Parlament

Hib-Meldung vom 27. Juni 2000 zur Rede des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac

„DEUTSCHLAND SOLL EINEN SITZ IM WELTSICHERHEITSRAT ERHALTEN“

Berlin: (hib/BOB-eu) Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac hat den Wunsch seines Landes bekräftigt, dass Deutschland einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen erhält, „in Anerkennung seines Engagements, seines Ranges als Großmacht und seines internationalen Einflusses“.

Chirac würdigte am Dienstagvormittag im Rahmen einer Rede vor dem Plenum des Bundestages zugleich die als historisch bezeichnete Entscheidung der Deutschen, sich erstmals seit über einem halben Jahrhundert bereit zu erklären, Soldaten zu einem (Kampf)einsatz ins Ausland zu entsenden.

Der ethische Anspruch der Europäischen Union, sich für den Frieden und das Ende von Barbarei, für die Würde eines jeden Menschen einzusetzen, rechtfertige es, dass sich Europa unter Achtung seiner Bündnisse künftig die Mittel für eine eigene Außen- und Sicherheitspolitik gebe, so der Staatspräsident.

Mit Blick auf die bevorstehende Ratspräsidentschaft seines Landes in der Europäischen Union führte Chirac weiter aus, die EU sei nach Ansicht vieler Europäer zu abstrakt und kümmere sich nicht um ihre wirklichen Belange.

Dazu zählten Wachstum, Beschäftigung und Ausbildung, Justiz und Sicherheit, die Bekämpfung des illegalen Drogenhandels und der Schlepperkriminalität sowie Umwelt und Gesundheit.

In all diesen Bereichen gelte es bis Ende dieses Jahres weiterzukommen. Die EU müsse zudem demokratischer werden.

Der europäische Einigungsprozess sei bislang allzu sehr das Werk der Politiker und der Eliten gewesen.

Demokratie in Europa müsse nun - insbesondere durch das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente - mit mehr Leben erfüllt werden.

Zudem müssten die Befugnisse zwischen den verschiedenen europäischen Ebenen aufgeteilt werden, ohne diese allerdings ein für allemal festzuschreiben.

Chirac sprach sich ferner dafür aus, solchen Ländern in der EU, die in der Integration weiter voranschreiten wollten, dies auf freiwilliger Basis und bei bestimmten Projekten zu ermöglichen.

Die „Macht Europa“, so Chirac weiter, brauche schließlich solide Institutionen und einen effizienten und legitimen Entscheidungsmechanismus.

Dabei müsse das Mehrheitsvotum „seinen angemessenen Platz“ haben und das jeweilige Gewicht der EU-Mitgliedstaaten spiegeln.

Chirac warnte im Übrigen davor, sich am Ende der derzeit laufenden Regierungskonferenz in der EU mit einer „Einigung zum Billigtarif“ zufrieden zu geben. Dies würde die Union in den kommenden Jahren lähmen.

Der französische Staatspräsident sprach sich in seiner Rede außerdem dafür aus, die deutsch-französische Freundschaft weiter zu vertiefen „und ihr vielleicht sogar einen neuen Impuls“ zu verleihen.

In diesem Kontext schlug er vor, jährlich eine deutsch-französische Konferenz abzuhalten. Dort sollten Verantwortliche aus Politik und Wirtschaft, aus Gewerkschaften und Verbänden sowie Vertreter der Medien und Persönlichkeiten aus dem Kunstbereich zusammenkommen können.

Die Wirtschaftskreise in Frankreich und Deutschland forderte Chirac zudem auf, mit Unterstützung beider Regierungen eine Stiftung zu gründen, in der deutsche und französische Unternehmer und Führungskräfte zusammentreffen könnten.

Des Weiteren regte er an, in Berlin nach dem Vorbild Roms und Madrids ein Institut zu gründen. Dort sollten französische und deutsche Kunstschaffende „in dieser im Wiederaufbau befindlichen Stadt“ nach Inspirationen suchen können und optimale Voraussetzungen für ihre künstlerische Tätigkeit finden.

Der französische Staatspräsident sicherte schließlich zu, Deutsch werde auch weiterhin in Frankreich als eine der ersten Fremdsprachen unterrichtet. Er schlug außerdem vor, den Schüleraustausch zwischen beiden Ländern zu intensivieren.

Zuvor hatte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) daran erinnert, nach François Mitterand im Jahre 1983 sei dies das zweite Mal, dass ein französischer Staatpräsident das Wort an die Abgeordneten des Bundestages richte.

Der vom ganzen Parlament getragene Wunsch sei, dass die Freundschaft und die enge Partnerschaft zwischen Deutschen und Franzosen von Dauer seien. Thierse würdigte in diesem Zusammenhang auch den Einsatz Chiracs für die deutsche Vereinigung.

Mit Blick auf die bevorstehenden Herausforderungen im Rahmen der Reform der EU und deren Erweiterung betonte der Bundestagspräsident, Deutschland und Frankreich müssten dabei erneut den Beweis antreten, dass sie „Motor der europäischen Einigung“ seien.

Der Bundestag werde dazu seinen Beitrag leisten. Thierse plädierte im Übrigen dafür, auf europäischer Ebene die Debatte darüber zu intensivieren, welche Probleme wirklich und unbedingt dort geregelt werden müssten und welche „vielleicht doch viel effizienter, viel bürgernäher, noch demokratischer und transparenter“ auf nationalstaatlicher Ebene und in den Gebietskörperschaften zu lösen seien.

„Es kommt darauf an, ob wir uns zuerst fragen, was wir selbst lösen könnten oder ob wir nur fragen, welche Politik als nächstes nach Brüssel delegiert werden kann“, so der Bundestagspräsident.

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