Geschichte

Vor 30 Jahren: Entschei­dung für die Auf­ar­bei­tung der Stasi-Akten

Vor 30 Jahren, am Freitag, 24. August 1990, hat die frei gewählte Volkskammer ein Gesetz verabschiedet, das erstmals die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (Stasi) regelt. Es ist der hart erkämpfte Beginn der Aufarbeitung dieses „unheimlichen Erbes“ der DDR. Nur einen Tag nachdem die Volkskammer am 23. August 1990 den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zum 3. Oktober 1990 beschlossen hat, kommt sie zusammen, um ein Gesetz zu verabschieden, das für viele Ostdeutsche von ähnlich großer Bedeutung ist: das „Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit“.

Ein nahezu allumspannendes Netz der Bespitzelung hat der berüchtigte Inlands- und Auslandsgeheimdienst der DDR (kurz MfS oder Stasi) seit seiner Gründung im Februar 1950 aufgebaut, rund sechs Millionen personenbezogene Akten angesammelt, darunter Briefe, Mitschnitte von Telefongesprächen und sogar Geruchsproben von Oppositionellen.

Vernichten oder bewahren?

Als im Winter 1989/1990 aufgebrachte Bürgerinnen und Bürger die wichtigsten MfS-Zentralen in den Bezirkshauptstädten und den Hauptsitz der Stasi in der Normannenstraße in Berlin-Lichtenberg besetzen und die Abschaffung der Geheimpolizei fordern, müssen sie feststellen, dass die Stasi in den vergangenen Monaten nicht untätig war und viele dieser Akten vernichtet hat. Aber eben längst nicht alle.

Doch wie mit dieser Hinterlassenschaft umgehen? Diese Frage bewegt und spaltet Anfang 1990 die Nation. „Zwar wusste kaum jemand, was wirklich in den Millionen Akten stand“, so der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. „Aber viele Menschen glaubten, dass es am besten sei, alle Akten zu vernichten, weil sie eine ,Zeitbombe' darstellten und das Klima in der Gesellschaft nur vergiften würden. Viele befürchteten gar Racheakte, zu denen es aber niemals kam.“

Entscheidung für die Aufarbeitung

So beschließt am 19. Februar 1990 der so genannte Runde Tisch der DDR, alle elektronischen Datenträger der Staatssicherheit zu vernichten - auch aus Angst, dass sie von anderen Geheimdiensten benutzt werden könnten. Doch schon bald setzt ein Umdenken ein: Im Juli 1990 bringt der Ministerrat einen Gesetzentwurf ins ostdeutsche Parlament ein, in dem die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Stasi-Unterlagen geregelt wird. Ziel ist es, „die politische, historische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit zu gewährleisten und zu fördern“.

Nach erheblichen Änderungen der Vorlage durch den federführenden „Sonderausschuss zur Kontrolle der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit“ steht am 24. August 1990 die Abstimmung über den Gesetzentwurf auf der Tagesordnung der Volkskammer.

„Gesundungsprozesse sind mit Schmerzen verbunden“

Voran geht eine bewegende Debatte, in der zunächst der Vorsitzende des Sonderausschusses, Joachim Gauck (Bündnis 90/Grüne), um Zustimmung für den Gesetzentwurf wirbt: Er werde „Gesundungsprozesse dieser Gesellschaft befördern“, so Gauck. „Bei diesen Gesundungsprozessen wird es, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch Schmerzen geben, und diese Schmerzen sind unvermeidbar“, sagt der Pastor und Bürgerrechtler weiter.

„Wir sind Zeugen solcher Schmerzen auch in unserem Hause. Aber so ist das: Ein schmerzfreier Übergang in die Gefilde der Demokratie ist für Menschen, die unsere Geschichte haben, eben nicht möglich. Das ist tragisch, und das ist manchmal auch schwer, aber ich denke - ich muss mal innehalten, ich will hier nicht Schmerzen das Wort reden – aber ich denke, Schmerzen zu haben statt Beschädigtsein zu leugnen, das kann doch auch etwas mit Würde zu tun haben.“

Datenschutzrechtliche Bedenken der PDS

Fast alle Fraktionen äußern deutlich ihre Zustimmung zu dem Gesetzentwurf. Lediglich der Redner der PDS, Prof. Dr. Uwe-Jens Heuer, äußert datenschutzrechtliche Bedenken. Daher habe seine Fraktion den Antrag gestellt, die Vorlage in die Ausschüsse zurückzuverweisen und dann erst in einer gesonderten dritten Lesung über den überarbeiteten Gesetzentwurf abzustimmen.

Der nachfolgende Redner von der Deutschen Sozialen Union (DSU), Udo Haschke, lehnt das ab und verweist auf die knappe Zeitspanne bis zur Wiedervereinigung. „Sechs Wochen hat dieses Parlament noch Zeit, Dinge zu regeln, die uns wichtig erscheinen. Vieles von dem, was wir uns vorgenommen haben, werden wir einem gesamtdeutschen Parlament überlassen müssen“, so Haschke. „Von Text und Inhalt der Gesetze wird abhängen, ob und wie wir Unrecht aufarbeiten und wenigstens zum Teil wieder gutmachen können, ob wir passive Zeugen unserer Vergangenheitsbewältigung werden oder diese aktiv selbst bewältigen. Noch haben wir es in der Hand.“

„Ein Teil unseres Schicksals und unseres Leides“

Abschließend richtet er „ein bitteres und mahnendes Wort nach Bonn: Nicht nur der Innenminister der Noch-DDR wollte das Gesetz in dieser Form, also Sonderarchive in Verantwortung der Länder, nicht mittragen, auch das Bundesministerium des Innern sperrt sich dagegen.“

Und kommt zu dem Fazit: „An der Art und Weise der Bonner Umstimmungsversuche sehen wir, wie wenig oder gar nicht sensibilisiert Bürger der Bundesrepublik für das in den Stasi-Archiven eingelagerte Material sind. Es ist ein Teil unserer Geschichte, ein Teil unseres Schicksals und unseres Leides. Das bringen wir nach Deutschland mit.“

Zusatzklausel zum Einigungsvertrag

In der Tat will der damalige Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble (CDU) die Stasi-Unterlagen unbesehen vernichten. „Ich habe dazu – genau wie Helmut Kohl – geraten, damit die Streitigkeiten der Vergangenheit nicht zu sehr den Wiederaufbau der Länder und damit die Zukunft belasten“, so Schäuble Jahre später in einem Interview.

Doch die Befürworter des Gesetzes setzen sich nicht nur in der Volkskammer durch, wo es am 24. August 1990 mit einer Gegenstimme und bei wenigen Stimmenthaltungen verabschiedet wird. Sie erreichen auch, dass dem Einigungsvertrag eine Zusatzklausel beigefügt wird.

Gauck wird Sonderbeauftragter

Sie verpflichtet den Bundestag, ein entsprechendes Gesetz nach den Grundsätzen des Volkskammergesetzes zu verabschieden, und die Bundesregierung, einen noch von der Volkskammer nominierten „Sonderbeauftragten für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR“ einzusetzen.

Und so geschieht es: Am 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereinigung, wird nach Beschluss der Volkskammer Joachim Gauck zum Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Stasi-Unterlagen berufen. Die Aufarbeitung dieses „unheimlichen Erbes“ der DDR, wie Gauck es einmal genannt hat, kann endlich beginnen. (nal/17.08.2020)

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