Parlament

Helene Wessel

Schwarz-weiß Porträtfoto von Helene Wessel (Zentrum), 1898 bis 1969

(© Handbuch des Deutschen Bundestags, hg. Von Fritz Sänger und Bundestagsverwaltung, 1. Wahlperiode 1949/53, 2. Auflage)

Helene Wessel war eine der vier „Mütter des Grundgesetzes“ und die erste weibliche Partei- und Fraktionsvorsitzende Deutschlands. Umstritten ist sie wegen Ihrer Haltung zur Eugenik während der NS-Zeit. Später wurde sie Mitglied der SPD. Bis 1969 gehörte Wessel dem Deutschen Bundestag an.

Helene Wessel gehörte zu den bekanntesten Politikerinnen der Nachkriegszeit, auch wenn sie heute weitgehend vergessen ist. Als „Helene Wechsel“ diffamiert, ist sie von 1945 bis 1957 nacheinander Mitglied in drei Parteien: zuerst in der Deutschen Zentrumspartei (DZP), dann in der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP), zuletzt in der SPD. Doch nicht Wankelmütigkeit zeichnet sie aus, sondern das hartnäckige Festhalten an politischen Zielen, selbst wenn sie damit ins Abseits gerät. 

Helene Wessel wurde am 6. Juli 1898 in Dortmund als viertes Kind des Lokomotivführers Heinrich Wessel und seiner Frau Helene geboren. Über ihre Kindheit und Jugend ist wenig bekannt, außer dass bereits ihr Vater dem Zentrum angehörte und sie in einem katholischen Milieu groß wurde. Nach der Schule machte sie zunächst eine kaufmännische Lehre, danach besucht sie eine private Handelsschule in Dortmund. Ihre spätere Lebensgefährtin Alwine Cloidt, die sie bereits in der Schule kennenlernte, beschrieb sie als lebenslustige junge Frau, die gerne Konzerte und Theateraufführungen besuchte und auf Tanzveranstaltungen ging. Mit 17 Jahren trat sie eine Stelle als Sekretärin und Stenotypistin im Büro der Zentrumspartei in Dortmund-Hörde an. 1917, noch bevor es das aktive und passive Frauenwahlrecht in Deutschland gab, trat sie der Zentrumspartei bei. Ihr Vorgesetzter Johannes Gronowski erkannte das Redetalent seiner jungen Mitarbeiterin und schon bald durfte sie bei kleineren Wahlveranstaltungen auf den Dörfern der Umgebung sprechen. 

1923/24 begann sie eine Ausbildung als Jugend- und Wirtschaftsfürsorgerin und schrieb sich nach einigen Berufsjahren 1929 an der von Alice Salomon gegründeten „Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit“ in Berlin ein. 1931 veröffentlichte sie ihre Diplomarbeit, in der zu dem Schluss kommt, dass ein zu großer Teil der staatlichen Fürsorgemittel für „die volksuntüchtigen (im wirtschaftlichen Sinne unproduktiven) Menschen“ aufgewendet würden. Dazu zählt sie „Minderwertige und Asoziale sowie Arbeitsscheue, Geschlechtskranke und geistig Behinderte“. Die heute in weiten Teilen in Stil und Wortwahl befremdlich anmutende Arbeit stieß in der damaligen Fachwelt auf große Zustimmung. 

1928 wurde sie mit knapp dreißig Jahren als jüngstes Mitglied für das Zentrum in den Preußischen Landtag entsandt. Hier profilierte sie sich schnell als sozialpolitische Expertin und stieg in den geschäftsführenden Vorstand des Zentrums auf. 1933 stimmte sie mit ihrer Fraktion für das Ermächtigungsgesetz, das das Parlament entmachtete und den Weg in die nationalsozialistische Diktatur ebnete. Nach dem Krieg beteuert sie, sie habe gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt, was nachweislich nicht der Fall war. Möglicherweise beruft sie sich dabei jedoch auf die zuvor stattgefundene interne Abstimmung in der Reichstagsfraktion. 1954 schreibt sie in einem Brief an einen Parteifreund, sie habe sich bei der erneuten Vorlage des Gesetzes im Preußischen Landtag der Stimme enthalten, was nicht überprüfbar ist, da es dort keine namentliche Abstimmung gab. 

Zitat: „Frauen müssen sich in die staatsbürgerlichen Aufgaben bewusst und freudig einmischen.“

(© DBT)

Die Nationalsozialisten setzten ihrem parteipolitischen Engagement ein Ende. Sie zog sich aus dem aktiven Politikbetrieb zurück und arbeitete in der Dortmunder Verwaltung des katholischen St. Johannes-Hospitals und für den Katholischen Fürsorgeverein. 1934 veröffentlichte sie die Schrift „Bewahrung – nicht Verwahrlosung: eine eugenische und fürsorgerische Notwendigkeit“. Darin setzte sie sich für die zwangsweise Unterbringung von „biologisch minderwertiger Menschen“, „Asozialen“ und „Erbgeschädigten“ ein. Erneut stießen ihre Thesen auf große, positive Resonanz in der sozialpolitischen Fachwelt, die bereits seit den zwanziger Jahren diese heute als menschenfeindlich betrachteten Ansichten vertritt. Helene Wessel blieb zeitlebens bei ihren Überzeugungen und setzt sich noch als Bundestagsabgeordnete für ein heute rigide anmutendes Verwahrgesetz ein, das schließlich vom Deutschen Bundestag verabschiedet, jedoch später wieder vom Bundesverfassungsgericht kassiert wird. 

1945 gehört sie zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Zentrumspartei (DZP) und wird zur stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. Als eines von vier weiblichen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates zur Erarbeitung des Grundgesetzes tritt sie für ein katholisch geprägtes Elternrecht, die Einführung von Volksentscheiden und ein stark sozialstaatlich ausgerichtetes Grundgesetz ein. Sie und ihr Parteikollege Johannes Brockmann können sich jedoch nicht durchsetzen. Am Ende stimmen zwölf der 65 stimmberechtigten Delegierten gegen eine Annahme des Grundgesetzes, Helene Wessel gehört als einzige Frau dazu. 

Gleich im Anschluss der Beratungen beginnt der Wahlkampf für die erste Bundestagswahl und Wessel zieht mit neun Fraktionskollegen ins Parlament. Konrad Adenauers Versuchen, die Zentrumspartei in eine gemeinsame Regierung zu holen, widersetzt sie sich. Am 15. Oktober 1949 wird sie zur Parteivorsitzenden des Zentrums gewählt, und sie hat zugleich den Vorsitz ihrer Fraktion inne. Helene Wessel ist auf dem Höhepunkt ihrer politischen Karriere angelangt. Doch in den nächsten zwei Jahren überwirft sie sich zunehmend mit ihrer eigenen Partei, die ihre Kritik an der Politik Adenauers, insbesondere an der Wiederbewaffnung, nicht teilt. Im November 1951 tritt sie zurück. Zuvor hat sie mit dem späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann, der aus Protest gegen die Wiederbewaffnung als Bundesinnenminister zurücktrat und die CDU verließ, die „Notgemeinschaft zur Rettung des Friedens in Europa“ gegründet, aus der wenig später die „Gesamtdeutsche Volkspartei“ (DVP) entsteht. Doch bei der Bundestagswahl 1953 kommt die DVP nur auf 1,2 Prozent der Stimmen. Wessel steht politisch und wirtschaftlich vor dem Nichts. Sie findet schließlich eine Stelle beim Deutschen Gewerkschaftsbund. 1957 löst sich die DVP auf und Helene Wessel beschließt, gemeinsam mit Gustav Heinemann, ihrer Lebenspartnerin Alwine Cloidt und weiteren Weggefährten der SPD beizutreten. Im Wahlkampf 1957 versucht sie, katholische Wählerinnen und Wähler für die SPD zu gewinnen und zieht erneut in den Bundestag ein. Bis zu ihrem Tod 1969 bleibt sie Abgeordnete, kämpft gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr und engagiert sich in der Sozial- und Familienpolitik. Sie stirbt mit 71 Jahren an einem Herzinfarkt in einer Bonner Klinik. Pläne der Stadt Dortmund, ihr ein Denkmal zu setzen, werden 2021 verschoben, als in der Presse ihre Arbeiten zum Verwahrgesetz publik werden.

(nw)

Der Text ist entnommen aus dem Buch „Der nächste Redner ist eine Dame“, herausgegeben vom Deutschen Bundestag, erschienen im Ch. Links Verlag, 2024.

Zum Weiterlesen:

Antje Dertinger: Frauen der ersten Stunde. Bonn, 1986, S. 227-239.

Elisabeth Friese: Deutsche Politiker (1949-1969). 17 biographische Skizzen aus Ost und West. S. 163-174.