von Biogasanlagen. Der Auftrag an Oschmann sei nicht als Verengung, sondern als Erweiterung des Auftrags insgesamt zu verstehen.

„Erhebliche Risiken bei längeren Laufzeiten“

Graichen sagte aber auch, eine Verlängerung der Laufzeiten wäre mit erheblichen Risiken verbunden gewesen. Die periodischen Sicherheitsüberprüfungen der Anlagen hätten nachgeholt werden müssen, und der Bund hätte als Quasi-Eigner der Kernkraftwerke auftreten müssen, weil die Kernkraftbetreiber von der früheren Aufgabenteilung nichts mehr hätten wissen wollen. 

Beim Thema Kohlekraftwerke hätte man erheblich einfacher agieren können. Es sei möglich gewesen, zehn Gigawatt Leistung durch die Reaktivierung von Kohlekraftwerken wiederzugewinnen. Der damalige Kenntnisstand sei gewesen, dass es durch eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke keine zusätzliche Kilowattstunde Strom geben werde. Auf Fragen nach seiner eigenen Haltung zur Kernkraft sagte Graichen, die Atomkraft habe Chancen und Risiken. Das Risiko eines GAU sei nicht vollständig auszuschließen. Deshalb habe er immer das Ziel verfolgt, eine Energieversorgung ohne Atomkraft klimafreundlich herzustellen. 

Reiter: Energieangebot hätte ausgebaut werden müssen

Dass es in der Bundesregierung auch andere Positionen zur Nutzung der Kernenergie gab, verdeutlichte Dr. Wolf Heinrich Reiter, ehemaliger Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen. Nach seiner Ansicht hätte das Energieangebot mit jeder zur Verfügung stehenden Möglichkeit ausgebaut werden müssen. Außerdem hätte der Gasverbrauch gesenkt werden müssen, um die Speicher zu füllen und damit die Abhängigkeit von Russland zu verringern. 

Diese Ziele wären nach Ansicht von Reiter mit einem Weiterlaufen der Kernkraftwerke erreichbar gewesen. Außerdem hätten das Weiterlaufen der Kernkraftwerke und die Reaktivierung bereits stillgelegter Kernkraftwerke zu einer Senkung der Strom- und Gaspreise geführt. Wenn Gas preiswerter geworden wäre, wäre auch das Auffüllen der Speicher nicht mehr so teuer geworden. Aus diesen Gründen sei das Bundesministerium der Finanzen dafür eingetreten, die letzten drei deutschen Kernkraftwerke weiterlaufen zu lassen und zwei weitere, bereits stillgelegte Kraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen. 

Staatssekretär im Untersuchungsausschuss

Der Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, Stefan Tidow, hat dem Eindruck widersprochen, dass die Leitung des Ministeriums eine Empfehlung der Fachebene zum Weiterbetrieb der Kernkraftwerke ins Gegenteil verdreht habe. Einen Widerspruch sehe er nicht. Wer den sehe, bleibe auf der Ebene der Überschriften hängen, sagte Tidow im 2. Untersuchungsausschuss. Der Staatssekretär wies in der Sitzung darauf hin, dass die Betreiber der Kernkraftwerke selbst große Schwierigkeiten für einen Weiterbetrieb der Anlagen über das gesetzlich vorgesehene Abschaltdatum zum 31. Dezember 2022 gesehen hätten.

Eine Arbeitsgruppe des Umweltministeriums hatte am 1. März 2022 einen Vermerk erstellt, in dem Szenarien aus technischer Sicht für einen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke enthalten waren. Am 3. März war vom zuständigen Abteilungsleiter ein Vermerk erstellt worden, dass ein Weiterbetrieb sicherheitstechnisch nicht vertretbar wäre. Am 7. März lehnten Umwelt- und Wirtschaftsministerium in einem gemeinsamen Vermerk unter anderem aus Gründen der nuklearen Sicherheit einen Weiterbetrieb ab. 

Voraussetzungen für einen Weiterbetrieb

Zu dem angeblichem Widerspruch zwischen dem Vermerk der Arbeitsgruppe und dem des Abteilungsleiters sagte Tidow, die Arbeitsgruppe habe nicht dargelegt, dass die nukleare Sicherheit gegeben sei. Der Vermerk der Arbeitsgruppe besage mitnichten, dass eine Laufzeitverlängerung möglich sei, sondern benenne Voraussetzungen für einen Weiterbetrieb und betrachte dabei organisatorische, logistische und sicherheitstechnische Fragen. Nicht in dem Vermerk enthaltene atomrechtliche Aspekte seien später noch eingefügt worden. Zudem sei der Beitrag der Kernkraftwerke für die Stromproduktion als gering angesehen worden.

Auf Abteilungsleiterebene sei in dem Vermerk deutlich formuliert worden, dass man gegen eine Verlängerung des Betriebs sei. Unter Sicherheitsbetrachtungen handele es sich bei einer Laufzeitverlängerung um eine Risikoerhöhung, sagte Tidow. Es sei richtig, dass sich die Atombehörde für die Sicherheit entscheide. Die Anlagen seien zwar sicher gelaufen. Wenn sie unsicher gewesen wären, wären sie nicht gelaufen. Dann hätte die Atomaufsicht sie vom Netz nehmen müssen. Trotzdem hätten die Kernkraftwerke ein Restrisiko. Dieser Sachverhalt sei auch den Ausstiegsbeschlüssen inhärent. Das Restrisiko sei bis zum 31. Dezember 2022, dem Datum des Atomausstiegs, als tragbar erschienen. Der Energieertrag bei einer Laufzeitverlängerung wirke nicht schwer genug, um das Restrisiko bei einem Betrieb über 2022 hinaus aufzuwiegen. Das sei in dem Vermerk gut dargestellt und für alle nachvollziehbar. 

Abläufe im Jahr 2022 nach dem Überfall auf die Ukraine

Zu den Abläufen im Jahr 2022 nach dem russischen Überfall auf die Ukraine und zunehmenden Sorgen wegen der Sicherung der Energieversorgung sagte Tidow, es sei eine dramatische Situation mit sehr großen Herausforderungen gewesen. Es sei immer um die Abwägung gegangen, ob ein Weiterbetrieb der Atomanlagen Sinn mache. Diese Abwägung habe sich im Laufe des Jahres aber immer wieder geändert. Wenn ein anderer Eindruck entstanden sei, liege das an sehr selektiver Zitierung aus Unterlagen und auch an falscher zeitlicher Zuordnung von Dokumenten und an Unterstellungen.

Tidow berichtete über die Besorgnis der bayerischen Staatsregierung, bei Abschaltung des Kernkraftwerks Isar 2 könne eventuell ein Blackout drohen. Das hätte eine Veränderung der Situation bedeutet. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) habe daraufhin einen Stresstest zur Sicherheit der Energieversorgung angekündigt. Ab Mitte Juli 2022 habe man geschätzt, dass es nach einem Stresstest eventuell eine andere Einschätzung zum Weiterbetrieb der Kernkraftwerke geben könnte. Belastbare Aussagen habe es nicht gegeben. Tidow schilderte, dass in dem Moment, in dem die Prüfung eines Streckbetriebs begonnen worden wäre, eine öffentliche Diskurslage entstanden wäre, die nur noch schwer zu managen gewesen wäre.

Einsatzreserve der Kernkraftwerke

Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke (Bündnis 90/Die Grünen) hätten bereits früh in Richtung eines Streckbetriebs argumentiert, erinnerte sich Tidow. Es sei aber klar gewesen, dass es in den Fraktionen von Grünen und auch SPD Widerstand dagegen geben würde. Angesichts der öffentlichen Debatte und Forderungen der CDU nach einer Laufzeitverlängerung habe die Sorge bestanden, dass die Atombefürworter den Streckbetrieb nutzen würden, um den Ausstieg insgesamt rückgängig zu machen.

Daraufhin habe Habeck die Einsatzreserve der Kernkraftwerke ins Spiel gebracht. Das Ergebnis dieser Prüfung sei jedoch ernüchternd gewesen, sagte Tidow. Was politisch machbar erschienen sei, sei auf logistische und sicherheitstechnische Probleme gestoßen. Es sei dann der Kraftwerksbetreiber PreussenElektra gewesen, der eine Kaltreserve als technisch nicht machbar bezeichnet habe. Er schilderte außerdem, dass es nicht möglich gewesen sei, innerhalb der Regierung vor allem mit der FDP eine Einigung herbeizuführen. Schließlich habe Bundeskanzler Olaf Scholz am 17. Oktober den Streckbetrieb bis Mitte April 2023 per Richtlinienkompetenz verfügt. 

Auftrag des Untersuchungsausschusses

Der Untersuchungsausschuss wurde am 4. Juli 2024 vom Bundestag eingesetzt und befasst sich mit den staatlichen Entscheidungsprozessen zur Anpassung der nationalen Energieversorgung an die durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine veränderte Versorgungslage. 

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild von den Entscheidungsprozessen sowie deren Kommunikation an den Bundestag und an die Öffentlichkeit zu verschaffen. Dies gilt vor allem für die Entscheidungen über einen möglichen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke. Es soll untersucht werden, welche Informationen den Entscheidungen zugrunde gelegt wurden, welche nationalen und internationalen Stellen in die Entscheidungsprozesse einbezogen wurden und ob die Einbeziehung weiterer Informationen oder Stellen sachgerecht gewesen wäre. (hle/20.12.2024)