27. Februar 1955: Deutscher Bundestag ratifiziert Pariser Verträge

Erich Ollenhauer (SPD) sprach sich für seine Fraktion gegen die Pariser Verträge aus und kritisierte, dass die Westbindung die deutsche Wiedervereinigung erschweren würde. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/ Brodde)
Vor 70 Jahren, am Sonntag, den 27. Februar 1955, ratifizierte der Deutsche Bundestag nach einer vier Tage währenden Debatte die „Pariser Verträge“. Nach der bis dahin heftigsten innenpolitischen Auseinandersetzung der Nachkriegszeit hatte sich die Regierungskoalition mit mehr als zwei Drittel der Stimmen gegen die Stimmen der SPD-Opposition durchgesetzt.
Nato-Beitritt und eigene Streitkräfte
Die Pariser Verträge beendeten das Besatzungsstatut, das die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Besatzungsmächten USA, Frankreich und Großbritannien regelte, bis auf einige Vorbehaltsrechte und schufen die Voraussetzungen für den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur Westeuropäischen Union (WEU) und zur Nato (North Atlantic Treaty Organization) und ebneten damit den Weg zur Aufstellung eigener Streitkräfte.
Mit dem Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Oktober 1954 gab Deutschland den Nato-Mitgliedsstaaten, Belgien, Dänemark, Frankreich, Kanada, Luxemburg, Niederlande, Großbritannien und den USA seine völkerrechtliche Zustimmung zum dauerhaften Aufenthalt ihrer Stationierungsstreitkräfte. Mit dem sogenannten Saarstatut sollte der Status des an der deutsch-französischen Grenze gelegenen Saarlandes neu geregelt werden und zur Lösung der sogenannten Saarfrage führen, falls eine Volksabstimmung dies billigen würde. Diese scheiterte am 23. Oktober 1955.
Deutschlandvertrag und Ende des Besatzungsstatuts
Nur zehn Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs erlangte die Bundesrepublik ihre – allerdings durch alliierte Vorbehaltsrechte noch eingeschränkte – Souveränität. Artikel 1, Absatz 2 des durch die in Paris am 23. Oktober 1954 getroffenen Vereinbarungen modifizierten Deutschlandvertrages vom 26. Mai 1952 legte nun fest: „Die Bundesrepublik wird demgemäß die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten haben.“ Allerdings behielten die Westalliierten noch bis 1968 Eingriffsrechte für den Notstandsfall, und ihre Vorbehalte hinsichtlich Berlins und Deutschlands als Ganzem erloschen endgültig erst mit dem Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrages am 15. März 1991. Allerdings hatten die Vier Mächte bereits vor der Ratifizierung des Vertrages die Wirksamkeit ihrer Rechte und Verantwortlichkeiten mit Wirkung vom 3. Oktober 1990, dem Tag der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, bis zum Inkrafttreten des Vertrages ausgesetzt (New Yorker Deutschland-Erklärung vom 1. Oktober 1990).
Zweifel an der Wiederbewaffnung
Innenpolitisch war das Abkommen jedoch äußerst umstritten. In der Öffentlichkeit gab es nur zehn Jahre nach Kriegsende massive Zweifel an der Wiederbewaffnung und Furcht vor der endgültigen Teilung Deutschlands. Zahlreiche inner- und außerparlamentarische Kritiker der Verträge sammelten sich in der sogenannten Paulskirchen-Bewegung. Sie kritisierten die Politik der Bundesregierung in den Fragen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung und protestierten gegen die Ratifizierung der Pariser Verträge und die militärische Blockbildung. In ihrem Manifest vom 29. Januar 1955 appellierten sie an Bundestag und Bundesregierung, „alle nur möglichen Anstrengungen zu machen, damit die vier Besatzungsmächte dem Willen unseres Volkes zur Einheit Rechnung tragen.“
„Die Verständigung über eine Viermächtevereinigung zur Wiedervereinigung muss vor der militärischen Blockbildung den Vorrang haben. Es können und müssen die Bedingungen gefunden werden, die für Deutschland und seine Nachbarn annehmbar sind, um durch Deutschlands Wiedervereinigung das friedliche Zusammenleben der Nationen Europas zu sichern.“
Kanzler: Frieden, Freiheit und Wiedervereinigung
Eine Ansicht die Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer (CDU, 1876 bis 1967) nicht teilte. Er sah die Verträge als Voraussetzung für Frieden, Freiheit und die Wiedervereinigung Deutschlands. Die Abstimmung zeige die Entschlossenheit des Deutschen Bundestages, den als richtig erkannten Weg weiterzugehen.
„Wenn diese Pariser Verträge vom Bundesrat verabschiedet sind, dann sind wir ein großes Stück weitergekommen auf dem Wege zum Frieden, zur Freiheit und zur Wiedervereinigung“, sagt Adenauer zu Beginn der dritten Beratung der am 23. Oktober 1954 in der französischen Hauptstadt von den drei Westalliierten, der Bundesrepublik Deutschland, Belgien, Luxemburg, den Niederlanden und Italien unterzeichneten Verträge.
CDU/CSU: Schutz gegen die sowjetische Bedrohung
Die CDU/CSU-Fraktion unterstützte den Weg der Westintegration ihres Bundeskanzlers. Der Unions-Fraktionsvorsitzende Dr. Heinrich von Brentano (1904 bis 1964) argumentierte, dass Deutschland durch den Beitritt zur Nato und zur Westeuropäischen Union (WEU) Sicherheit gewinne und seine internationale Isolation überwinden könne. Die Westbindung sei ein notwendiger Schutz gegen die sowjetische Bedrohung.
„Die Bedeutung der Verträge liegt doch nicht in dem Recht oder in der Pflicht, einige deutsche Divisionen aufzustellen; sie liegt in der Einbeziehung der Bundesrepublik in die Westeuropäische Union als einer auf Freiwilligkeit beruhenden Vereinigung der kontinentaleuropäischen Staaten und Englands und in der Aufnahme der Bundesrepublik in die Atlantische Gemeinschaft. Eine zwangsläufige Folge dieses Eintritts in eine solidarische Gemeinschaft ist eben die Unterstützung ihrer Ziele, nämlich der Erhaltung und Sicherung des Friedens und der Freiheit ihrer Mitgliedstaaten.“
„Ein Nein zu den Verträgen ist daher in letzter Konsequenz ein Nein zu einer echten europäischen Zusammenarbeit und zu einer Teilnahme an der Atlantischen Gemeinschaft der freien Völker, es ist auch ein Nein an diejenigen, die uns Freundschaft und Unterstützung gewähren wollen. Und es ist nach meiner festen Überzeugung in der letzten unerbittlichen Konsequenz auch ein Nein zur Wiedervereinigung.“
SPD: Kritik an der Westintegration
SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzender Erich Ollenhauer (1901 bis 1963) sprach sich für seine Fraktion gegen die Pariser Verträge aus und kritisierte, dass die Westbindung die deutsche Wiedervereinigung erschweren würde. Ollenhauer argumentierte, dass eine Bündnisfreiheit Deutschlands bessere Chancen für eine Verhandlungslösung mit der Sowjetunion bieten könnte.
Die SPD warnte vor einer neuen Aufrüstung und sah die Politik Adenauers als Konfrontationskurs gegenüber dem Osten. „Wir halten die Verträge für kein geeignetes Mittel für die Sicherheit unseres Volkes. Wir halten sie für eine große Gefahr für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands.“
FDP: Sorge vor der Kraft der Tatsachen
Auch die FDP, selbst Koalitionspartner des Regierungsbündnisses, setzte sich für Verhandlungen über die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands ein. „Man muss verhandeln, jede Möglichkeit des Gespräches muss gesucht werden zwischen den Alliierten und den Russen, nach Möglichkeit zwischen uns und den Russen. Ich gehe hier durchaus mit Herrn Ollenhauer einig. Was kann das Gespräch schaden?“, sagte hierzu der Vorsitzende der FDP-Fraktion Dr. Thomas Dehler (1897 bis 1967) und äußerte seine „Sorge vor der Kraft der Tatsachen, Sorge, dass die Dinge zu lange dauern und von Tag zu Tag irreparabler werden“ und forderte höchste Aktivität, den Einsatz unserer gesamten geistigen, seelischen, wirtschaftlichen und politischen Kräfte, um die Deutschen in der Zone zu befreien.
DP, GB/BHE: Brauchen die Unterstützung der Westmächte
Für die Deutsche Partei (DP) warb der Fraktionsvorsitzende Dr. Hans Joachim von Merkatz (1905 bis 1982) für die Ratifizierung der Verträge. „Wir wollen ein Recht wirklicher Mitsprache bei der Lösung der großen Weltfrage, die uns letzthin auch als Nation am meisten interessiert, der Entspannung zwischen Ost und West. Dazu brauchen wir die Souveränität, die uns diese Verträge gewähren. Dazu brauchen wir auch die Unterstützung der Westmächte, was bedingt, dass wir uns ihrem Verteidigungssystem anschließen. Dazu müssen wir uns nun entscheiden.“
Für den Gesamtdeutsche Block / Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE) brachte ihr Fraktionsvorsitzender Horst Haasler (1905 bis 1969) die Zustimmung zum Vertragswerk zum Ausdruck. Auch er sah in dem Beistand der Westmächte einen positiven Beitrag für die Wiedervereinigung.
Abstimmung
Nach einem dreitägigen Debattenmarathon vom 25. bis zum 26. Februar 1955 zur zweiten Beratung der Verträge war auch die siebenstündige allgemeine Aussprache zur dritten Beratung am 27. Februar gekennzeichnet durch leidenschaftliche Redebeiträge aus dem Regierungs- und Oppositionslager. Die Regierungsparteien CDU/CSU, FDP, GB/BHE und DP unterstützten mehrheitlich die Ratifizierung der Pariser Verträge, während die SPD mit 150 Abgeordneten geschlossen dagegen stimmte.
In namentlicher Abstimmung befürworteten 324 von insgesamt 475 stimmberechtigten Abgeordneten den Entwurf eines Gesetzes betreffend das Protokoll vom 23. Oktober 1954 über die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland (2/1000), 151 stimmten dagegen. Von den nicht stimmberechtigen Berliner Abgeordneten stimmten mit Ja 10, mit Nein 10.
Für den Entwurf eines Gesetzes betreffend den Vertrag vom 23. Oktober 1954 über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland (2/1060) stimmten insgesamt 321 von 474 Abgeordneten, mit Nein stimmten 153 (Berliner Abgeordnete: Ja 10, Nein 10).
Den Entwurf eines Gesetzes betreffend den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Brüsseler Vertrag und zum Nordatlantikvertrag (2/1061) billigten bei 2 Enthaltungen 314 von 473 Abgeordneten. Dagegen sprachen sich 157 Abgeordnete aus (Berliner Abgeordnete: Ja 10, Nein 10).
Etwas weniger eindeutig viel das Ergebnis über den Entwurf eines Gesetzes betreffend das am 23. Oktober 1954 in Paris unterzeichnete Abkommen über das Statut der Saar (2/1062) aus. Von insgesamt 474 Abgeordneten stimmten lediglich 263 mit Ja, mit Nein stimmten 202 Abgeordnete; 9 enthielten sich der Stimme. Von den Berliner Abgeordneten stimmten 5 mit Ja; mit Nein 13; bei 2 Enthaltungen.
Nachdem der Bundesrat am 18. März ebenfalls zugestimmt hatte, unterzeichnete Bundespräsident Prof. Dr. Theodor Heuss (1884 bis 1963) am 24. März 1955 das Gesetzeswerk und veranlasste die Verkündung.
Inkrafttreten
Mit der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunden zu den Pariser Verträgen am 5. Mai 1955 traten diese in Kraft. Nur zehn Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs erlangte die Bundesrepublik ihre – allerdings durch alliierte Vorbehaltsrechte noch eingeschränkte – Souveränität. Einen Tag später, nachdem die letzte Ratifizierungsurkunde der Nato-Mitgliedstaaten in Washington hinterlegt worden war, trat die Bundesrepublik der Nato bei. Am 9. Mai fand das erste Nato-Ministertreffen unter deutscher Beteiligung statt. Die Ratifizierung der Pariser Verträge legte den Grundstein für die Integration der Bundesrepublik Deutschland in das westliche Bündnissystem.
Nach einer über mehrere Jahre politisch und gesellschaftlich äußerst kontrovers geführten Debatte um eine Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland war die Aufnahme der Bundesrepublik in die Nato und die Aufstellung deutscher Streitkräfte beschlossen.
Auf der anderen Seite wird die DDR Schritt für Schritt in den von der Sowjetunion beherrschten sogenannten Ostblock eingebunden und tritt am 14. Mai 1955 dem „Warschauer Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ bei. Es folgen mit dem Vertrag über die Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR vom 20. September 1955 weitere Schritte, zur „Souveränität“ und Selbstständigkeit der DDR und die Umwandlung der Kasernierten Volkspolizei in die Nationale Volksarmee. (klz/19.02.2025)