Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zum Festakt 25 Jahre deutsch-russisches Kriegsgräberabkommen am 12. Dezember 2017
Anrede
1992 schien vieles möglich. Es war eine Zeit der Hoffnung. Der Kalte Krieg war überwunden, die Teilung in Ost und West galt als aufgehoben. Die neue Welt versprach Stabilität, Rechtsstaatlichkeit und Frieden – vor allem: neue Kooperationen. Auch zwischen unseren beiden Ländern, Deutschland und Russland.
Das Fundament, auf dem die neuen Beziehungen aufbauen sollten, war frisch: der „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“ von 1990 – unterzeichnet am 9. November, damals noch mit der Sowjetunion. Er ging dem deutsch-russischen Kriegsgräberabkommen voraus.
Zuversicht – das ist es, was aus ihm spricht. Beide Seiten gaben dem Wunsch Ausdruck – ich zitiere:
„mit der Vergangenheit endgültig abzuschließen und durch Verständigung und Versöhnung einen gewichtigen Beitrag zur Überwindung der Trennung Europas zu leisten“.
„Die Trennung Europas überwinden“ – wir waren damals optimistischer als heute. Aber gerade weil uns derzeit politisch manches trennt, sollten wir uns an die damalige Hoffnung erinnern. Daran, wo wir schon einmal gemeinsam standen. Vor allem: Wie weit wir auf mancher Ebene dann doch gekommen sind – gemeinsam. Das Kriegsgräberabkommen zeigt es uns.
1992 standen die Russische Föderation und das wiedervereinigte Deutschland an einem Neuanfang. Beide Staaten – so unterschiedlich sie waren – suchten ihre Rolle in einer grundlegend veränderten Welt. In dieser Situation gingen sie einen großen Schritt aufeinander zu. Das war keine diplomatische Routine. Herr Schneiderhan hat es gesagt: Die Unterzeichner wagten etwas. Und wir Deutsche haben die uns zur Versöhnung ausgestreckte Hand dankbar genommen.
Wir verpflichteten uns gemeinsam zum würdigen und friedensstiftenden Totengedenken. Weil wir erkannten, wie wichtig die Erinnerung an die beiden Weltkriege ist – und wie stark die Mahnung der Gräber zum Frieden in Europa. „Nie wieder!“.
Nirgends ist diese Botschaft des „Nie wieder!“ eindrücklicher als auf den Gräberfeldern. Und sie gilt weiterhin.
Mit der Vergangenheit „abschließen“ zu wollen: Dieser Wunsch ist illusorisch. Die Vergangenheit lässt sich nicht begraben oder beenden. Das spüren wir gerade hier, im Deutsch-Russischen Museum. Wo 1945 die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet wurde. Wo Russen und Deutsche damals wie heute gemeinsam daran arbeiten, die Schrecken des Krieges zu vermitteln. Das ist übrigens ziemlich einmalig. Auch dieses Museum verdanken wir einem deutsch-russischen Vertrag. Und auch das ist gelebte europäische Versöhnung.
Wir können aus der Geschichte lernen. Und das sollten wir.
Auch aus den Fehlern, die erst in den vergangenen Jahren gemacht wurden, von beiden Seiten: Russland und dem Westen.
Die Weltordnung ist mit Ende des Kalten Krieges ja nicht stabiler, sondern vor allem komplizierter, unberechenbarer geworden. Die internationalen Beziehungen sind auf andere Weise schwierig – auch im Verhältnis unserer beiden Staaten. Trotzdem: Das Kriegsgräberabkommen verbindet uns – und das seit 25 Jahren.
Das Totengedenken ist Bestandteil unserer Kultur – in Russland wie in Deutschland. Das Innehalten, das Schweigen am Grab, das ist uns gemeinsam. Die Tonlage des Erinnerns an den Zweiten Weltkrieg muss unterschiedlich sein – auf deutscher Seite verbietet sich jedes militärische Heldengedenken. Die Kriegsgräber sind für uns auch Orte für Reue und Scham.
Unser Land bekennt sich zur deutschen Schuld am Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Wir nehmen im Bundestag unsere Verantwortung wahr, die deutschen Verbrechen nicht zu vergessen. 2014 zum Beispiel erinnerte der Schriftsteller Daniil Granin in der Gedenkstunde zum 27. Januar an die Belagerung Leningrads – in bewegenden Worten eines Überlebenden.
Wir pflegen und erhalten die sowjetischen Gräber und Ehrenmale. Wir identifizieren die Toten – und dokumentieren die Orte, an denen sowjetische Soldaten starben. Vor allem erkennen wir zugefügtes Leid an. Inzwischen gibt es eine zumindest symbolische Entschädigung für die wenigen Überlebenden – auch wenn es lange gedauert hat, für die meisten zu lange.
2001 sprach mit Wladimir Putin das erste Mal ein russisches Staatsoberhaupt im Deutschen Bundestag. Er hielt seine Rede weitgehend auf Deutsch. Sie beeindruckte, auch sie weckte Erwartungen. Putin verwies auf die besonderen Gefühle der Russen für Deutschland. Und er betonte, dass die Geschichte wie der Ozean nicht nur trennt, sondern auch verbindet.
Die Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen zeigt, wie eng wir in Europa miteinander verknüpft sind. Im Guten wie im Bösen. Verknüpft lange Zeit über die Dynastien, ihre Heiratspolitik, ihre Bündnisse, ihre Kriege – verheerende Kriege, denen auch Völker in unserer Nachbarschaft zum Opfer fielen, vor allem die Polen, aber auch die baltischen Nationen. Selbst noch bei Friedensschlüssen.
Verknüpft durch den wirtschaftlichen Austausch und durch die engen kulturellen Beziehungen, die wechselseitige Inspiration in den Künsten, eine sich berührende Ideengeschichte. Und dann die Oktoberrevolution vor 100 Jahren: Undenkbar ohne die Lehren von Karl Marx – und sicher wäre sie auch anders verlaufen, hätte es nicht den berühmten verplombten Eisenbahnwaggon gegeben, in dem Lenin das Deutsche Reich auf dem Weg ins revolutionäre Petrograd durchquerte. Was folgte, bestimmte Russland auf Jahrzehnte – und mit der entstehenden Sowjetunion den Kontinent, die Welt.
Das „Jahrhundert der Extreme“ prägte die Konfrontation der Ideologien – zwischen Faschismus und Stalinismus, dann im Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und dem Westen. Der Eiserne Vorhang trennte Europa – Russen und Deutsche blieben Gefangene im Konflikt der Systeme.
Als Putin 2001 vor dem Bundestag sprach, schien das überwunden. Der russische Präsident äußerte damals die Hoffnung, nun ließen sich (Zitat) „demokratische Prinzipien in den internationalen Beziehungen“ verwirklichen. Davon sind wir weit entfernt – auch in Europa, wo wieder Krieg geführt wird. Und wo die territoriale Integrität souveräner Staaten erneut in Frage gestellt ist. Wo die politische Lage den Dialog so erschwert, sind Kontakte auf anderer Ebene umso wichtiger. Denn wir wollen doch zusammenarbeiten.
Die Menschen unserer Länder begegnen sich, sie engagieren sich. Die Arbeit des „Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge“ und des russischen „Verbands für internationale Zusammenarbeit bei der Pflege von Soldatengedenkstätten“ ist beispielhaft für ein friedliches Miteinander. Sie zeigt, wie weit wir trotz aller Schwierigkeiten in der deutsch-russischen Annäherung gekommen sind – zivilgesellschaftlich, bei der Jugendarbeit und im Einsatz von Soldaten beider Staaten bei Umbettungen und der Pflege der Gräberfelder.
Maxim Gorki hat einmal gesagt: „Nicht im Kopf, sondern im Herzen liegt der Anfang.“ Viele Anfänge sind gemacht, viele Herzen schlagen für eine Verständigung. Es gibt den Petersburger Dialog, es gibt eine deutsch-russische Geschichtskommission, der Botschafter hat sie erwähnt, die hier in prominenter Besetzung vor zwei Wochen tagte. Und es gibt ein deutsch-russisches Schulbuch. Denn auf die heutige Jugend wird es beim Erinnern in der Zukunft ankommen.
Wir machen uns dennoch keine Illusionen: Gerade die gemeinsame Geschichtsbetrachtung und das gemeinsame Erinnern sind schwierig. Und es bleibt schwierig, wenn wir die Mahnung wirklich ernst nehmen, die von den Gräbern ausgeht. Und deshalb dürfen wir nicht vergessen, warum wir Erinnerungen pflegen, warum wir der Toten gedenken: der gefallenen Soldaten, der zu Tode gekommenen Kriegsgefangenen und der gestorbenen Zwangsarbeiter.
Sie würdig zu bestatten, den einstigen Kriegsgegnern Grabsteine mit ihren Namen zu geben und Namenlose vor dem Vergessenwerden zu bewahren: Das sind Akte der Menschlichkeit, das sind Akte der Versöhnung und das sind Akte, die in eine friedliche Zukunft weisen.
Das deutsch-russische Kriegsgräberabkommen ist von hoher Bedeutung. Denn die Vergangenheit wirkt nach – auch wenn die Weltkriege lange zurückliegen. Die Reaktionen auf das Gedenken am Volkstrauertag in einigen Teilen der russischen Gesellschaft haben das gezeigt. Wolfgang Schneiderhan hat Recht, wenn er fordert, junge Menschen müssten ermutigt werden, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Dazu braucht es Wissen. Aber gerade Gefühle können einen Zugang vermitteln. Die Wissenschaft liefert die Fakten – über die Kriegsursachen und den Kriegsverlauf. Erforscht sind die gezielten Morde, die von Deutschen begangen wurden, als Menschen slawischer Herkunft das Lebensrecht abgesprochen wurde. Die Aussagen von Zeitzeugen sind dokumentiert. Wir wissen heute viel über die perfide Logik von Ideologie und Krieg. Das ist die Seite der Vernunft. Schon sie ist von enormer Komplexität. Und dann erst die Seite der Gefühle. Die Geschichte wirkt doch immer auch emotional. Das macht es nicht einfacher, im Gegenteil.
Lange hat es gedauert, bis die Gesellschaft in der Bundesrepublik den 8. Mai 1945 als Befreiung akzeptieren konnte. Erst vierzig Jahre nach Kriegsende traf die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker auf offene Ohren – und sie wurde auch da noch kontrovers diskutiert.
Im Umgang mit der Vergangenheit werden Verletzungen sichtbar. Nicht alle Wunden sind verheilt. Das gilt für die Erinnerungen der Völker und es gilt für das Gedächtnis in den Familien. Und auch die Urteile der Nachgeborenen sind emotional, wenn sie sich heute der Geschichte stellen. Einzelschicksale offenbaren die Empfindsamkeiten. Und dass Urteile – oder Verurteilungen – differenziert ausfallen müssen.
Es gibt am Gesamturteil über den Zweiten Weltkrieg keinen Zweifel. Dieser ideologisch und rassistisch motivierte Angriffs- und Vernichtungskrieg ging von Deutschland aus. Er brachte unermessliche Grausamkeit, Mord und Zerstörung. Das ist eindeutig. Un-eindeutig aber können die individuellen Schicksale der Toten sein. Das ist bis heute mitunter schwer zu ertragen. Hier zeigt sich, dass die Kategorien von „Opfer“ und „Täter“ auch nicht immer ganz treffen. Dass die vermeintlich eindeutige Zuschreibung von Schuld in unzähligen, individuellen Varianten auftauchen kann.
Das gehört auch zum wahrhaftigen Totengedenken. Die deutsche Schuld mindert es nicht. Nie und nimmer.
„Der Tod hebt alle Eide auf“, schrieb Friedrich Schiller. Die Kriegsgräber mit den Namen der toten Soldaten auf ihrer letzten Ruhestätte sind eine Respektbezeugung – Respekt aus unserem Verständnis von der Würde des Menschen.
Der Würde jedes einzelnen, ob er durch Waffengewalt zu Tode kam, in Kriegsgefangenschaft, als Zwangsarbeiter oder ob er an den Kriegsfolgen starb, ob er Russe war, Pole, Franzose oder Deutscher. Die Würde des Menschen ist universell.
Respekt für die Toten. Ihre Geschichte verbindet uns über den Gräbern. Sie verpflichtet uns, Trennendes zu überwinden, Zusammenarbeit zu vertiefen. Dieser Verpflichtung kommen wir mit der Kriegsgräberpflege nach. Und das ist gut. Es hat mich am Volkstrauertag sehr bewegt, dass viele junge Menschen sich dieser Aufgabe stellen.
Allen, die seit 25 Jahren daran teilhaben, gebührt unser Dank, Deutschen und Russen. Denn sie lassen den Opfern von Krieg und Gewalt gemeinsam Gerechtigkeit widerfahren.
In ihnen lebt die Hoffnung. Und vor allem der Optimismus, den wir brauchen, um ein Miteinander zu gestalten, das nicht allein in den Verträgen existiert, sondern an einer besseren Zukunft baut.