Parlament

Rainer Semet: Europa muss verteidigungsfähig werden

Rainer Semet steht am Rednerpult im Plenum und hält eine Rede

Rainer Semet (FDP), Leiter der deutschen Delegation zur Interparlamentarischen Konferenz für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (© DBT/Thomas Köhler/photothek)

„Der europäische Anteil an der Nato muss jetzt gestärkt werden“, sagt Rainer Semet (FDP), Leiter der deutschen Delegation zur Interparlamentarischen Konferenz für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, kurz: IPK GASP/GSVP, die vom 23. bis 25. März 2025 in Warschau stattfand. Die heutige Sicherheitslage lasse keine Unentschlossenheit mehr zu. Die Bedrohung durch Putin sei akut, und, dass sich die USA zunehmend von Europa abkoppelten, nicht neu. Im Interview spricht der Politiker, der für die FDP im 20. Deutschen Bundestag saß und Deutschland bei der IPK vertreten hat, darüber, wie sehr es auf eine gesamteuropäische Strategie zur Ausrüstung der Streitkräfte ankommt, wie stark die Hilfen für die Ukraine mit dem Aufbau eigener Fähigkeiten verbunden sind und in welche Ausrüstung die vom Parlament freigegebenen finanziellen Mittel künftig fließen müssen. Das Interview im Wortlaut:

Herr Semet, die Interparlamentarische Konferenz ist das außen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Branchentreffen der EU. Beim Frühjahrstreffen gab es eine Sonderdebatte zur Zukunft der transatlantischen Beziehungen. Wie haben die Parlamentarier die durch die neue US-Regierung von Donald Trump angestoßenen Entwicklungen im Bereich der transatlantischen Sicherheit diskutiert?

Wir bedauern die Entwicklung, dass sich die USA zunehmend von Europa abkoppeln und ihren Blick auf andere Teile der Welt richten. Das ist jedoch keine neue Entwicklung, sondern begann bereits unter Obama, der mit dem „Pivot to Asia“ den Fokus auf China und den Indo-Pazifik legte. Verschärft wird die Lage durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Auch dieser hat eine Vorgeschichte: bereits 2014 kam es zur Annexion der Krim und von Gebieten im Osten der Ukraine. Die Haltung der Trump-Regierung beschleunigt diese Prozesse. Ein möglicher Austritt der USA aus der Nato wäre sicherheitspolitisch für Europa ein schwerer Schlag.

Bringen die aktuellen Herausforderungen (russischer Angriffskrieg, amerikanischer Rückzug) einen Schub für mehr europäische Eigenständigkeit im Bereich der Verteidigung? Wird der viel beschworene europäische Pfeiler in der Nato jetzt zu einer echten, tragenden Säule oder gar zu einem ganzen Tempel ausgebaut?

Natürlich muss der europäische Anteil an der Nato jetzt gestärkt werden – wir müssen verteidigungsfähig werden. Die Bedrohung durch Putin ist akut: Seine Machtansprüche zielen nicht nur auf die Ukraine, sondern auch auf die ehemaligen Sowjetstaaten. Polen, Ungarn, oder das Baltikum beziehen klare Position und investieren deutlich mehr in Verteidigung. Finnland hat die längste europäische Grenze zu Russland und verfügt  bei nur fünf Millionen Einwohnern über eine 280.000 Mann starke Armee, ausgerüstet und ergänzt durch 700.000 Reservisten. Unseren Partnern im Osten ist die Lage vollkommen klar.

Sind nicht am Ende europäische Rüstungsanstrengungen, wie von Donald Trump gefordert, der Schlüssel, um die Nato zu retten?

Diesen Zusammenhang mit der „Rettung“ der Nato würde ich so nicht ziehen. Ihre Zukunft hängt vorrangig von der Mitgliedschaft der USA und unserer Fähigkeit ab, diese zum Bleiben zu bewegen. Ein möglicher Weg dazu sind verstärkte Rüstungsanstrengungen – gerade die aktuelle US-Administration wird darauf achten, dass sich die Nato für sie lohnt. Die EU-Staaten geben zusammen etwa die Hälfte dessen aus, was die USA leisten. Aber wegen zersplitterter Systeme nutzen wir diese Mittel viel ineffizienter. Deshalb braucht es eine gemeinsame EU-Strategie zur Ausrüstung der Streitkräfte.

Kann die GASP als ein eher gemächliches EU-Projekt überhaupt mit dem neuen Schwung und der Erratik der Dinge Schritt halten? Wie schnell kann Europa Armeen schaffen, um den amerikanischen Rückzug zu kompensieren?

Wir müssen den Blick auf eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik jetzt verstärkt in den Vordergrund rücken. Das muss über Worte hinausgehen und sich in gemeinsamer Beschaffung, Strategie und Taktik niederschlagen. Projekte wie FCAS (Future Combat Air System) oder MGCS (Main Ground Combat System) zeigen die bisherigen Schwierigkeiten: Über Jahre wurden gemeinsame Lösungen verzögert, weil nationale Interessen dominierten. Die heutige Sicherheitslage lässt keine Unentschlossenheit mehr zu. Auch neue Formen der Kriegsführung – etwa durch Drohnen – verlangen Anpassung.

Wie lassen sich die aktuellen Anstrengungen in sinnvolle dauerhafte Strukturen überführen?

Dafür braucht es vor allem drei Dinge: Höhere Rüstungsausgaben, Reformen im Beschaffungswesen und eine bessere europäische Abstimmung. Auch ich habe der Aufnahme von Schulden für die Bundeswehr zugestimmt. Jetzt müssen wir uns um die effiziente Verwendung dieser Mittel kümmern – national wie europäisch. Doppelstrukturen wie ein separates Planungs- und Beschaffungsamt bremsen und verteuern. Die Rüstungsindustrie braucht Planungssicherheit und schnelle Entscheidungen, um Kapazitäten auszubauen. Gleiches gilt auf europäischer Ebene: Dort braucht es Verbindlichkeit und Tempo.

Die Konsequenzen eines amerikanischen Rückzugs würde die Ukraine am unmittelbarsten spüren. Die EU-Außenministerinnen und -Außenminister haben kürzlich über weitere milliardenschwere Hilfen für die von Russland attackierte Ukraine beraten. Kann Europa ggf. von Amerika hinterlassene Ausrüstungs-Lücken füllen?

Im Prinzip ja. Deutschland ist nach den USA bereits größter Unterstützer der Ukraine. Aber um den Rückzug der Vereinigten Staaten auszugleichen, müssen wir vor allem unsere strategischen Fähigkeiten ausbauen. Das gilt insbesondere für den schnellen und europaweiten Rüstungstransport, Cyberabwehr oder die Satellitenaufklärung. Diese Fähigkeiten wurden in der Annahme, dass in Europa kein Krieg mehr herrschen würde, zu lange vernachlässigt.

Die offizielle Tagesordnung war stark durch Redebeiträge des Gastgeberlandes Polen geprägt. Polen liegt an der Außengrenze der EU und der Nato und verfügt als Nachbarland über besondere Expertise in der Ukraine. War dies für die Erörterung der aktuellen Fragestellungen rund um die Ukraine nützlich?
Zweifellos. Polen ist aufgrund eigener Erfahrungen mit Russland besonders wachsam. Ähnliches gilt für viele Staaten des früheren Warschauer Pakts. Sie wissen, dass Putins Territorialansprüche kein Bluff sind – und bereiten sich entsprechend vor. Ihre Beiträge auf der Konferenz waren von hoher Relevanz und Klarheit.

Wie geht Polen als vom Selbstverständnis her transatlantisch ausgerichtete Regionalmacht mit der doppelten Krise des russischen Angriffs und des amerikanischen Rückzugs um?

Polen stärkt gezielt die eigenen Fähigkeiten. Es investiert über fünf Prozent des BIP in Verteidigung – damit ist es Nato-Spitze. Deutschland schafft die vereinbarten zwei Prozent nur mithilfe des Sondervermögens. Polen beschafft Panzer in Südkorea, da europäische Kapazitäten nicht reichen. Zugleich übernimmt es Verantwortung im Rahmen des Weimarer Dreiecks zusammen mit uns und Frankreich und bringt sich mit den baltischen und nordischen Staaten verstärkt sicherheitspolitisch ein.

Was für Sicherheitsthemen standen noch auf der Tagesordnung? Und worum muss sich Europa jetzt vorrangig kümmern?

Cybersicherheit und Desinformation spielten eine zentrale Rolle. Auch hybride Bedrohungen, wie die Sabotage von Untersee-Datenkabeln oder gelenkte Migration etwa über Belarus, wurden diskutiert. Solche Angriffe lassen sich schwer zuordnen und treffen automatisierte Systeme wie zum Beispiel in der Landwirtschaft und spalten die Gesellschaft. Auch eingefrorene russische Vermögen sollen für den Wiederaufbau der Ukraine verwendet werden. Es braucht dazu eine gesamteuropäische Strategie.

Normalerweise berichtet der EU-Außenbeauftragte den Parlamentariern halbjährlich auf der IPK über seine Tätigkeit. Nachdem der frühere Beauftragte Josep Borrell bereits den letzten Treffen ferngeblieben ist, war auf der aktuellen Tagesordnung auch nichts von der neuen EU-Außenbeauftragten, Kaja Kallas, zu finden. Gab es keine Vorstellung zum Amtsantritt? Und wie gehen die Parlamentarier mit dieser Geringschätzung um?

Die Parlamentarier bedauern ihr Nichterscheinen und hoffen auf ihre Teilnahme bei künftigen Treffen. Positiv aufgenommen wurde hingegen, dass die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Europäischen Parlament, Frau Strack-Zimmermann, aktiv mitwirkte. Die IPK bot erneut einen konstruktiven Austausch. Klar ist: Europa muss seine Verteidigungsfähigkeit schnell und koordiniert stärken – mit abgestimmten oder neuen Strukturen.

(ll/31.03.2025)