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Bundestagswahl 2021

Artikel

Von Reform zu Reform: Die Suche nach dem „gerechten“ Wahlrecht

Richterstühle mit Richtertisch

Das Bundesverfassungsgericht hat das Parlament mehrfach zur Änderung des Wahlrechts aufgefordert.

© dpa

Bei der Bundestagswahl in diesem Jahr wird über die Verteilung der Abgeordnetensitze nach Gesetzesvorschriften entschieden, die der Bundestag am 8. Oktober 2020 und zuvor schon am 21. Februar 2013 verabschiedet hat. Mit der damaligen 22. Änderung des 1956 ausgefertigten Bundeswahlgesetzes folgte das Parlament Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, das die Wahlvorschriften in Teilen für verfassungswidrig erklärt hatte. Mit der Gesetzesänderung 2020 bekräftigte der Bundestag, an der mit der Wahlrechtsänderung von 2013 eingeführten Sitzzahlerhöhung zum Ausgleich von Überhangmandaten festzuhalten. Die Sitze werden zunächst nach festen Sitzkontingenten der Länder und danach bundesweit verteilt. Damit soll eine „föderal ausgewogene Verteilung der Bundestagsmandate“ gewährleistet werden.

Reaktion auf  Vorgaben der Verfassungshüter

Nicht immer hat der Gesetzgeber das Wahlsystem aus eigenem Antrieb überarbeitet. Mehrfach sah sich die Politik zum Handeln gezwungen, weil das sie von den Karlsruher Richtern dazu gedrängt wurde. Auch mit ihren damaligen Gesetzesänderung reagierten die Fraktionen auf Vorgaben der Verfassungshüter. Im Juli 2012 hatte der Zweite Senat eine von der Regierungskoalition erst im September des Vorjahres durchgesetzte Wahlrechtsreform in maßgeblichen Punkten für verfassungswidrig erklärt (Aktenzeichen: 2 BvF 3 / 11, 2 BvR 2670 / 11, 2 BvE 9 / 11).

Für die gesetzliche Neuregelung spielte außerdem ein zweites, im Juli 2008 verkündetes Verfassungsgerichtsurteil eine wichtige Rolle (2 BvC 1 / 07, 2 BvC 7  /07). Damals machte das Gericht Vorgaben zur Reform des Wahlgesetzes, denen die 2011 in Kraft getretenen Änderungen jedoch nach dem Urteil vom vergangenen Jahr nicht genügten.

Fast dreijährige Frist bis 30. Juni 2011

Im Mittelpunkt des Streits stand der paradoxe Effekt, dass mehr Wählerstimmen für eine Partei unter Umständen zu Mandatsverlusten dieser Partei führen können. Als die Verfassungsrichter deshalb 2008 Korrekturen des Wahlgesetzes forderten, gewährten sie dem Gesetzgeber eine fast dreijährige Frist bis zum 30. Juni 2011. 

Vor allem die Grünen, aber auch die SPD sowie einige CDU-Politiker mahnten jedoch, die Reformarbeiten bereits bis zur Bundestagswahl 2009 abzuschließen. Eine rasche Korrektur sei „unbedingt erwünscht und bei gutem Willen auch möglich“. Andererseits wurde in der CDU vor „einem juristischen Husarenritt“ gewarnt, der die Gefahr einer Wahlanfechtung berge. 

Keine Reform vor der Bundestagswahl 2009

Letztlich unternahmen nur die Grünen einen Gesetzesvorstoß, das Wahlrecht noch vor der Bundestagswahl am 27. September 2009 zu ändern. Unterstützung kam von der Linksfraktion. Auch die SPD, die damals mit den Unionsfraktionen die Regierung stellte, signalisierte Sympathie.

Letztlich votierte die SPD-Mehrheit jedoch gegen die Vorlage der Grünen. Man habe damit rechnen müssen, dass die Union das Vorhaben einer zügigen Reform im von ihr dominierten Bundesrat weiter verschleppen werde, hieß es zur Begründung.

Uneins über Umgang mit Überhangmandaten

Als 2011 neue Anläufe zur Korrektur des Wahlrechts unternommen wurden, machten abermals die Grünen mit einem im Februar vorgelegten Gesetzentwurf den Anfang. Es folgten die SPD und die Linksfraktion mit Reformvorschlägen im Mai 2011. Am 28. Juni 2011, zwei Tage vor Ablauf der vom Verfassungsgericht gesetzten Frist, präsentierte die schwarz-gelbe Koalition ihre Vorlage.

Die Entwürfe reflektierten gravierende Meinungsunterschiede, wie das Wahlrecht den Vorgaben aus Karlsruhe angepasst werden solle. Uneins war man vor allem darüber, wie mit den Überhangmandaten zu verfahren sei. Sachverständige appellierten Anfang September 2011 in einer Anhörung im Innenausschuss des Bundestages an die Politik, eine einvernehmliche Lösung zu finden – wie diese aussehen könne, darüber zeigten sich die Fachleute allerdings selbst uneins. 

Verfassungsbeschwerde des Vereins „Mehr Demokratie“

Mahnend meldete sich der Präsident des Verfassungsgerichts Prof. Dr. Andreas Voßkuhle zu Wort. Man werde nicht zulassen, dass die nächste Bundestagswahl auf  der Grundlage eines verfassungswidrigen Wahlrechts stattfinde. „Wenn Not am Mann ist, dann machen wir es auch selbst“, deutete Voßkuhle die Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung seines Gerichts an.

Am 29. September 2011 wurde das neue Wahlgesetz gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen verabschiedet. Wenige Tage nach seinem Inkrafttreten Anfang Dezember 2011 erhob der Verein „Mehr Demokratie“ im Namen von mehr als 3.000 Bürgern Verfassungsbeschwerde. 

„Kein Grund mehr für Beanstandungen“

Auch SPD und Bündnis 90/Die Grünen strengten Verfahren gegen das reformierte Wahlgesetz an. Bedauerlicherweise sei es der Politik nicht gelungen, rechtzeitig und möglichst einvernehmlich ein neues Wahlgesetz zu verabschieden, kritisierte der damalige Gerichtspräsident in der mündlichen Verhandlung im Juni 2012.

In der ersten Lesung der Vier-Fraktionen-Vorlage (17/11819, 17/12417) hatten sich Vertreter von Union, SPD, FDP und Grünen Mitte Dezember 2012 überzeugt gezeigt, dass das Bundesverfassungsgericht künftig keinen Grund mehr für Beanstandungen haben werde. Als einzige Fraktion stimmte Die Linke in der dritten Lesung gegen das Gesetz. 

Die Reform von 2020

Mit Blick auf die Wahl zum 21. Bundestag sehen die im Oktober 2020 gegen die Stimmen der Opposition beschlossenen Wahlrechtsänderungen (19/22504, 19/23187) vor, die Zahl der Wahlkreise mit Wirkung zum 1. Januar 2024 von 299 auf künftig 280 zu verringern. Da weiterhin eine Regelgröße von 598 Abgeordneten vorgesehen ist, verringert sich die Anzahl der Direktmandate um 19 und die Anzahl der Listenmandate steigt von 299 auf 318. Mit dem Ausgleich von Überhangmandaten soll erst nach dem dritten Überhangmandat begonnen und eine weitere Zunahme auch durch Anrechnung von Wahlkreismandaten auf Listenmandate der gleichen Partei in anderen Ländern vermieden werden.

Die neue Einteilung der Wahlkreise wird durch die ständige Wahlkreiskommission vorgenommen. Dabei wird der erste Zuteilungsschritt so modifiziert, dass weiterhin eine föderal ausgewogene Verteilung der Bundestagsmandate gewährleistet bleibt. Darüber hinaus wurde dem Deutschen Bundestag aufgegeben, eine Reformkommission einzusetzen, die sich mit Fragen des Wahlrechts befasst und hierzu Empfehlungen erarbeitet. Die Kommission soll sich insbesondere mit der Frage des Wahlrechts ab 16 Jahren und der Dauer der Legislaturperiode befassen sowie Empfehlungen für eine gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen und Männern auf den Kandidatenlisten und im Deutschen Bundestag erarbeiten. Ferner sollen Vorschläge zur Modernisierung der Parlamentsarbeit entwickelt werden.

Normenkontrollklage der Oppositionsfraktionen

Die Oppositionsfraktionen im Bundestag FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben gemeinsam im Februar 2021 beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf abstrakte Normenkontrolle und einstweilige Verfügung gegen die Wahlrechtsreform 2020 gestellt.

Ihrer Einschätzung nach verstößt das neue Wahlrecht gegen den Grundsatz der Normenklarheit und durch die Gewährung von drei ausgleichslosen Überhangmandaten gegen die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien. (gel/vom/09.03.2021)

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