Parlament

Rede zur Eröffnung des 100. Deutschen Bibliothekartages in Berlin am 7. Juni 2011

Die Einladung zu dieser Veranstaltung habe ich besonders gerne angenommen. Erstens deswegen, weil Bibliothekartage mindestens so anregend und gelegentlich noch unterhaltsamer sind als Parteitage, Gewerkschaftskongresse und gelegentlich auch Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages. Zweitens, weil ein 100. Bibliothekartag natürlich etwas anderes ist als ein 76. oder 101. Und Drittens auch deswegen, weil ich mich gefreut habe, dass Sie in das Veranstaltungsprogramm dieses Jubiläums-Bibliothekartages nicht nur die Bundestagsbibliothek einbezogen haben, sondern, dass - nachweislich der Auskunft auf der Homepage der Organisatoren - die dafür angebotenen Führungen seit langem ausgebucht sind. Das spricht für die Fachkompetenz der Teilnehmer und freut den Hausherren dieser Bibliothek natürlich ganz besonders.

Weil Sie ein ausgeprägtes fachliches Interesse an Bibliotheken und ihren Medien haben, mag es Sie interessieren, dass die Bundestagsbibliothek 1949 mit dem bescheidenen Bestand von 1.000 Bänden ihre Arbeit begonnen hat, jetzt mit mehr als 1,4 Millionen Bänden, einem jährlichen Zugang von ca. 15.000 Bänden und regelmäßigen 7.500 Periodika zu den drei größten Parlamentsbibliotheken der Welt gehört, die sich offenkundig nicht nur bei Parlamentariern einer beachtlichen Reputation erfreut. Und dass das bei Ihnen so ähnlich zu sein scheint, gefällt mir ausgesprochen gut.

Ich habe vor einem halben Jahr etwa, einem guten halben Jahr, im Oktober vergangenen Jahres, die Anfrage der Veranstalter erhalten, ob ich bereit wäre, ein Grußwort an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 100. Bibliothekartages zu richten. Zitat: „…als Zeichen für die politische Unterstützung des Bildungsauftrags der Bibliotheken.“ Ende des Zitats. Da kann man schlecht Nein sagen. Kaum hatte ich Ja gesagt, mutierte das Grußwort zu einem Festvortrag. „…Wir bedanken uns für die freundliche Zusage … freuen uns, dass Sie kommen … noch schöner wäre, wenn Sie schon mal da sind …“. Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee gewesen ist. Sie wissen es spätestens in einer halben Stunde etwas besser.

Fast auf genau den Tag vor 100 Jahren, am 8. und 9. Juni 1911, fand in Hamburg die 12. Versammlung Deutscher Bibliothekare statt. Damals nahmen laut Anwesenheitsverzeichnis 123 Personen teil, darunter acht Vorstandsmitglieder, 72 Vereinsmitglieder und 43 sonstige Teilnehmer. Auf der Tagesordnung standen im Juni 1911 u. a. folgende Punkte:

Versicherung der Wertsendungen der Bibliotheken bei einer Transportversicherungsgesellschaft,

Bericht der Leder-Kommission (Die war nicht etwa nach einem gleichnamigen Bibliothekar benannt, sondern es ging schlicht um Berichte über Einbandleder, über pergamentgewebte Einbandstoffe und Papier.) und schließlich um

die Vergleichung der englischen und amerikanischen Katalogregeln mit der Preußischen Instruktion und die Frage einer internationalen Einigung.

Ein besonderer Programmpunkt des damaligen Bibliothekartages war auch die Besichtigung der Hamburger Stadtbibliothek. Bei dieser Gelegenheit erklärte deren Direktor, Prof. Dr. Robert Münzel, den Teilnehmern die in Hamburg übliche Mahnpraxis bei der Überschreitung der Leihfristen: „Im Punkte der Mahnungen sind wir äußerst liberal, nach der Meinung Fernstehender vielleicht von bedenklicher Lässigkeit. … Einen Gelehrten, der zu seinen Studien ein selten verlangtes Buch dauernd gebraucht, behelligen wir ungern, weisen ihn gelegentlich liebevoll und sanft auf die notwendige Verlängerung hin. Nur einmal im Jahr rufen wir alles zurück. Ich halte dies für keinen Zopf, der möglichst bald abgeschnitten werden müsste, sondern für das berechtigte Komplement der Milde, die während des Jahres waltet.“

Seit damals hat sich manches verändert, diese Milde waltet nur noch selten. Die Zahl der Gelehrten ist größer geworden, die Zahl der Bücher ist geradezu explodiert, die Medienversorgung heute ist mit der Situation vor 100 Jahren weder quantitativ noch qualitativ zu vergleichen.

„Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt.“ Dieser wunderschöne Satz ist leider nicht von mir. Aber schenkt man diesem grandiosen Bekenntnis des großen Buch- wie Bibliothekliebhabers Jorge Luis Borges Glauben, dann öffnen sich für Bibliothekare die Himmelspforten. Dass die Situation vieler Bibliotheken dabei heute von paradiesischen Zuständen nicht nur in Einzelfällen weit entfernt ist, soll auch bei einer Jubiläumsveranstaltung nicht verschwiegen werden - wie der allgemein gültige Hinweis, dass auch im Paradies gelegentlich Gefahren lauern. So hat der Medientheoretiker Herbert Marshall McLuhan, wie Sie alle wissen, schon 1962, vor einem halben Jahrhundert, also übrigens nicht als Einziger, aber so wohl als Erster das „Ende der Gutenberg-Galaxie“ verkündet. Er prophezeite das Verschwinden des gedruckten Wortes und den Beginn des elektronischen Zeitalters, eines virtuellen Universums, beherrscht von den Techniken der „post-printing-era“. Es gehört zur Ironie der anhaltenden Diskussion um die vermeintliche Verfallsgeschichte des Mediums Buch, dass die Ankündigungen der „papierlosen Kommunikation“ und des „Endes des gedruckten Buches“ inzwischen ihrerseits Bibliotheken füllen.

Nun wissen wir ja seit geraumer Zeit aus allen einschlägigen mediengeschichtlichen Untersuchungen, dass in der Regel ein neues Medium die alten nicht verdrängt, wohl aber einen Bedeutungs- und Funktionswandel vorhandener bekannter „alter Medien“ bewirkt. Und so befindet sich auch der deutsche Buchmarkt allen Unkenrufen zum Trotz nach wie vor auf einem erstaunlichen Niveau. Rund 10 Milliarden Euro werden Jahr für Jahr in Deutschland mit Büchern umgesetzt. Das ist nicht ganz die Größenordnung der Automobilindustrie oder der Nahrungsmittelindustrie - was aber vielleicht auch ein eher artifizieller Vergleich ist - , aber es ist das gut 10fache des jährlichen Umsatzes der Kinos in Deutschland. Was mit Blick auf die vermeintlich völlige Umwälzung medialer Interessen und Nutzungen, Informations- und Unterhaltungsaufnahme doch zu einer nüchterneren Betrachtung Anlass gibt.

Bibliotheken sind nach wie vor die am stärksten genutzten Kultur- und Bildungseinrichtungen in Deutschland. Sie verstehen sich nach der Auskunft des Deutschen Bibliotheksverbandes als „zukunftsgerichtete Orte des freien Zugangs zu Informationen und Wissen“. Wir haben etwa 11.000 Bibliotheken in Deutschland, in denen jährlich über 300.000 Veranstaltungen stattfinden. An jedem Werktag gibt es in Deutschlands Bibliotheken 660.000 Besuche, 200 Millionen Besuche folgerichtig in einem Jahr. Über 360 Millionen Medieneinheiten stehen in diesen Bibliotheken bereit und es gibt an die 500 Millionen Ausleihungen jährlich. Das sind schlicht gigantische Größenordnungen, die die - im Übrigen auch vorzeigbaren - Besucher- und Nutzerzahlen anderer Kultureinrichtungen - jedenfalls in Deutschland - nicht nur mühelos erreichen, sondern locker und bei Weitem übertreffen. Und da vorhin aus guten Gründen schon in den Grußworten von den Sorgen die Rede war, die - leider nicht frei erfunden - manche Bibliotheken und manche Bibliothekare mit Blick auf die Finanzausstattung ihrer Einrichtungen und die sich abzeichnenden Zukunftsperspektiven haben, will ich doch unter ausdrücklicher Würdigung dieser Sorgen darauf hinweisen, dass wir uns in Deutschland nach wie vor in einer im historischen wie im internationalen Vergleich beispiellosen und beispielhaften Situation befinden. Es gibt nicht viele Länder auf der Welt, in denen in einer ähnlichen oder gar stärkeren Weise die Förderung von Kunst und Kultur über den Bildungsauftrag hinaus als öffentliche Aufgabe verstanden und wahrgenommen wird, wie das in Deutschland seit Jahrhunderten und damit länger, als es den deutschen Nationalstaat gibt, ganz selbstverständlich der Fall ist. Und Sie müssen auch weit laufen auf diesem Globus, um ein zweites Land zu finden - einschließlich solcher Länder, die wesentlich größer sind und viel mehr Einwohner haben - das sich jährliche, aus öffentlichen Kassen finanzierte Kulturausgaben in einer Größenordnung von fast 10 Milliarden Euro im Jahr leistet.

Ich habe mir noch mal die jüngeren Zahlen angesehen, weil mich als interessierter und engagierter Kulturpolitiker seit vielen Jahren die Vermutung begleitet, wann immer in öffentlichen Haushalten gespart werden müsse, fänden die Sparanstrengungen nirgendwo prominenter, radikaler, konsequenter und zügiger statt als in den Kulturetats. Diese Vermutung ist weit verbreitet und sie ist glücklicherweise in dieser Verallgemeinerung falsch. Ich weiß, dass das für diejenigen, die bei sich zuhause mit genau dieser Situation konfrontiert sind, ein schmaler Trost ist. Aber wir müssen die Verhältnisse im Ganzen im Auge behalten, und so empfehle ich statt einer voreiligen Verallgemeinerung auf signifikante Unterschiede aufmerksam zu machen, die es in der Pflege, Förderung und auch Finanzausstattung gleicher Einrichtungen an verschiedenen Stellen in Deutschland gibt. Diese Unterschiede sind im Übrigen ein stärkeres Argument als eine vermeintlich allgemeine Praxis, die scheinbar überall in gleicher Weise stattfindet.

Ich will in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die Kulturausgaben der öffentlichen Haushalte für Bibliotheken - und bei den Bibliotheken rechne ich jetzt die Hochschulbibliotheken heraus - gegenwärtig um etwa 25 Prozent höher sind als Mitte der 90er Jahre. Und die Bibliotheksausgaben bezogen auf jeden Einwohner sind auch gestiegen: Wir haben 1995 nach dem zweifellos seriösen Kulturfinanzbericht des Statistischen Bundesamtes Ausgaben je Einwohner von 12,17 Euro und hatten schon im Jahre 2007 - das ist die letzte präzise erfasste Zahl - Ausgaben von 15,06 Euro, also wiederum einen Anstieg je Einwohner in einer jedenfalls beachtlichen Größenordnung.

Nun will ich zwei Dinge nicht unterschlagen: Niemand missverstehe meine gerade vorgetragenen Bemerkungen dahingehend, wir gäben in diesem Bereich zu viel aus. Das sage ich ausdrücklich nicht. Alle diejenigen, die an der Stelle meinen, nun wäre es aber eigentlich gut, sollten sich vor Augen halten, dass die Gesamtausgaben aller öffentlichen Hände für das Bibliothekswesen gerade einmal 0,24 Prozent des öffentlichen Gesamthaushalts ausmachen und unser Sozialprodukt, das Bruttoinlandsprodukt, mit ganzen 0,05 Prozent strapazieren. Das ist also nicht zum Erschrecken. Und bietet - mindestens statistisch - „Luft nach oben“.

Und am meisten „Luft nach oben“ bietet der Ländervergleich. Das hat mich selber, offen gestanden, überrascht und auch ein bisschen erschreckt: Dass nämlich die Pro-Kopf-Ausgaben für Bibliotheken in den Ländern zwischen 5,29 Euro und 20,03 Euro schwanken. Der Spitzenreiter ist der Freistaat Sachsen, Berlin liegt in der Spitzengruppe, nicht nur, aber auch wegen des besonders starken Engagements des Bundes für die Bibliotheken in der Hauptstadt. Und wo die 5,23 Euro zu finden sind, verschweige ich jetzt wegen meiner ausgewiesenen Föderalismusfreundlichkeit. Nicht verschweigen will ich dagegen die zunehmende Unsitte von Kommunen und anderen staatlichen Trägern, sich lieber mit Neubauten von Bibliotheken oder Museen zu schmücken als mit deren ordentlicher Personal- und Sachausstattung, so dass nicht selten die höheren Betriebskosten durch eine geradezu absurde Kürzung der Anschaffungsetats gedeckt werden müssen.

Zum Schluss habe ich Ihnen noch drei Zitate mitgebracht, die zur Verdeutlichung des Stellenwertes von Bibliotheken beitragen mögen und gleichzeitig vielleicht auch das Motto dieses 100. Bibliothekartages unterstreichen.

Von Jean-Jacques Rousseau stammt der bemerkenswerte Hinweis: „Als die Goten Griechenland verwüsteten, blieben alle Bibliotheken nur deswegen vom Feuer verschont, weil einer von ihnen die Meinung aufgebracht hatte, man müsse den Feinden diese Dinge lassen, die so geeignet wären, sie von der Kriegsübung abzubringen und sie mit einer müßigen und sitzenden Beschäftigung zu unterhalten.“ Nun ist bei genauem Hinsehen - und Bibliothekare sind ja geschult, genau hinzugucken - diese Bemerkung zwar amüsant und historisch beinahe korrekt, aber nicht wirklich präzise, denn schon die Lektüre findet ja nicht notwendigerweise im Sitzen statt. Und müßig ist sie fast nie.

Von Elisabeth Noelle-Neumann soll der Satz stammen: „Nur eine Gesellschaft, die liest, ist eine Gesellschaft, die denkt.“ Das ist mindestens hübsch formuliert, und noch schöner wäre es, wenn die große Demoskopin für diesen Befund solide empirische Belege hätte. Denn es gibt ja auch Spötter, die behaupten, dass viele Menschen bloß deshalb lesen, damit sie nicht zu denken brauchen. Als Bücherliebhaber gehöre ich selber zu denen, die gerne lesen, weil sie das fürs eigene Denken dringend brauchen. Ich fühle mich durch die Lektüre von Büchern immer wieder in manchen Einsichten auf hohem Niveau bestärkt, die ich auf sehr viel bescheidenere Weise ohnehin zu haben glaubte, und immer wieder auf neue Gedanken gebracht, auf die ich ohne die Lektüre vermutlich nie gekommen wäre. Zweifellos fördern Bücher mehr als andere Medien das Denken. Und weil das so ist, zahlen Bibliotheken sich aus, auch wenn sie sich nicht rechnen.

Und von Heinrich von Kleist, zu dessen 200. Todestag wir in diesem Jahr insbesondere, aber natürlich nicht nur in Berlin erinnern, stammt eine Bemerkung, die ich für das heimliche Motto des 100. Deutschen Bibliothekartages in Berlin halte: „Nirgends kann man den Grad der Kultur einer Stadt und überhaupt den Geist ihres herrschenden Geschmacks schneller und doch zugleich richtiger kennen lernen als in den Lesebibliotheken“.

Meine Damen und Herren, das war es. Ob das eine Festrede war, weiß ich nicht, aber „ein Zeichen für die politische Unterstützung des Bildungsauftrags der Bibliotheken“ war es hoffentlich, jedenfalls war es so gemeint.

Marginalspalte