Afghanistan-Untersuchungsausschuss übergibt Abschlussbericht

Ausschussvorsitzender Ralf Stegner (SPD, rechts) übergibt Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoğuz (SPD, links) den Bericht des Afghanistan-Untersuchungsausschusses. (© DBT/Kira Hofmann/photothek)
Der 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) hat seinen Abschlussbericht (20/14700) der Vizepräsidentin des Bundestages, Aydan Özoğuz (SPD), übergeben. Das mehr als 1.400 Seiten umfassende Dokument beschreibt den Beweisaufnahmeprozess detailliert und beinhaltet auch die Bewertungen der einzelnen Fraktionen.
Der Ausschuss hat die Ereignisse zwischen dem Abschluss des Doha-Abkommens Ende Februar 2020, mit dem der Rückzug internationaler Truppen aus Afghanistan geregelt wurde, und der chaotischen Evakuierung vom Kabuler Flughafen Mitte August 2021 untersucht, nachdem die Taliban die Hauptstadt erobert hatten. An den Ausschussberatungen und Zeugenvernehmungen nahmen die Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, der Grünen, der FDP und der AfD teil. Die Linke, die zunächst dabei war, musste das Gremium verlassen, nachdem sie durch die BSW-Abspaltung ihren Fraktionsstatus verloren hatte.
Bewertung der Fraktionen
In der Bewertung fällt auf, dass Sozialdemokraten, Christdemokraten, Grüne und Liberale aus dem Geschehen ähnliche Schlüsse ziehen und sich nur im Detail voneinander unterscheiden. Die AfD, die fundamentale Kritik am Afghanistan-Einsatz übt, erhebt gegen den Ausschuss selbst Vorwürfe.
SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP konzentrieren sich auf vier thematische Schwerpunkte: Die Rolle der USA am Ende des Einsatzes und wie die damalige Bundesregierung darauf reagierte, die Mängel in der Krisenreaktion der Bundesregierung, die Probleme in der Politikkoordinierung und Lagebeurteilung der Ressorts untereinander sowie schließlich die Unzulänglichkeit des Ortskräfteverfahrens und die Fürsorgepflicht Deutschlands gegenüber den lokalen Mitarbeitern.
Die AfD-Fraktion, die den übrigen Fraktionen vorwirft, keinen „wirklichen Willen zur Aufklärung des Fiaskos am Hindukusch“ gezeigt zu haben, stellt für sich fest, dass Deutschland „vom Anfang bis Ende auf die Entscheidungen der USA reagiert“ und sich damit „den Weg zu souveränen Entscheidungen und zur Wahrnehmung eigener nationalen Interessen“ versperrt habe.
„Taliban: Regierung im Wartestand“
Die Abgeordneten der vier übrigen Fraktionen hingegen resümieren, die USA habe in Doha mit den Taliban allein verhandelt und die Bundesregierung habe keinen Einfluss auf diese Verhandlungen gehabt. Sie sind sich auch weitgehend in der Beurteilung einig, dass der Bundesregierung bewusst gewesen sei, wie die SPD-Fraktion in ihrer Bewertung schreibt, dass „die Festlegung eines unkonditionierten Zeitpunkts für den Truppenabzug ohne nennenswerte Gegenleistung“ die Taliban legitimiert und diese „zu einer 'Regierung im Wartestand'“ gemacht habe. Versuche von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und des Auswärtigen Amtes (AA), das Abkommen nachträglich mit Bedingungen zu verknüpfen, bewerten die Fraktionen als einen guten Versuch, der aber nur auf Hoffnungen basiert und keine Ergebnisse gebracht habe.
Dadurch hätten sich aber die Planungen für den Rückzug und das Erstellen eines „Worst-Case-Szenarios“ verzögert. Man dürfe in der Zukunft „den richtigen Zeitpunkt für die Vorbereitung des Krisenfalls nicht verpassen“, heißt es in der Bewertung der CDU/CSU-Fraktion. „Die Abhängigkeit der deutschen Truppen von der amerikanischen Truppenpräsenz“ habe die Zeitplanung beeinflusst, schreibt die SPD-Fraktion. Die FDP-Fraktion kritisiert Merkel: Sie habe nicht auf eine Umkehr zu einer auf die Taliban ausgerichteten alternativen Planung eingewirkt. „Die Kanzlerin und das Kanzleramt haben im gesamten Betrachtungszeitraum wenig bis keine ordnende Rolle innerhalb des Ressortkreises übernommen.“ Die Fraktion der Grünen geht einen Schritt weiter. Die politischen Leitungsebenen hätten sich „erschreckend wenig, zu wenig, für die Entwicklungen in Afghanistan interessiert“. Dennoch stellen die Fraktionen fest, dass der Abzug der Bundeswehr reibungslos verlief, auch wenn die Grünen eine Gefährdung der Sicherheit der Soldaten durch Zeitverlust sehen.
„Zusammenarbeit in Berlin war nicht reibungslos“
Reibungslos sei aber die Zusammenarbeit der Ressorts in Berlin keineswegs gewesen. Es habe eine gemeinsame Lageanalyse der Bundesregierung gefehlt, schreibt die SPD-Fraktion und gibt die Hauptschuld dem Bundesnachrichtendienst (BND), der die Geschwindigkeit der Entwicklung unterschätzt habe. Hier halten die CDU/CSU und FDP dagegen. „Eine Lagebildkonsolidierung oder Handlungskoordinierung habe in den dafür verantwortlichen Staatssekretärsrunden kaum stattgefunden“, schreiben die Liberalen. Sie betonen, dass der BND das Ende des Einsatzes schon 2020 vorausgesagt habe.
Auch die Union unterstreicht, dass der BND ebenso wie das Verteidigungs- und Entwicklungsministerium korrekt vorausgesehen hätte, wohin die Entwicklung führe. Die CDU/CSU-Fraktion sieht hier das damals SPD-geführte Auswärtige Amt in der Verantwortung: Nach dem Abzug der Bundeswehr hätte das Amt das größere Gewicht bei der Lagebilderstellung gehabt. Auch die Grünen weisen darauf hin, dass es kein zuverlässiges Lagebild gegeben habe. Um dieses Problem künftig zu lösen, schlagen FDP und CDU/CSU die Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrats vor, während die SPD ein ressortübergreifendes Lagezentrum befürwortet.
Fehler bei der Behandlung der Ortskräfte
Alle vier Fraktionen betonen, dass es bei der Behandlung der Ortskräfte Fehler gegeben habe. Während die Grünen von „einer organisierten Verantwortungslosigkeit“ und „Blockade einzelner Ressorts“ sprechen, stellt die SPD-Fraktion fest, dass die Evakuierung der Ortskräfte in den Planungen nicht vorgesehen gewesen sei. Für diesen Fall müssten künftig vereinfachte Visaverfahren entwickelt werden. Die CDU/CSU-Fraktion erinnert daran, dass die Verantwortung für das Ausstellen von Visa beim Auswärtigen Amt liegt, räumt aber ein, dass das damals Unions-geführte Innenministerium, obwohl es „für ein pragmatisches Vorgehen offen“ gewesen sei, dazu „erst, als eine Krisenlage es erfordert“ habe, bereit gewesen sei. Die FDP-Fraktion kritisiert, dass über das Ortskräfteverfahren erst nach dem Fall von Kabul und damit „viel zu spät“, entschieden worden sei.
Die AfD-Fraktion nennt das Ortskräfteverfahren eine „Migrationsmaßnahme“. Durch die „Förderung von Migration aus Afghanistan sind erhebliche finanzielle Folgebelastungen entstanden“, schreibt sie in ihrer Bewertung. Die AfD macht in ihrer Bewertung der Arbeit des Ausschusses auch dem Ausschussvorsitzenden Ralf Stegner (SPD) Vorwürfe. Er habe sich „im Verlauf der Ausschussarbeit immer mehr zum Hemmschuh für die so wichtige Aufklärungsarbeit“ entwickelt. Die AfD-Fraktion beklagt, dass sie dadurch an ihrer Befragung der Zeugen gehindert worden sei.
Özoğuz: Ausschuss hat ganze Arbeit geleistet
Die Vizepräsidentin des Bundestages, Aydan Özoğuz, hob bei der Übergabe des Berichts die Ergebnisse der Arbeit des Ausschusses hervor. „Trotz der verkürzten Legislaturperiode hat der Afghanistan-Untersuchungsausschuss ganze Arbeit geleistet.“ Bei Gesprächen mit den Mitgliedern des Ausschusses bei der Übergabe hätten sich wichtige gemeinsame Erkenntnisse ergeben: Verhandlungen über Einsatz und Abzug müssten mit allen Partnern gemeinsam geführt werden und es dürften nicht Einzelinteressen von wenigen im Vordergrund stehen.
Bei der sich im Sommer 2021 verschärfenden Krise habe nicht nur eine gemeinsame Lageanalyse der Bundesregierung gefehlt, sondern offenbar auch beim US-Partner. Die ressortübergreifende Zusammenarbeit habe nur an wenigen Stellen gut funktioniert und werde für künftige Herausforderungen eine wichtige Aufgabe sein. (crs/19.02.2025)