17.01.2019 | Parlament

Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zur Begrüßung bei der Feierstunde „100 Jahre Frauenwahlrecht“ im Deutschen Bundestag

[Es gilt das gesprochene Wort]

Herr Bundespräsident!
Sehr geehrte Frau Büdenbender!
Frau Bundeskanzlerin!
Herr Bundesratspräsident!
Herr Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts!
Exzellenzen!
Sehr geehrte Frau Prof. Süssmuth!
Sehr geehrte Frau Dr. Bergmann!

Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen ----Pause --- und Herren!

Am 13. Dezember 1972 wählte der Deutsche Bundestag die Sozialdemokratin Annemarie Renger zur Präsidentin. Es war ein historisch denkwürdiger Tag – und mein erster Tag als Bundestagsabgeordneter. Annemarie Renger war die erste Frau an der Spitze eines frei gewählten Parlaments überhaupt. Gewählt von einer Volksvertretung, in der nur knapp 6 Prozent Frauen waren – ein zuvor und danach nicht wieder erreichter Tiefstand. „Der erste weibliche zweite Mann im Staat“, lautete eine der unbeholfenen Schlagzeilen von damals. Nicht nur die Journalisten mussten sich an eine Bundestagspräsidentin erst gewöhnen. 

Annemarie Rengers Geburtstag jährt sich im Oktober zum hundertsten Mal. Sie ist im selben Jahr auf die Welt gekommen, in dem die Frauen in Deutschland das erste Mal von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen konnten: Bei der Wahl zur verfassungsgebenden Weimarer Nationalversammlung am 19. Januar 1919. Fast auf den Tag genau vor 100 Jahren.

Wir feiern heute etwas Selbstverständliches: Dass Frauen Staatsbürgerinnen sind. Dass sie sich an der Gestaltung von Staat, Politik und Gesellschaft ebenso beteiligen können wie Männer. Dass sie dieselben Rechte haben. Es dauerte lange, bis dieses Postulat in Recht gegossen wurde. Und noch länger dauerte es, bis aus formalen Rechten selbstverständliche gesellschaftliche Wirklichkeit wurde. 

Der Kampf um Freiheit und Demokratisierung war über Jahrzehnte ein Kampf für die Rechte der männlichen Hälfte der Bevölkerung. Bis die Frauen es selbst in die Hand nahmen. Sich in Vereinen organisierten, öffentlich Forderungen stellten, ein breites, auch internationales Netzwerk knüpften. Bis die verschiedenen Strömungen der Frauenbewegung gemeinsam Druck für das Frauenwahlrecht machten – über weltanschauliche Differenzen hinweg.
Das aktive und passive Wahlrecht wurde den Frauen von Männern gewährt. Aber erstritten – erkämpft! – haben es sich die Frauen selbst.

Sie fanden dafür bis kurz vor Ausbruch der Revolution kaum Verbündete – auch in den politischen Parteien nicht. Eine einzige Partei hatte sich das Frauenwahlrecht offiziell ins Programm geschrieben. Hohe Priorität genoss die Forderung aber auch dort nicht. Ein sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter räumte noch im November 1918 ein, man habe nicht so sehr für das Frauenwahlrecht gekämpft, weil man vermutete, am stärksten würden die konservativen Parteien davon profitieren. Wahlrechtsfragen waren immer schon Machtfragen.

Viele Zeitgenossen waren ohnehin davon überzeugt, dass die Frauen selbst dieses Recht gar nicht haben wollten. Was für ein Irrtum! Als Frauen das erste Mal ihre Stimme abgeben durften, nutzten weit über 80 Prozent ihr neues Recht. 37 Frauen wurden in die Weimarer Nationalversammlung gewählt; sie stellten fast 9 Prozent der Abgeordneten. – Das mag nicht allzu viel erscheinen. Aber zum Vergleich: Der Anteil der Frauen im Deutschen Bundestag überstieg die Zehn-Prozent-Marke erstmals mit Beginn der 11. Wahlperiode – 1987. 

Verfassung und Recht sind das eine. Das andere ist die Veränderung gesellschaftlicher Normvorstellungen. Die lässt sich nicht verordnen. Von den ersten Frauen im nationalen Parlament bis zur ersten Frau in einer bundesdeutschen Regierung verging wieder fast ein halbes Jahrhundert. Elisabeth Schwarzhaupt wurde 1961 Bundesministerin für Gesundheitswesen – nachdem die Unionsfrauen mit vereintem Druck den Widerstand von Bundeskanzler Konrad Adenauer gebrochen hatten. 
Nicht nur die meisten Männer, auch mehr als zwei Drittel der Frauen hielten es Mitte der 1960er Jahre nicht für „normal“, dass Frauen berufstätig sind. „Für Mann und Kinder sorgen“ – das war für fast 90 Prozent der befragten westdeutschen Frauen das vorrangige Lebensziel. Politisches Engagement oder gar die Übernahme politischer Ämter ließen sich damit kaum vereinbaren – zumal unter den damaligen Rahmenbedingungen.

Der Wandel der allgemeinen Vorstellungen über die Rolle der Geschlechter dauerte lange – bei Männern, aber auch bei den Frauen selbst. Und er dauert an. 

„Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Diesen Anspruch formuliert das Grundgesetz in Artikel 3. Um diesen Satz wurde vor 70 Jahren im Parlamentarischen Rat hart gerungen. Wir verdanken ihn der Hartnäckigkeit Elisabeth Selberts, einer der vier Mütter des Grundgesetzes, und dem von ihr mobilisierten weiblichen Teil der Öffentlichkeit.
Nach der Wiedervereinigung waren es wiederum Frauen, die sich erfolgreich für die Ergänzung dieses Grundgesetzartikels stark machten, darunter der Deutsche Frauenrat als Dachverband bundesweiter Frauenorganisationen. Seit 1994 verpflichtet Artikel 3 den Staat ausdrücklich zum Handeln.

Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ist ein unaufgebbarer Grundsatz unserer Verfassung. Er ist damit von allen zu akzeptieren, die Teil dieser Gesellschaft sein wollen. Diesen Anspruch müssen wir auch jenen zumuten, denen er aus kulturellen oder religiösen Gründen fremd ist. – Wohl wissend, dass er auch bei uns nicht von heute auf morgen gesellschaftlich akzeptiert war. 

Wohl wissend auch, dass es mit Blick auf die Gleichstellung von Männern und Frauen noch einiges zu tun gibt – nicht zuletzt in Politik und Parlament. Der gesunkene Anteil von Frauen in diesem Hause, ihre unterdurchschnittliche Beteiligung in allen Parteien, die viel zu geringe Zahl von Bürgermeisterinnen und Landrätinnen erinnern uns daran. Auch wenn Frauen längst in politischen Spitzenpositionen zu Hause sind: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Da hat die Bundeskanzlerin recht. Und auch zwei oder drei oder vier noch nicht.  

Bei aller Auseinandersetzung um die richtigen Mittel und Wege zur tatsächlichen Gleichstellung werden wir um eine Erkenntnis wohl nicht herum kommen: Dass wir die für unsere Gesellschaft unverzichtbaren Tätigkeiten, die auch heute noch ganz überwiegend Frauen unbezahlt verrichten, anders aufteilen müssen: Kindererziehung, Hausarbeit, Pflege. Eine weithin akzeptierte Erkenntnis, an deren Umsetzung Männer gelegentlich mit Nachdruck erinnert werden müssen. Erst wenn Frauen und Männer wirklich frei entscheiden können, wo sie die Prioritäten in ihrem Leben setzen wollen, ohne auf Beruf oder Familie oder gesellschaftliches Engagement zu verzichten, ist das Ziel erreicht. Die Geschichte der Emanzipation von Frauen lehrt: es könnte noch ein längerer Weg sein. Aber mit Blick auf die starken, selbstbewussten Frauen, die wir in diesem Land haben, ist mir um den Erfolg nicht bange. 

Zwei dieser Frauen werden gleich zu uns sprechen: Rita Süssmuth, die erste Bundesfrauenministerin und frühere Bundestagspräsidentin, und Christine Bergmann, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in der ersten rot-grünen Bundesregierung. 

Zuvor hören wir die Schauspielerin Susanne-Marie Wrage. Sie leiht Marie Juchacz ihre Stimme und liest Auszüge aus der ersten Rede einer Frau vor einem demokratisch gewählten deutschen Parlament: Am elften Sitzungstag der Weimarer Nationalversammlung trat die SPD-Abgeordnete Juchacz ans Pult und begrüßte das Plenum mit der Anrede „Meine Herren und Damen!“ So selbstverständlich – und doch damals revolutionär.

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