Parlament

Von Reform zu Reform: Die Suche nach dem „gerechten“ Wahlrecht

Auf der Richterbank im Sitzungssaal im Bundesverfassungsgericht liegen Barette der Bundesverfassungsrichter des ersten Senats.

Das Bundesverfassungsgericht hat das Parlament mehrfach zur Änderung des Wahlrechts aufgefordert. (picture alliance/dpa | Uli Deck)

Bei der Bundestagswahl wird über die Verteilung der Abgeordnetensitze im Deutschen Bundestag entschieden. Wie genau die Wahl abläuft und wie die Sitze in Umsetzung des Wahlergebnisses konkret verteilt werden, richtet sich insbesondere nach dem Bundeswahlgesetz. Diese Regelungen wurden in den vergangenen Jahren mehrfach geändert. Zuletzt hat der Gesetzgeber mit Änderungen des Bundeswahlgesetzes, die im Wesentlichen am 14. Juni 2023 in Kraft getreten sind, eine umfassende Reform vorgenommen (20/5370, 20/6015). 

Diese dient der Begrenzung der Bundestagsgröße auf 630 Sitze und bewirkt eine deutliche Betonung des Elements der Verhältniswahl und damit der Wahl einer Landesliste einer Partei mit der Zweitstimme. Ob ein Wahlkreisbewerber, der eine relative Mehrheit der Erststimmen im Wahlkreis auf sich vereint, in den Bundestag einzieht, hängt nunmehr davon ab, ob seiner Partei ausreichend Sitze nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen.

Reform 2011 – Reaktion auf Vorgaben der Verfassungshüter

Nicht immer hat der Gesetzgeber das Wahlsystem aus eigenem Antrieb überarbeitet. Mehrfach sah sich die Politik zum Handeln gezwungen, weil sie vom Bundesverfassungsgericht dazu angehalten wurde. 

Für die gesetzliche Regelung spielte zunächst ein im Juli 2008 verkündetes Verfassungsgerichtsurteil eine wichtige Rolle (Aktenzeichen 2 BvC 1 / 07, 2 BvC 7 / 07). Damals machte das Gericht Vorgaben zur Reform des Wahlgesetzes. Im Mittelpunkt stand der paradoxe Effekt, dass mehr Wählerstimmen für eine Partei unter Umständen zu Mandatsverlusten dieser Partei führen können, sogenanntes negatives Stimmgewicht. Als die Verfassungsrichter deshalb 2008 Korrekturen des Wahlgesetzes forderten, gewährten sie dem Gesetzgeber eine fast dreijährige Frist bis zum 30. Juni 2011. 

Erst am 29. September 2011 wurde das neue Wahlgesetz (17/6290, 17/7069) gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen verabschiedet. Damit sollte ein Sitzverteilungsverfahren gefunden werden, bei dem kein negatives Stimmgewicht möglich ist. Kurz nach seinem Inkrafttreten wurden wiederum mehrere Verfahren gegen die neue Regelung beim Bundesverfassungsgericht anhängig. 

Erneute Entscheidung aus Karlsruhe führte zur Reform 2012

Im Juli 2012 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Reform in maßgeblichen Punkten wiederum für verfassungswidrig (Aktenzeichen 2 BvF 3 / 11, 2 BvR 2670 / 11, 2 BvE 9 / 11). Nach wie vor bestehe ein negatives Stimmgewicht. Zudem seien unausgeglichene Überhangmandate nur in einem geringen Umfang mit dem Grundsatz der Verhältniswahl vereinbar. Danach kam es aufgrund eines Gesetzentwurfs der Koalitionsfraktionen und zweier Oppositionsfraktionen (17/11819, 17/12417) zur erneuten Änderung des Bundeswahlgesetzes. 

Mit der Reform wurde insbesondere eingeführt, dass alle Überhangmandate durch Ausgleichsmandate ausgeglichen werden. Die Gesamtzahl der Sitze wird dafür erhöht, soweit dies erforderlich ist, um das Ergebnis der Zweitstimmen im Bundestag vollständig abzubilden. In der ersten Lesung zeigten sich Vertreter von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen im Dezember 2012 überzeugt, dass das Bundesverfassungsgericht künftig keinen Grund mehr für Beanstandungen haben werde. Die Wahlrechtsänderungen ermöglichten jedoch einen stetigen Anstieg der Anzahl der Abgeordneten im Deutschen Bundestag.

Die Reform von 2020

Im Oktober 2020 wurden gegen die Stimmen der Opposition weitere Wahlrechtsänderungen (19/22504, 19/23187) mit dem Ziel der Verkleinerung des Bundestages beschlossen. Mit diesen wurde für die Bundestagswahl zum 20. Deutschen Bundestag festgelegt, dass bis zu drei Überhangmandate ohne Ausgleich hingenommen werden und eine teilweise Anrechnung von Wahlkreismandaten auf Listenmandate der gleichen Partei in anderen Ländern möglich wird. 

Mit Wirkung zum 1. Januar 2024 sollte zudem die Zahl der Wahlkreise von 299 auf künftig 280 verringert werden, wobei die Regelgröße des Deutschen Bundestages von 598 Abgeordneten erhalten bleiben sollte. Diese Änderung wurde 2023 – also bereits vor ihrem Wirksamwerden – wieder aufgehoben.

Normenkontrollantrag der Oppositionsfraktionen

Die damaligen Oppositionsfraktionen im Bundestag FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben gemeinsam im Februar 2021 beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf abstrakte Normenkontrolle gegen die Wahlrechtsreform 2020 gestellt. 

Das Bundesverfassungsgericht hat am 29. November 2023 (Aktenzeichen 2 BvF 1 / 21) das Bundeswahlgesetz in dieser Fassung jedoch für verfassungskonform erklärt und damit insbesondere die Zulässigkeit von bis zu drei ausgleichslosen Überhangmandaten sowie die Vereinbarkeit der Vorschriften mit dem Grundsatz der Bestimmtheit und Normenklarheit bestätigt.

Verkleinerung des Bundestages durch Verhältniswahlsystem – Die Wahlrechtsreform 2023

Im März 2023 beschloss der Bundestag (20/5370, 20/6015) mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP schließlich die jüngste Wahlrechtsänderung, durch die die Verkleinerung des Deutschen Bundestages erreicht werden soll. Die Größe ist zukünftig auf 630 Abgeordnete festgelegt, bei Erhalt der bisherigen 299 Wahlkreise. Die Wahl findet als Verhältniswahl statt, das heißt, die (Zweit-)Stimmen für die Landeslisten der Parteien bestimmen, wie viele Mitglieder aus einer Partei in den Bundestag einziehen können. 

Durch die Zahl der Sitze, die einer Partei aufgrund ihres Zweitstimmenergebnisses zustehen, ist auch bestimmt, wie viele erfolgreiche Wahlkreisbewerber dieser Partei einen Sitz erlangen können. Zur Verteilung der konkreten Sitze einer Partei werden zunächst die Bewerber berücksichtigt, die in ihrem Wahlkreis die relative Mehrheit erzielt haben, und zwar in der Reihenfolge ihres Stimmanteils an Erststimmen. Wenn es mehr Wahlkreisgewinner einer Partei gibt, als dieser Sitze zustehen, dann wird an die Bewerber ohne Deckung durch die Landesliste kein Sitz vergeben, im Ergebnis also an jene mit dem relativ schlechtesten Wahlkreisergebnis innerhalb der Reihung. Falls einer Partei nach dem Zweitstimmenergebnis mehr Sitze zustehen als Wahlkreisgewinner bestehen, werden die übrigen Sitze nach der Landesliste der Partei zugeteilt. Überhang- und Ausgleichsmandate fallen durch dieses System nicht mehr an.

Die Fünf-Prozent-Hürde für die Teilnahme an der Sitzverteilung nach den Zweitstimmen bleibt erhalten, jedoch entfällt die sogenannte Grundmandatsklausel, nach der bislang eine Partei auch dann ins Parlament eingezogen ist, wenn sie zwar weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen, aber in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen hat. 

Auch gegen diese jüngste Novellierung des Bundeswahlgesetzes sind bereits mehrere Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig. (12.01.2024)

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