Premieren im Bundestag: Vom ersten Ordnungsruf bis zur ersten Vertrauensfrage

Neubeginn: Am 7. September 1949 kam der Deutsche Bundestag zum ersten Mal zusammen. (© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Sorsche/Jaeger)
Wer etwas zum allerersten Mal macht, erinnert sich oft gern an diesen Moment zurück. Zumal, wenn damit Traditionen begründet wurden, auf die mit Stolz zurückzuschauen es sich auch nach vielen Jahren immer noch lohnt. So etwas gibt es auch im Deutschen Bundestag. Manche „ersten Male“ waren geradezu epochal im Parlamentsalltag, sie markierten Wendepunkte und begründeten parlamentarische Usancen.
Welches war das erste vom Bundestag verkündete Gesetz? Seit wann gibt es Kleine und Große Anfragen? Welcher Abgeordnete legte zum ersten Mal sein Mandat nieder und wer wurde erstmals von der Teilnahme an einer Plenarsitzung ausgeschlossen? Wann wurde erstmals die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers gestellt und wann das erste konstruktive Misstrauensvotum eingebracht?
Viele dieser Ereignisse wurden zwar im jeweiligen Augenblick aufmerksam von Presse und Öffentlichkeit verfolgt, gerieten später jedoch teilweise in Vergessenheit. Dabei sind sie zugleich Meilensteine in der 75-jährigen Geschichte des Bundestages. Ein Blick zurück auf die „ersten Male“ in der Parlamentsgeschichte:
Alles neu im ersten Bundestag
Am 7. September 1949 konstituierte sich der erste Deutsche Bundestag. Alles, was in dieser Sitzung geschah, war neu. Dennoch konnte diese Sitzung mit großer Souveränität eröffnet und geleitet werden, denn bereits der erste Redner und Alterspräsident war Paul Löbe (SPD), der von 1920 bis 1924 und von 1925 bis 1932 Präsident des Reichstages der Weimarer Republik gewesen war.
Er erhielt auch den ersten Beifall für seine Rede, als er ausdrücklich die Entsendung der Berliner Abgeordneten hervorhob, deren Mitwirkungsrecht im Bundestag aufgrund des Vier-Mächte-Status der Stadt bis 1990 eingeschränkt blieb.

Der erste Alterspräsident Paul Löbe eröffnete die konstituierende Sitzung. (© picture alliance / dpa | dpa)
Die erste Rede – und der erste Zwischenruf
Trotz des wenig pathetischen, aber doch sehr feierlichen Moments erhielt Löbe überraschenderweise auch den ersten Zwischenruf. Er kam von Max Reimann (KPD), dessen Partei im ersten Bundestag saß, da die Fünf-Prozent-Klausel auf jedes Land einzeln gerechnet wurde und nicht wie später auf das gesamte Bundesgebiet.
Löbe hatte in seiner Rede das „Hitlersche Ermächtigungsgesetz“ von 1933 als jenes Instrument gegeißelt, das „die staatsbürgerlichen Freiheiten für lange Jahre begraben“ habe, als Reimann rief: „Wie viele Abgeordnete sitzen hier [gemeint war im Bundestag], die dafür gestimmt haben?“ Tatsächlich gab es 29 Abgeordnete im ersten Bundestag, die bereits im Reichstag der Weimarer Republik saßen von denen einige 1933, ohne die Folgen ermessen zu können, dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hatten.
Zum ersten Mal: Ordnungsruf und Wortentzug
Ebenfalls ein KPD-Abgeordneter, Heinz Renner, erhielt am 20. September 1949 den ersten Ordnungsruf in der Geschichte des Bundestages durch den am 7. September 1949 gewählten ersten Bundestagspräsidenten Erich Köhler, weil Renner von einer „Hetze“ deutscher Parteien sprach, als Bundeskanzler Konrad Adenauer – auch mit Blick auf die Sowjetunion – von „allen Völkern“ die Mithilfe bei der Rückgabe von Gefangenen und Verschleppten verlangte.
Die Politik der Kommunisten, die bis 1953 im Bundestag vertreten waren, erschien den demokratischen Parteien von Anfang an als eine Politik der Destruktion und Provokation. Sie hatten sich schon im Parlamentarischen Rat gegen das Grundgesetz und stets gegen einen „westdeutschen Staat“ ausgesprochen, der nach ihrer Meinung nur die „Spaltungspolitik“ der westlichen Alliierten, nämlich Frankreich, Großbritannien und USA, betreiben würde.
Im Parlament suchten die KPD-Abgeordneten die Konfrontation mit den bürgerlichen Parteien. Sie wagten den ersten Zwischenruf, erhielten den ersten Ordnungsruf sowie den ersten Wortentzug, weil sie sich am 30. September 1949 zu einem Gegenstand äußerten, der längst durch Abstimmung erledigt war.

Zum ersten Bundestagspräsidenten wählte das Parlament Erich Köhler. (© picture alliance / AP | Sorsche/Jaeger)
Schumacher und der erste Sitzungsausschluss
Der erste Sitzungsausschluss ist vor allem durch die ausführliche Schilderung in den Erinnerungen von Konrad Adenauer nachhaltig in die Frühgeschichte des Bundestages eingegangen und geradezu unvergessen geworden. Adenauer hatte im November 1949 in strenggeheimen Verhandlungen mit dem amerikanischen, britischen sowie französischen Hohen Kommissar für Deutschland an dem sogenannten „Petersberger Abkommen“ mitgewirkt, das einige Erleichterungen in den Beziehungen zwischen den Besatzungsmächten und Westdeutschland bringen sollte.
So wurde die politische Vision formuliert, die Bundesrepublik als ein „friedliebendes Mitglied in die europäische Gemeinschaft“ eingliedern zu wollen. Ferner sollten etliche – nicht jedoch alle – Industriebetriebe vor einer weiteren Demontage befreit werden und zugleich mit Unterstützung durch den Marshall-Plan der Wiederaufbau in Deutschland vorangetrieben werden.
„Bundeskanzler der Alliierten“?
Adenauer hatte dieses in seiner Regierungserklärung am 24. November 1949 erläutert, als in der Debatte, die sich bis in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages hinzog, die SPD durch verschiedene Redner deutlich machte, dass die Alliierten offensichtlich ein Interesse hätten, Adenauers „autoritäres Regime“ zu stützen. Folgerichtig lehnte die SPD das Petersberger Abkommen ab. Adenauer konterte unter Hinweis auf die Erleichterungen in der Demontage, dass die SPD offensichtlich „eher die ganze Demontage bis zu Ende gehen“ lassen wolle, als die mit dem Abkommen ermöglichten Erleichterungen anzunehmen.
In der hitzigen Debatte erschallte vom linken Flügel an Adenauer die Frage: „Sind Sie noch ein Deutscher?“, als der SPD-Partei- und Fraktionsführer Kurt Schumacher sich dazu verleiten ließ, spontan „Der Bundeskanzler der Alliierten!“ auszurufen. Damit unterstellte Schumacher unterschwellig, Adenauer habe eher die Interessen der Alliierten im Blick als die der Deutschen. Bundeskanzler Adenauer sollte als Marionette der Alliierten dargestellt werden.
Bundestagspräsident Köhler reagierte mit einem Ordnungsruf, doch die Regierungsparteien beantragten gemäß Paragraf 61 der Geschäftsordnung die sofortige Unterbrechung der Plenarsitzung und die Einberufung des Ältestenrates, der sich dieser Sache annehmen sollte. Nach Absprache im Ältestenrat wurde Schumacher für die Zeit von 20 Sitzungstagen von der Teilnahme an den Verhandlungen des Bundestages ausgeschlossen. Die gegen drei Uhr morgens unterbrochene Bundestagssitzung wurde erst um sechs Uhr wieder fortgesetzt.
Bundestag unter Besatzungsherrschaft
Die erste Große Anfrage, damals noch „Interpellation“ genannt, kam am 8. November 1949 von der FDP-Fraktion und bezog sich auf einen baldigen Abschluss der Entnazifizierung durch die alliierten Besatzungsmächte. Die Anfrage wurde jedoch noch vor ihrer Behandlung von der Tagesordnung wieder abgesetzt.
Der Bundestag war von Anfang an das Gesetzgebungsorgan für die Bundesrepublik. Doch zahlreiche Gesetze bedurften nicht nur einer Zustimmung durch den Bundestag, sondern in den ersten Jahren seines Bestehens auch noch einer Genehmigung durch die Alliierten. Das am 2. Dezember 1949 zuerst verabschiedete Gesetz über die Verkündung von Rechtsverordnungen wurde nicht das erste verkündete Gesetz. Dieses war vielmehr die Schaffung einer Abgabe „Notopfer Berlin“, die der besonders vom Krieg, der Besatzungsherrschaft und Blockade-Politik gebeutelten Stadt Berlin zugutekommen sollte. Es war auch ein politisches Bekenntnis des Bundestages, mit seinem ersten verkündeten Gesetz seine Solidarität mit der in vier Sektoren eingeteilten ehemaligen Hauptstadt zu bekunden.
Die erste namentliche Abstimmung
Bereits im ersten Sommer seines Bestehens wurde der Bundestag zur ersten Sondersitzung am 6. Juni 1950 zusammengerufen. Diese musste unglücklicherweise schon nach 42 Minuten wegen der Erkrankung von Bundeskanzler Adenauer auch noch unverrichteter Dinge beendet werden.
Stattdessen wurde am 15. Juni 1950 der Bundestag erneut einberufen, um eine in der Geschichte geradezu epochale Entscheidung herbeizuführen: Auf der Tagesordnung stand der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Europarat. Da Adenauer von Anfang an einer der Motoren des europäischen Einigungsprozesses war, schien seine Anwesenheit in der Tat unverzichtbar zu sein für die Debatte um die Frage des Beitritts der Bundesrepublik. Denn dieser Schritt ermöglichte es der Bundesregierung auch in der Außenpolitik neue Wege zu gehen. Bisher war es der Bundesregierung nur mit Genehmigung der Alliierten erlaubt, zu fremden Staaten diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Im Europarat aber konnte die Bundesregierung diese Bestimmung umgehen und wenigstens mit den Mitgliedstaaten des Europarates in Kontakt treten.
„Angesichts der Wichtigkeit dieser Abstimmung“ wurde wegen des Beitritts der Bundesrepublik zum Europarat zum ersten Mal eine namentliche Abstimmung im Bundestag vorgenommen. Von den 378 anwesenden Abgeordneten wandten sich 151 gegen den Beitritt. Dahinter verbarg sich nicht nur eine reine „Euro-Skepsis“ – gerade die SPD wandte sich mit ihrer Ablehnung vielmehr gegen die außenpolitische Westorientierung der Regierungsparteien und insbesondere des Bundeskanzlers Adenauer, weil sie damals befürchtete, dadurch die von allen ersehnte Wiedervereinigung mit der DDR zu behindern.
Erste Mandatsniederlegung nach acht Tagen
Schon am 15. September 1949, acht Tage nach der Konstituierung des Bundestages, reichte der erste Abgeordnete seinen Mandatsverzicht ein. Kein Geringerer als der Fraktionsvorsitzende der FDP, Theodor Heuss, war wenige Tage zuvor, am 12. September 1949, zum Bundespräsidenten gewählt worden und musste gemäß Artikel 55 des Grundgesetzes auf seinen Bundestagssitz verzichten.
Die erste Mandatsaberkennung erfolgte drei Jahre später, am 23. Oktober 1952. Der Abgeordnete Dr. Fritz Dorls kam 1949 als unabhängiger Abgeordneter über die Landesliste der Deutschen Reichspartei (DRP) in den Bundestag, doch trat er 1950 der Sozialistischen Reichspartei (SRP) bei. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der SRP festgestellt und deren Auflösung verfügt hatte, wurde Dorls das Mandat aberkannt. Die Zahl der Abgeordneten verringerte sich von 421 auf 420, während bei der Mandatsniederlegung von Heuss das Abgeordnetenmandat von einem anderen FDP-Abgeordneten nachbesetzt werden konnte.
Bundestag und Regierung betreten Neuland
Anders als nach der Weimarer Verfassung sollten durch das Grundgesetz die Regierung und vor allem der Bundeskanzler gestärkt werden und nur durch ein von ihm selbst beantragtes konstruktives Misstrauensvotum aus dem Amt entlassen werden können. Hingegen hatte das Grundgesetz dem Bundestag ermöglicht, die Entlassung von einzelnen Bundesministern zu beantragen.
Ein solcher Antrag richtete sich erstmals gegen Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU), der mit der Einführung der „Sozialen Marktwirtschaft“ in der Bundesrepublik wesentlichen Anteil am wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands hatte. Erhard hatte öffentlich den Beschluss des Bundestages kritisiert, den Brotpreis weiterhin durch Subventionen zu stützen. In seiner ihm eigenen Art hatte Erhard dazu mit Blick auf die Abgeordneten formuliert: „Hier waren wieder einmal Hysteriker als Wirtschaftspolitiker am Werk.“ Die Oppositionsparteien nutzten diese ihrer Meinung nach ungeziemende und saloppe Äußerung, um Erhards Entlassung zu fordern.
Erhard blieb im Amt, ja er wurde später sogar Bundeskanzler. In dieser Eigenschaft wurde gegen ihn am 8. November 1966 das erste Vertrauensfrage-Ersuchen gestellt, das mit 255 gegen 246 Stimmen durch den Bundestag angenommen wurde. Erhard wollte sich zwar zunächst „unter gar keinen Umständen“ dieser Vertrauensfrage stellen. Er hielt das Vorgehen der Opposition zurecht für verfassungswidrig. Doch dankte Erhard drei Wochen später als Bundeskanzler ab, und machte damit den Weg frei für die Große Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU).
Das erste Misstrauensvotum scheitert
Das konstruktive Misstrauensvotum zählt zu den großen Errungenschaften des Bonner Grundgesetzes. Es trägt zur Stabilisierung der Regierung und gleichzeitig zur Stärkung des Parlamentarismus bei, da diese nur mit einer klaren Parlamentsmehrheit durch eine neue Regierung abgelöst werden kann. 1972 regierte eine Koalition aus SPD und FDP. Durch Fraktionswechsel einzelner Abgeordneter wegen der „Ostverträge“ konnte die Regierung Willy Brandt (SPD) statt wie bisher über 254 nur noch über 249 stimmberechtigte Abgeordnete verfügen, während die Opposition von 242 auf 247 Stimmen gewachsen war. Das Kräfteverhältnis im Bundestag hatte sich somit verschoben.
In der Gewissheit, zwei FDP-Abgeordnete auf ihre Seite zu ziehen, nutzte die CDU/CSU-Fraktion die Gelegenheit, Bundeskanzler Brandt das Misstrauen auszusprechen und Rainer Barzel (CDU) als aussichtsreichen neuen Bundeskanzler vorzuschlagen. In der geheimen Abstimmung am 27. April 1972 stimmten jedoch statt der erforderlichen 249 Abgeordneten nur 247 für den Antrag der CDU/CSU. Damit war das erste Misstrauensvotum gescheitert.
Novum: Vertrauensfrage und Neuwahlen
Die Regierung Brandt hatte jedoch in entscheidenden Fragen wegen der Patt-Situation keine regierungsfähige Mehrheit mehr. Willy Brandt stellte deswegen am 22. September 1972 erstmals die Vertrauensfrage als Bundeskanzler, die erwartungsgemäß nicht die erforderliche Mehrheit fand. Daraufhin schlug mit Brandt der erste Bundeskanzler dem Bundespräsidenten vor, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen anzuordnen.

Außenminister Walter Scheel (rechts) eröffnete die Debatte über die erste Vertrauensfrage in der Geschichte des Bundstages. (© picture-alliance / dpa | dpa)
Die zweite Parlamentsauflösung wurde auf gleiche Weise von Bundeskanzler Helmut Kohl 1982 in die Wege geleitet, nachdem die sozialliberale Koalition in die Brüche gegangen war. Die von Kohl gestellte Vertrauensfrage war juristisch umstritten, da die Mehrheit aus CDU/CSU und FDP stabil war.
Demokratischer Reifeprozess
Diese „ersten Male“ spiegeln nicht nur die Anfänge, sondern auch die wechselvolle Geschichte des Bundestages wider. Die erstmaligen Anwendungen besonderer Parlamentseinrichtungen und -verfahren sind freilich nur Ecksteine im parlamentarischen Alltag und in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Sie geben kaum Auskunft, wie oft eine Geschäftsordnungsbestimmung tatsächlich Anwendung fand, sie geben auch keine Auskunft über Regierungskrisen und andere markante Wendepunkte in Parlamentsalltag und Politik.
Und doch sind es mittlerweile selbstverständlich gewordene Schritte eines demokratischen Reifeprozesses, der sich in der Bundesrepublik in den über 75 Jahren ihres Bestehens erfolgreich vollzogen hat. (M. Feldkamp/11.08.2025)