21.01.2019 | Parlament

Festvortrag von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble im Rahmen des 8. Berliner Demografie-Forums zum Thema: „Vielfalt - Gleichwertigkeit - Zusammenhalt. Perspektiven für Deutschland und Europa“

[Es gilt das gesprochene Wort]

Wir leben in unruhige Zeiten.

Können wir die Herausforderungen meistern? Oder erlebt gerade das Modell des ‚Westens‘ – also Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit –eine existenzgefährdende „Systemüberlastung“? So wie 1989 der Kommunismus?

Das sind nicht meine Fragen. Sie stellt Hans Magnus Enzensberger – und kommt zu dem deprimierenden Befund, auch dem Westen habe „die Stunde geschlagen“. Seine baldige Selbstzerstörung sei sogar wahrscheinlich.  

Der Schriftsteller traf diese Einschätzung allerdings nicht heute oder gestern, sondern bereits vor 26 Jahren – in seinem Buch „Aussichten auf den Bürgerkrieg“. Darin prophezeite er den westlichen Gesellschaften als ‚Sieger‘ des Kalten Krieges zunehmende demographische Probleme, wachsende soziale Spannungen und nachlassenden Zusammenhalt. Immer mehr ich-bezogene Gruppen würden zu Gewalt greifen, um ihre Interessen durchzusetzen. Es drohten „kollektive Amokläufe“ – zuerst in den Metropolen, namentlich „in Paris und Berlin, in Detroit und Birmingham, in Mailand und Hamburg.“

Zum eskalierenden Flächenbrand, den Enzensberger an die Wand malte, ist es bislang zum Glück nicht gekommen. Aber zu blutigen Unruhen in gespaltenen Gesellschaften und zu gewaltsamen Protesten von links und rechts schon – in den USA, in Europa, auch bei uns in Deutschland. Die Krawalle beim G20-Gipfel 2017 in Hamburg und rechtsextremistische Ausschreitungen stehen dafür. In Frankreich sieht sich die Regierung seit Monaten heftigen Attacken der ‚Gilets jaunes‘ ausgesetzt.

Dennoch: Wir sollten uns der Schwarzmalerei über die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaften nicht ergeben – selbst wenn sie von einem unbestritten klugen Kopf stammt. Im globalen Vergleich erweisen sich die westlichen Demokratien noch immer als Hort von Stabilität, Wohlstand und sozialer Sicherheit. Die Antwort auf Schwarzmalerei ist jedoch auch nicht die ‚Rosarote Brille‘, sondern der nüchterne Blick auf die Wirklichkeit.

Und da spüren wir doch alle: Unsere, die offenen Gesellschaften stehen tatsächlich unter Druck, die freiheitlichen Demokratien werden einem Stresstest unterzogen. Grund dafür sind tiefgreifende Veränderungen in vielen Lebensbereichen – und das in immer schnellerem Tempo. Mit der Folge, dass im Bewusstsein der Menschen die Chancen, die jeder Wandel bietet, gegenüber den womöglich damit verbundenen Risiken zurücktreten. Veränderungen werden nicht mehr als normal empfunden, geschweige denn als positiv. Sie wirken vielmehr verstörend und auf viele disruptiv – mit weitreichenden Konsequenzen für den einzelnen Menschen und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das Gefühl breitet sich aus, dass etwas aus den Fugen geraten ist. Dass die Welt uns immer näher rückt, und sich dadurch unsere vertraute Um-Welt grundlegend verändert. Dass auch wir Verlierer des globalen Wettbewerbs werden könnten.

Obwohl es unserem Land gegenwärtig objektiv so gut geht wie nie zuvor und die meisten Menschen dies auch so sehen, beherrscht viele die Angst, unseren Kindern und Enkeln werde es schlechter gehen. Dominiert Zukunftspessimismus. Die Freiheiten, die wir in unseren offenen Gesellschaften haben, durch die Globalisierung und die neuen Kommunikationsmittel, können überfordern.

Glück und Zufriedenheit der Menschen entscheiden sich eben nicht alleine an der Frage, wie viele und welche Autos in der Garage stehen. Nicht daran, wie viele Reisen man sich leisten kann, in die exotischsten Länder der Welt. Nicht einmal daran, wie viele „Likes“ man in Sozialen Medien sammelt.

Glück und Zufriedenheit der Menschen entscheiden sich daran, ob man sein Leben so führen kann, dass man mit sich im Einklang ist. Dass man Bindungen erfährt, sich verwurzelt fühlt, geborgen ist, dass man Halt hat, ein Zuhause. Es gibt doch das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, den Drang, sich zu identifizieren mit etwas.

Das ist keine Frage des Entwicklungsstandes eines Landes, das ist eine anthropologische Konstante. So ist der Mensch. Er fürchtet und fühlt Entwurzelung hier genauso wie in Ländern, denen es materiell schlechter geht als uns.

Wohlstand und auch Armut sind sehr relative Begriffe, so wie das Glück. Der Hinweis auf unseren Wohlstand, erst Recht im internationalen Vergleich, löst deshalb die Probleme nicht. Und die Zahl materieller Güter weiter zu mehren, macht allein auch noch nichts besser. Das ist eine Fehleinschätzung, der die Politik allzu gerne erliegt. Thorstein Veblen, der aus Skandinavien stammende Vater der US-amerikanischen Institutionenökonomie, erkannte bereits 1899, dass es für die meisten Menschen nicht wichtig ist, genug zu haben, sondern vor allem mehr zu haben als der Nachbar!  

Demgegenüber braucht es den gestalterischen Willen, eine Balance zu finden zwischen Wohlstandsmehrung und gerechter Verteilung. Zwischen unaufhaltsamer Veränderung und notwendigem Halt. Verantwortliche Politik muss den Menschen das Gefühl geben, dass ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden: Sicherheit, der Erhalt sozialer Bindungen, Zusammengehörigkeit.

Gerade europäische Gesellschaften zeichnete doch lange eine Kultur der Mäßigung aus, in Deutschland wirkmächtig durch die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft. Die Freiburger Schule konzentrierte sich auf den Menschen und seine Bedürfnisse und ihr Kanon ordoliberaler Regeln garantierte über viele Jahrzehnte den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mit Maß und Mitte als Leitprinzip. Mit dem Anspruch: Nichts übertreiben. Das braucht es auch heute. Und dazu: Mehr Gelassenheit gegenüber dem Wandel! Statt uns von der äußeren Hektik beschleunigter Veränderungen anstecken und verunsichern zu lassen, müssen wir uns auf das Wesentliche konzentrieren, dem Wandel Gestalt geben, ihn auch entschleunigen, wo das möglich ist. Es braucht wieder mehr Langsamkeit – im Sinne Solons, des antiken Gesetzgebers, der es für klug hielt, ein Land nicht schneller verändern zu wollen, „als das Volk ertragen kann.“

Kurz: Auch im Wandel muss der Mensch Mensch bleiben können.

So muss der Wandel gestaltet werden. Damit die Menschen Schritt halten, mit den Veränderungen fertig werden können.

Das gilt national wie global.

Wir müssen den technologischen Fortschritt, wie wir ihn erleben, und die fortschreitende Entwicklung in anderen Regionen der Welt mit dem Befinden der Menschen in Einklang bringen. Um sie nicht zu überfordern. Um sie ernst zu nehmen: Mit ihren Traditionen, ihrer Kultur.

Umso mehr, als die Gleichzeitigkeit weltweit sehr ungleicher Zustände die Situation noch verschärft. Die globale Verfügbarkeit von Informationen in Echtzeit verstärkt die zumindest subjektive Wahrnehmung von sozialen Unterschieden und Ungleichheiten – innerhalb unserer Gesellschaft, aber auch zwischen den westlichen Gesellschaften und anderen Regionen der Welt.

Was an einem Punkt der Erde passiert, hat längst vielfältige Auswirkungen auch auf andere Länder, andere Wirtschaftsräume, Gesellschaften und Individuen. Mit den weltweiten Migrationsbewegungen und dem internationalen Terrorismus rücken uns Kriege und Konflikte, aber auch Ungleichheit und Perspektivlosigkeit in entfernten Regionen plötzlich sehr nahe.

Deshalb reden wir derzeit viel über die Folgen der Migration, nicht zuletzt für den Zusammenhalt in unseren Gesellschaften. Diese Verständigung ist enorm wichtig. Migration hat aber noch mehr Facetten. Sie betrifft nicht nur das Verhältnis von In- und Ausländern. Migration gibt es auch innerhalb von Staaten und Gesellschaften. Diese Binnenbewegungen sollten wir nicht vernachlässigen. Gerade mit Blick auf die besondere Entwicklung in den ostdeutschen Bundesländern.

Hier lösten Wanderungsbewegungen in den letzten Jahrzehnten gewaltige Veränderungen aus. Die Abwanderung jüngerer, gut ausgebildeter und bürgerlich geprägter Bevölkerungsgruppen hatte lange vor dem Fall der Mauer begonnen und zur Erosion der DDR beigetragen. Beides – die erhebliche Abwanderung und der spätere Zuzug von Westdeutschen, nicht zuletzt in Leitungsfunktionen – hat psychologische Auswirkungen. Auch daher rührt ein verbreitetes Gefühl von Heimatverlust und Zurücksetzung. Der Eindruck schwindenden Zusammenhalts.

Der unterschiedlichen Erfahrungen, die die Menschen nicht nur vor dem Mauerfall, sondern auch im Transformationsprozess nach der Wiedervereinigung gemacht haben, muss sich diese Gesellschaft ebenso stellen wie den unterschiedlichen persönlichen und kulturellen Prägungen der Zuwanderer. Einem Veränderungsprozess durch Globalisierung und Digitalisierung, der gerade seit 1989 immens an Tempo und Dynamik gewonnen hat.

Der Wunsch nach Überschaubarkeit, nach einem durch und durch solidarischen Miteinander ist menschlich, er findet sich heute in Ost und West genauso wie in Nord und Süd. In einer zersplitterten, individualisierten Welt sehnen sich viele nach einem Umfeld, in dem sich der Einzelne sicher und gut aufgehoben fühlt. In eng begrenzten sozialen Kleingruppen. Unproblematisch ist das nicht. Der US-amerikanische Philosoph Michael Sandel spricht von kaum mehr kompatible Lebenswelten, die dabei entständen – von denjenigen am oberen und denen am unteren Rand der Gesellschaft. Der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz sieht ein neues Klassenbewusstsein. Das entwickle sich nicht mehr entlang von Besitzverhältnissen. Reckwitz zufolge erwächst das Klassenbewusstsein heute aus unterschiedlichen, maßgeblich kulturell bestimmten Lebensstilen. Die entscheidende Bruchstelle sei das Verhältnis zur globalen Welt: Ob man ihr mit Offenheit begegnet oder mit Furcht und Ablehnung.

Mit Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt fordert Reckwitz deshalb, das Allgemeine müsse neu austariert werden gegenüber dem Besonderen, nach dem viele heute streben. Aber wie, wenn sich ein gemeinsamer Erfahrungs- und Diskursraum in der „Gesellschaft der Singularitäten“ aufzulösen scheint?

Die Hoffnungen, die in dieser Hinsicht in die technologisch gestützten neuen Kommunikationsmöglichkeiten gesetzt wurden, haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil. Sie sind längst der nüchternen Erkenntnis gewichen: Das Netz verschärft die Fragmentierung noch. Das Internet ist zum Medium verbal enthemmter Auseinandersetzungen geworden, wo der eigenen Meinung Wahrheitscharakter zugeschrieben wird. Hier tobt ein Glaubenskrieg der Vorurteile, der Kompromissen unzugänglich bleibt – und die Gesellschaft auseinandertreibt. Im schlechtesten Fall beginnt hier jene „Haßkultur“, die Enzensberger schon 1993 fürchtete.

Sandel hat daher Recht, wenn er es für die wichtigste zivile Aufgabe unserer Zeit hält, Orte und Gelegenheiten zu schaffen, wo sich Menschen aus unterschiedlichen Schichten und Herkunft wieder mischen und begegnen, um sich austauschen zu können. Wo sie miteinander kooperieren müssen. Denn es braucht Gemeinsinn.

Wir müssen wieder raus aus den Echokammern und Filterblasen der digitalen Welt und auf Menschen direkt zugehen – analog und im realen Leben. Nur in solchen Begegnungen erweisen sich die Vorteile von Diversität, lassen sich Methoden friedlicher Konfliktlösung erlernen und bewahren. Im Staatssiegel von Sandels amerikanischer Heimat heißt es nicht umsonst: „E pluribus unum“, Einheit aus Vielfalt, Pluralität als Voraussetzung und Unterpfand des Zusammenhalts – ein zeitloser Gedanke.

Wo Vielfalt herrscht, wird die Frage nach dem Verbindenden wichtiger. Integrierende Kraft entfaltet vor allem unser Grundgesetz – seit inzwischen 70 Jahren. Der freiheitliche Verfassungsstaat lebt aber nach der bekannten Formulierung Ernst-Wolfgang Böckenfördes von Voraussetzungen, die er selbst nicht zu schaffen vermag. Im klassischen Zielkonflikt zwischen Freiheitsanspruch und notwendiger Regulierung ermöglicht nur eine freiwillige Einordnung aus Gewissen, Tradition und Überzeugung – oder was auch immer – den immer neu zu gewinnenden Ausgleich. Es braucht Werte und Wertebindungen, einen inneren Zusammenhalt, ohne den auch eine moderne Gesellschaft in Freiheit nicht dauerhaft bestehen kann.

Vielfalt ist nicht nur ein Wort, um die gesellschaftliche Realität zu benennen. Sie ist ein Wert. Der Neugier fordert, Interesse am anderen, Austausch – auch um ihr das Bedrohliche zu nehmen, das manche dabei empfinden. Verschiedenheit zu akzeptieren, die Vielfalt legitimer Interessen, Blickwinkel und Meinungen anzuerkennen und die eigenen Vorstellungen nicht zum Maß aller Dinge zu erklären: Das ist der gedankliche Schlüssel, um ein Mehr an Gemeinsamkeit zu schaffen.

Wie wir miteinander leben wollen und mit anderen umgehen: Das ist auch eine Frage der Erziehung. Im Familiären erleben wir das Glück menschlicher Bindungen – und dass die Wünsche und Belange der anderen auch belastend sein können. Ohne den Willen, einander zuzuhören, ohne den Versuch, den anderen und seine Argumente zu verstehen, geht es nicht. In der Familie und gesellschaftlich.

Wir müssen auch wieder verstärkt lernen, mit dem Nicht-Perfekten zu leben, mit dem Unzulänglichen umzugehen. Das heißt nicht, sich stumm zu fügen. Aber wir brauchen mehr Frustrationstoleranz. Mehr Demut. Das würde die Hitze, die Schärfe, das Konfrontative in unseren derzeitigen politischen Debatten mildern.

Meine Damen und Herren,

unsere modernen Gesellschaften verlieren auch deshalb an Zusammenhalt, weil die Menschen mobiler sind als früher. Viele leben nicht an ihrem Geburtsort. Arbeit und Wohnung liegen oft weit auseinander. Die Eltern leben an einem Ende der Republik, die Kinder am anderen, die mittlere Generation wieder woanders. Das ist Normalität. An unser Umfeld stellen wir aber die Erwartung, Halt zu geben. Herkunft und Alltagswelt prägen uns – Bundesland, Region und der Wohnort, dem wir uns verbunden fühlen.

Vor allem die Kommunen schaffen Nähe. Sie sind die Orte, an denen die Menschen wohnen, arbeiten, leben, Freundschaften pflegen. Hier entstehen soziale Netzwerke der analogen Welt in Vereinen, Kirchen, Gewerkschaften und Parteien.

In den Kommunen erleben wir aber auch unmittelbar den beschleunigten Wandel, der auch ein demographischer ist. Er wird vor Ort, in den Kommunen, konkret. Mit all seinen Problemen und Konflikten:

Wenn sich aus manchen Gegenden die Jüngeren verabschieden und nur die Älteren bleiben.

Wenn Menschen an einem Ort arbeiten, am zweiten wohnen und am dritten vielleicht ihre Familie haben.

Wenn sich die Lebensverhältnisse so ungleich entwickeln, dass sich Arm und Reich auf dem Stadtplan ablesen lassen und sich in manchen Stadtvierteln die Probleme ballen – weil dort die Ärmeren, die weniger Gebildeten, die Zugewanderten wohnen. Das hat Konsequenzen: Der französische Sozialanalyst Christophe Guilluy zeigt, wie sich die Spaltung der Gesellschaften anhand von Wahlergebnissen auf Stadtplänen und Landkarten abbilden lässt.

Für den Einzelnen zeigt sich in den Städten und Gemeinden zuerst, was der Gesamtstaat zu leisten imstande ist. Die Zufriedenheit mit der Demokratie fängt hier an, mit der Zufriedenheit der Bürger mit dem öffentlichen Leben vor Ort.

Unser Grundgesetz postuliert in Artikel 72 die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Zurecht. Wir wissen: zu große Unterschiede werden als ungerecht empfunden. Sie gefährden die soziale Balance. Die Schere zwischen Arm und Reich darf nicht zu weit auseinandergehen. Gleichwertige Lebensverhältnisse sind zwingende Voraussetzung für den sozialen Frieden.

Gleichwertigkeit heißt aber nicht Gleichheit. Das ist ein entscheidender Unterschied, der der Vielfalt unseres Landes Rechnung trägt. Ungleichheiten bestanden und bestehen – erst recht im föderalen Staat. Es muss einen Ausgleich geben, aber Unterschiede dürfen erhalten bleiben. Das Grundgesetz spricht seit 1994 auch nicht mehr von der „Wahrung“, sondern der „Herstellung“ gleichwertiger Lebensverhältnisse. Es verweist also auf einen in die Zukunft gerichteten dynamischen Prozess. Schließlich haben sich gerade Ungleichheiten immer wieder als Movens für gesellschaftliche Veränderungen erwiesen.

Wettbewerb führt zu einem Kräftemessen, das den Wohlstand mehrt. Oswald von Nell-Breuning, der Nestor der Sozialen Marktwirtschaft, forderte entsprechend Solidarität – aber nicht mehr, als die menschliche Natur dauerhaft zu geben bereit ist. Sonst sei die Balance gefährdet. Ich plädiere deshalb schon lange für mehr Mut zum Wettbewerb auch unter den Ländern. Das Streben nach immer stärkerer Vereinheitlichung widerspricht dem föderalen Gedanken. Denn Föderalismus heißt Wettbewerb.

Wettbewerb findet heute vor allem global statt. Er betrifft Güter, Dienstleistungen und Rohstoffe – materieller wie immaterieller Art. Besonders wichtig ist für Deutschland der „Rohstoff“ Wissen, das sogenannte Humankapital. Es ist Voraussetzung künftiger Erfolge auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Unser Wohlstand fußt darauf – und damit die hohen Standards unseres Sozialstaats, um den uns viele in der Welt beneiden.

Humankapital ist aber mehr: Es ist ein Schlüssel zu sozialem Zusammenhalt. So sehen es Soziologen, und dem trägt auch das Demographie-Forum seit langem Rechnung. Es investiert in Bildung und Forschung und prämiert – wie gleich im Anschluss wieder – Wissenschaftler, die sich mit den Veränderungsprozessen in Bevölkerung, Gesellschaft und Wirtschaft auseinandersetzen, Lösungswege aufzeigen.

Eine alternde Gesellschaft braucht immer mehr Fachpersonal, sie produziert es aber unzureichend selbst. Die frühere Familienministerin Ursula Lehr, selbst Sozialwissenschaftlerin, sprach übrigens lieber von „Unterjüngung“ einer Gesellschaft, was das Phänomen tatsächlich treffender beschreibt. Denn nicht dass wir älter werden, ist das Problem. Darin liegt im Gegenteil ein zivilisatorischer Fortschritt. Problematisch ist vielmehr: Es kommen zu wenig junge Menschen nach.

Wissenschaft und Sozialverbände fordern hier staatliches Handeln. Eine weitere Verbesserung etwa der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und andere sozialpolitische Maßnahmen sind ein Weg. Zuwanderung ist ein anderer. Deutschland kann es sich nicht leisten, im globalen Wettbewerb um ausländische Arbeitskräfte nur Zaungast zu sein.

Die Welt ist heute arbeitsteiliger denn je. Nationale Abschottung, die manche fordern, um sich vor den Fliehkräften des globalen Wettbewerbs zu schützen, ist keine Antwort auf die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Isolationismus wäre eine Arznei, die schadet statt hilft. Wer sich ausschließlich auf nationale Belange konzentriert, begibt sich auf eine Spirale nach unten. An deren Ende steht unausweichlich das, was eigentlich vermieden werden sollte: Das Auseinanderdriften der Gesellschaft. Denn Abschottung bedeutet Stagnation. Und Stillstand ist in einer sich schnell wandelnden Zeit Rückschritt. Wer von der Substanz lebt, schafft keinen Wohlstand, er produziert Armut und verteilt den Mangel. Und wenn sich am Ende immer mehr Menschen als Verlierer fühlen, entsteht tatsächlich der soziale Sprengstoff, vor dem Enzensberger bereits 1993 warnte.

Politik muss einer solchen Entwicklung entgegentreten, durch verantwortungsvolles Handeln. Menschen erwarten einen aktiven Staat. Sie erwarten politische Führung. Dabei beginnt jede Reform mit dem ersten Schritt. Auch wenn es manchmal kleine Schritte sind: sie sind besser, als dass in falscher Perfektionserwartung Stillstand herrscht.

Es braucht aber auch bewusste und aktive Staatsbürger – und Bürgertugenden. Die aktuelle Bertelsmann-Studie über den Bürgersinn in der Einwanderungsgesellschaft gibt Anlass zu Optimismus: 90% der Menschen in unserem Land eint ihr Verständnis von dem, was einen guten Bürger ausmacht. Sie haben ein recht konkretes Bild davon, was Bürgertugenden sind. Gesetzestreue und Eigenverantwortlichkeit gehören unbedingt dazu.

Und Tugenden wie Anstand und Toleranz, über die wir nicht ohne Grund wieder verstärkt reden. Der Soziologe Richard Sennett beklagt, dass modernen Gesellschaften positive Ausdrucksformen für Respekt und Anerkennung über soziale Grenzen hinweg fehlten. Daran müssen wir arbeiten. Die Würdigung derer, die für die Gemeinschaft einstehen, ist eine politische und gesellschaftliche Aufgabe. Wollen wir sie lösen, müssen wir auch den Mut haben, Entwicklungen und Entscheidungen, die zu diesem Mangel an Respekt und Würdigung geführt haben, zu hinterfragen. Das lässt unsere Demokratie zu. Sie erlaubt Lernfähigkeit und Fehlerkorrektur. Beides ist zutiefst menschlich – und kein Beweis von Schwäche, sondern von Stärke.

Wenn wir uns dem stellen und die Gestaltungsaufgaben gemeinsam angehen, lassen sich auch in Zukunft jene Entwicklungen vermeiden, die Enzensberger prophezeit hat. Dann hat dem Westen „die Stunde“ noch lange nicht geschlagen. Dann liegen, im Gegenteil, weitere gute Jahre vor uns.

Marginalspalte