Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble im Rahmen der Vorlesungsreihe „100 Jahre Weimarer Republik“ an der Universität Freiburg: „Berlin ist nicht Weimar. Über die Gefährdung der Demokratie“
[Es gilt das gesprochene Wort]
Auf den Sachbuch-Bestseller-Listen hält sich seit Monaten eine faszinierende Studie über die zwanziger Jahre als das Jahrzehnt der Philosophie. Wolfram Eilenbergers „Zeit der Zauberer“. Darin schildert der Autor auch den Moment, als vor genau 100 Jahren der junge Martin Heidegger an dieser Universität vor seine Studenten trat. Es sei ein deprimierender Anblick für den ‚Denker des Seins‘ gewesen: „Vor ihm sitzt ein verstreuter Haufen meist geschlagener Männer, viele dem eigentlichen Studentenalter bereits entwachsen, die nun so tun mussten, als sähen sie für sich eine Zukunft.“
In der ersten Februarwoche 1919 begann an der Albert-Ludwigs-Universität ein Kriegsnotsemester – extra für junge Soldaten, denen damit der Weg zurück ins Studium ermöglicht werden sollte. Die Waffen an der Front schwiegen seit drei Monaten. Aber die Menschen machten auch diese Erfahrung: Nach dem Krieg herrschte noch immer kein Friede, im Gegenteil. Die Zeichen standen auf Revolution – und das nicht nur im Kopf Heideggers, von dessen frühen Freiburger Vorlesungen gesagt wird, sie hätten sein philosophisches Denken revolutioniert.
Am 9. November war die Monarchie gestürzt worden. Was auf sie folgen sollte, blieb umkämpft. Vielerorts entlud sich die Gewalt einer tief gespalteten Gesellschaft in bürgerkriegsähnlichen Straßenkämpfen. Die junge Republik fand sich in einem Zangengriff rechter und linker Extremisten. Politische Morde erschütterten das Land: im Januar wurden in Berlin Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet, im Februar Kurt Eisner in München. Monatelange Unruhen kosteten tausende Menschen das Leben. Die verfassunggebende Nationalversammlung war unter der Leitung des Freiburger Ehrenbürgers Constantin Fehrenbach vor der Gewalt in der Hauptstadt ausgewichen: nach Weimar – unser Bundespräsident erinnerte gestern daran.
Zeitgleich richteten sich die Blicke nach Versailles. Die Friedensver-handlungen dort bedeuteten vielerorts „die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, die Verlängerung des Krieges in den Frieden hinein“, sagt Jörn Leonhard. Er hat ja bereits in dieser Vortragsreihe über den, wie er es nennt, „überforderten Frieden“ gesprochen –man weiß eigentlich nicht, was man mehr bewundern soll: die unendlich komplexen Probleme auf 1.300 Seiten akribisch nachgezeichnet und analysiert zu haben. Oder das so erworbene breite Wissen im Rahmen eines halbstündigen Vortrags zusammenfassen zu können.
Es war ein vielfach „überforderter Friede“:
Überfordert, weil es nicht mehr eine Friedensarchitektur für den europäischen Kontinent sein konnte, sondern eine globale sein musste.
Überfordert vom Demokratieversprechen und dem fortwirkenden nationalistischen Überschuss, der unabhängig gewordene oder neue Nationalstaaten dazu verführte, noch während der Verhandlungen gewaltsam territoriale Fakten zu schaffen. Ethnische Konflikte und Massenvertreibungen inklusive.
Überfordert vom Konflikt zwischen postuliertem Selbstbestimmungsrecht der Völker und blanker Interessenwahrung alter Kolonialmächte.
Schließlich: Überfordert davon, Versöhnung zu stiften. Mit jedem gefallenen Soldaten war bereits während des Krieges der Waffenstillstand immer weiter erschwert worden. In der Logik des Krieges hatte diesem Opfer nur der Sieg noch Sinn verleihen können. Unmöglich, dem am Ende auf allen Seiten millionenfach gebrachten Opfer in einem Friedensschluss gerecht zu werden. Zur besonderen Belastung für den versöhnenden Frieden wurde deshalb das Erinnern: an das Leid, das der Krieg in so viele Familien getragen hatte. An die Zerstörungen der Städte und Landschaften, an die Demütigungen, die Nationen empfanden – in Deutschland noch verschärft durch den Kriegsschuldparagraphen mit den damit verbundenen Reparationsforderungen.
Die Kämpfe im Innern und die unverarbeitete Kriegsniederlage: Beides untergrub das Vertrauen der Bevölkerung in das neue politische System. Mit gravierenden Langzeitfolgen für die Stabilität der Republik, in der Gewalt das gesellschaftliche Leben weiter prägte und die politischen Extreme die Demokratie fortwährend angriffen.
Wie anders verliefen da die Anfänge der westdeutschen Republik vor 70 Jahren. Als nach der totalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg, dem moralischen Bankrott durch die NS-Verbrechen und Jahren großer Not erneut der staatliche Neuanfang gesucht wurde. Als unter Aufsicht der Besatzungsmächte im Parlamentarischen Rat das Grundgesetz erarbeitet wurde. In einem besetzten und geteilten Land. Als deutsche Schuld zwar vielfach verdrängt wurde, aber unbestritten war.
Es sei ein kalendarischer Zufall unserer Verfassungsgeschichte, dass sich unser Land mindestens alle zehn Jahre seiner drei verfassungsgebenden Anläufe erinnern könne – 1849-1919-1949: Das sagt der Historiker Heinrich August Winkler, dessen grundlegende Forschungen zur Weimarer Republik hier in Freiburg entstanden. Ein Zufall gewiss – aber einer, der uns immer wieder erhellende Einsichten ermöglicht: In Parallelen und Kontraste, in Kontinuitäten und Brüche.
In diesem Jahr steht die Weimarer Reichsverfassung besonders im Fokus; aber wir erinnern auch an das Grundgesetz, das hundert Jahre nach der Frankfurter Paulskirchenverfassung verkündet wurde. Während die eine Verfassung nie in Kraft trat und die andere nur 14 Jahre Bestand hatte, zählt das Grundgesetz heute zu den ältesten Verfassungen weltweit. Ein echter Glücksfall.
Warum der Bonner, heute längst Berliner Republik ein so dauerhafter Erfolg beschieden war, fasst Winkler in einen prägnanten Satz – wobei er den viel zitierten Buchtitel des Schweizers Fritz René Allemann aufgreift, dem auch mein Vortragstitel angelehnt ist: Bonn, so Winkler, sei auch deswegen nicht Weimar geworden, weil es Weimar gegeben hat.
Der Historiker verweist damit auf die landläufige Bedeutung der ersten deutschen Republik als historisches Lehrstück. Vor allem über die Gefahren der Selbstabschaffung einer Demokratie. Tatsächlich waren die Beratungen im Parlamentarischen Rat davon geprägt, verhindern zu wollen, dass demokratische Freiheiten noch einmal zur Zerstörung der freiheitlichen Demokratie missbraucht werden. So wie in Weimar geschehen. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rats waren eben auch Zeitzeugen.
Der sozialdemokratische Reichsinnenminister Eduard David hatte im Sommer 1919 postuliert, die Reichsverfassung habe die „demokratischste Demokratie der Welt“ begründet. Wie wir heute wissen eben auch mit fatalen Konsequenzen. Der Staatsrechtler Hans Kelsen befand damals zeittypisch, wolle sich die Demokratie selbst treu bleiben, müsse sie auch eine auf Vernichtung der Demokratie gerichtete Bewegung dulden. Entsprechend verzichtete man auf verfassungsrechtliche Schutzfunktionen und gab dadurch die Ordnung ihren Feinden preis, die sie auf demokratischen Weg aushöhlten und am Ende tatsächlich abschafften.
Kelsens Kollege Karl Loewenstein sprach später von „suizidaler Lethargie“. Da war der Weg in die Katastrophe bereits unumkehrbar. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes zogen vor 70 Jahren daraus die richtigen Lehren. Sie begründeten, geprägt von den Abgründen deutscher Schuld und als Konsequenz aus dem demokratischen Relativismus der Weimarer Reichsverfassung, eine wertegebundene und zugleich wehrhafte Demokratie.
Die Vertreter der unterschiedlichen Parteien und Denkschulen im Parlamentarischen Rat bestimmten als Antwort auf die Diktatur-Erfahrung und den industrialisierten Völkermord die unverletzliche Würde des Menschen zur Grundlage der neuen Rechtsordnung und zum entscheidenden Maßstab aller Politik. Nicht die Volksgemeinschaft ist der Referenzrahmen unserer Verfassung, sondern das Individuum, der einzelne Mensch. Er wird nun ausdrücklich auch vor dem Staat geschützt. Das Bekenntnis zu den unveräußerlichen Grundrechten, in denen sich die menschliche Würde verwirklicht, bindet Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung – anders als in Weimar – als unmittelbar geltendes Recht. Das gilt unumstößlich, und nicht einmal eine verfas-sungsändernde Mehrheit könnte daran etwas ändern.
Daneben hat unser wehrhafter Verfassungsstaat das Recht und den Willen, sich gegen seine Feinde von außen und innen zu verteidigen. Er sichert in einem Geflecht von Regelungen und Institutionen die freiheitliche Demokratie: von der Ewigkeitsklausel über die Gewaltenteilung bis zum Föderalismus, vom Berufsbeamtentum über die Nachrichtendienste bis zur Verfassungsgerichtsbarkeit.
Diesem Ordnungsrahmen verdankt unser Land seine beispiellose Erfolgsgeschichte – seit inzwischen sieben Jahrzehnten. Der mit dem Grundgesetz gefundene Konsens setzte Kräfte der Erneuerung frei. Die neue Rechts- und Werteordnung ermöglichte, anders als in Weimar die Hinterlassenschaften einer lange im monarchischen Prinzip erstarrten Ordnung abzulegen, das Erbe einer verspäteten Nation zu bewältigen. Vor allem den wertezersetzenden und staatsverbrecherischen Totalitarismus der NS-Diktatur, der bedingungslosen Gehorsam eingefordert hatte.
Der Weimarer Demokratie hatte es gerade unter den Eliten an Rückhalt gefehlt, in der Wirtschaft, den Unternehmen, im Militär, dem öffentlichen Dienst, nicht zuletzt in der Wissenschaft und an den Universitäten. Hier galten noch vielfach alte monarchische Loyalitäten, und allzu viele verharrten in feindseliger Haltung zur Republik. Die befreiende Wirkung der Revolution, die sich 1918/19 noch in euphorischen Demokratie-erwartungen zeigte, hatte so richtig nur in der Kunst und Kultur angehalten und hier ganz neue Entwicklungen ermöglicht – das Bauhaus, an das wir in diesem Jahr erinnern, steht beispielhaft dafür.
Personelle Kontinuitäten gab es auch nach 1945. Wie hätte es anders sein sollen. Aber mit den Erfahrungen des Nationalsozialismus waren alle Gewissheiten erschüttert. Ein übersteigerter Nationalismus hatte die demokratische Ordnung von Weimar noch belastet – auch infolge der erfahrenen Demütigungen des Versailler Vertrages. Die totale Niederlage 1945 ließ dafür keinen Raum mehr. Zumal in einem geteilten Land. Fritz René Allemann betonte bereits 1956, es gäbe schlicht „keine lebendigen Gegenbilder [mehr] gegen die Idee des demokratisch und parlamentarisch geordneten Gemeinwesens“. Die Ankunft im neuen politischen System fiel dadurch leichter. Leichter als beim Systemwechsel 1918/19.
Dabei gab es in der Bundesrepublik natürlich ein Gegenbild. Ein wirkmächtiges sogar. Schließlich formierte sie sich im Systemkonflikt des Kalten Krieges. Dass die Bedrohung durch den Kommunismus sowjetischer Prägung und der realexistierende Sozialismus östlich der Elbe die Bindung der Bundesrepublik an die so lange als undeutsch denunzierten Werte des Westens begünstigte: Daran zweifelt wohl niemand.
Die Bedeutung der frühen Einbettung der Bundesrepublik in die westliche Verteidigungsgemeinschaft und in das europäische Einigungsprojekt kann nicht überbewertet werden. Erst recht, wenn man sich vergegenwärtigt, unter welchen außenpolitischen Bedingungen die Weimarer Republik ihren Ort in Europa suchen musste. Als sich unter den Nationen die Erfahrung des Ersten Weltkriegs noch als übermächtig erwies, das Verlangen nach Strafe und Genugtuung für erlittenes Leid als zu groß, auch nach Rache. Die Krisen, die wir derzeit in der EU und innerhalb des transatlantischen Bündnisses erleben, nicht zuletzt die selbst heraufbeschworene Vertrauenskrise ausgerechnet in den Mutterländern des angelsächsischen Parlamentarismus, sollten uns auch vor dem Hintergrund dieser Geschichte besonders bewegen.
Der frühere Verfassungsrichter Dieter Grimm hat unlängst hervorgehoben, dass das Grundgesetz über seine juristische Relevanz hinaus auch als Integrationsfaktor im neuen Staat gewirkt habe. Und er betonte, dass diese Erfolgsgeschichte mit dem ökonomischen Aufstieg zu tun habe. Mit der dadurch gewährleisteten sozialen Stabilität.
Beides war Weimar nicht gegeben. Die Republik erlebte ökonomisch eine Dauerkrise, darüber können die wenigen Jahre der relativen Stabilisierung nicht hinwegtäuschen. Die sozialen Verwerfungen durch Inflation und Massenarbeitslosigkeit sind unüberschaubar, die Folgen für die Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie und der sie tragenden Parteien auch.
Dafür, wie anders die Entwicklung nach 1945 verlief, stehen Stichworte wie der „Marshallplan“ und das „Wirtschaftswunder“ – vom Historiker Knut Borchardt prägnant als die „Reserveverfassung“ der Bundesrepublik bezeichnet. Die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft und der an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtete Kanon ordoliberaler Regeln der Freiburger Schule garantierten über viele Jahrzehnte den gesellschaftlichen Zusammenhalt – und das nicht nur in Zeiten des Wachstums.
Für die Stabilität einer demokratischen Ordnung gilt, das zeigt der Vergleich zwischen Weimar und der Bundesrepublik: Die Geltung von Werten, Prinzipien, Regeln ist das eine. Der ökonomische Erfolg das andere. Es braucht beides. Unsere fundamentale Aufgabe ist, Freiheit, Gerechtigkeit, sozialer Ausgleich und heute auch ökologische Verantwortung zu verbinden mit Marktwirtschaft, Effizienz und Wachstum. Das sichert den gesellschaftlichen Frieden, das fördert den Zusammenhalt. Hier die richtige Balance zu finden, muss uns auch zukünftig stets neu gelingen.
Erst Recht, weil wir spüren, dass etwas ins Wanken geraten ist. Dass unsere Gesellschaft unter dem Druck des rasanten globalen Wandels heterogener, unübersichtlicher und auch konfliktreicher wird. Das Gefühl breitet sich aus, dass die Welt uns immer näher rückt. Dass auch wir Verlierer des weltweiten Wettbewerbs werden könnten.
Das hat Folgen: Obwohl es unserem Land gegenwärtig objektiv so gut geht wie nie zuvor und die meisten Menschen dies auch so sehen, beherrscht viele die Angst, unseren Kindern und Enkeln werde es schlechter gehen. Dominiert Zukunftspessimismus. Dass ausgerechnet in Zeiten des Wohlstands die Unlust am Bestehenden grassiere, erinnert den Historiker und Journalisten Ralph Bollmann übrigens eher an die Lage vor 1914 als an die Zeit der dramatischen Wirtschaftskrise am Ausgang der Weimarer Republik. Ein spannender Gedanke. Und nicht weniger beunruhigend.
Reichtum und auch Armut sind wie das Glück sehr relative Begriffe. Der Hinweis auf unseren Wohlstand, erst Recht im internationalen Vergleich, löst deshalb die Probleme nicht. Und die Zahl materieller Güter weiter zu mehren, macht allein auch noch nichts besser. Das ist eine Fehlein-schätzung, der die Politik allzu gerne erliegt. Sekundiert von der gängigen Annahme unter Ökonomen, dass Menschen einen eindeutigen Nutzen hätten und diesen maximieren. Sie hat der scheidender Direktor des Kieler Instituts für Weltwirtschaft Dennis Snower vor einer Woche in der „Zeit“ gehörig gegen den Strich gebürstet. Die ökonomische Sichtweise, wonach der Mensch nur getrieben werde von Eigennutz und dem Wunsch nach materiellen Gütern und Dienstleistungen, sei für viele der Zurück-gelassenen einfach nicht so relevant, analysiert der Wirtschaftswissen-schaftler. Snower sieht den Mensch nicht nur nach materiellem Wohlstand streben, sondern auch nach der Befähigung, seine Umwelt aus eigenen Kräften zu gestalten und innerhalb einer sozialen Gemeinschaft zu leben. Wirtschaftlicher Wohlstand, warnt er, könne sich vom sozialen Wohlstand entkoppeln. Dann wachse zwar die Leistung der Volkswirtschaft, aber viele hätten nichts davon – während gleichzeitig das Gemeinschaftliche verloren geht.
Deshalb braucht es den gestalterischen Willen, eine Balance zu finden zwischen Wohlstandsmehrung und gerechter Verteilung. Zwischen unaufhaltsamer Veränderung und notwendigem Halt. Angesichts der Herausforderungen des beschleunigten Wandels, dessen Auswirkungen viele als überfordernd empfinden, kann uns Karl Poppers Maxime leiten: Statt der Maximierung des Glücks die bescheidenere Minimierung des Leidens. Verantwortliche Politik muss den Menschen das Gefühl geben, dass ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden: Sicherheit, der Erhalt sozialer Bindungen, Zusammengehörigkeit.
Es braucht Maß und Mitte als Leitprinzip. Auch mehr Gelassenheit gegenüber dem Wandel! Statt uns von der äußeren Hektik beschleunigter Veränderungen anstecken und verunsichern zu lassen, müssen wir uns auf das Wesentliche konzentrieren, dem Wandel Gestalt geben, ihn auch entschleunigen, wo das möglich ist. Damit die Menschen Schritt halten und mit den Veränderungen fertig werden können. Damit sie im Fortschritt etwas Erstrebenswertes erkennen können.
Der Wunsch nach Überschaubarkeit ist doch menschlich. In einer komplexen und dabei zersplitterten, individualisierten Welt sehnen sich viele nach einem Umfeld, in dem sich der Einzelne sicher und gut aufgehoben fühlt. In eng begrenzten sozialen Kleingruppen. Problematisch für die Demokratie wird das allerdings dann, wenn dabei Gruppen entstehen, die sich in kaum mehr kompatible Lebenswelten verschließen. Voneinander abschotten. Wenn sich ein gemeinsamer Erfahrungs- und Diskursraum auflöst. Anzeichen dafür gibt es längst. Insbesondere das Internet verschärft die gesellschaftliche Fragmentierung. Es ist zum Medium verbal enthemmter Auseinandersetzungen geworden, wo der eigenen Meinung Wahrheitscharakter zugeschrieben wird. Hier tobt ein Glaubenskrieg der Vorurteile, der Kompromissen unzugänglich bleibt – und die Gesellschaft auseinandertreibt.
Wir müssen aus diesen Echokammern und Filterblasen der digitalen Welt raus. Im realen Leben Orte und Gelegenheiten schaffen, wo sich Menschen aus unterschiedlichen Schichten und Herkunft wieder mischen und begegnen, um sich austauschen zu können. Wo sie miteinander kooperieren müssen. Nur in solchen Begegnungen erweisen sich die Vorteile von Diversität, lassen sich Methoden friedlicher Konfliktlösung erlernen und bewahren. Demokratie leben.
Wir müssen dabei auch wieder verstärkt lernen, mit dem Nicht-Perfekten zu leben, mit dem Unzulänglichen umzugehen. So ist der Mensch, so ist die menschliche Gesellschaft. Wer das Perfekte anstrebt, endet in der Diktatur. Das Wissen, dass wir immer nur besser werden können, ist eine notwendige Voraussetzung zur Weiterentwicklung. Dabei müssen wir uns immer um neue Dynamik bemühen. Und die Aufgabe politischer Führung ist es, diesem Prozess Form, Richtung, Nachhaltigkeit zu geben. Aber wir brauchen eben auch mehr Frustrationstoleranz. Mehr Demut. Mehr Gelassenheit. Das würde die Hitze, die Schärfe, das Konfrontative in unseren derzeitigen politischen Debatten mildern.
Sie werden heute rigider und unversöhnlicher geführt, als wir es lange gewohnt waren, bis hin zu offenem Hass, sogar hemmungsloser Gewalt auf der Straße gegen Schwächere und politisch Andersdenkende. Unsere Ordnung ist einem Stresstest unterworfen, und wir lernen gerade neu oder auch erst jetzt, dass nichts voraussetzungslos ist, nichts selbstverständlich und nichts gesichert.
Die freiheitliche Demokratie ist fragil und anspruchsvoll. Sie bedeutet für jeden von uns Freiheit zur Mitbestimmung – und bei den unveräußerlichen Grundrechten Freiheit von Fremdbestimmung. Die Mehrheit regiert. Aber der Mehrheitswille ist begrenzt durch die Prinzipien von Gewaltenteilung und Minderheitenschutz. Diese Verbindung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist für uns zentral – ein sensibles, ein spannungsvolles Verhältnis. Bei dem die Weimarer Republik einen anderen Akzent setzte als die Bundesrepublik.
Dem Sturz der Monarchie war 1918 die Parlamentarisierung des Kaiserreichs bereits vorausgegangen. Aber erst der 9. November hatte dem Prinzip der Volkssouveränität zum Durchbruch verholfen. Friedrich Ebert bezog sich in seiner Eröffnungsrede der Weimarer Nationalversammlung darauf: „Das deutsche Volk ist frei, bleibt frei und regiert in aller Zukunft sich selbst.“ Damit brachte er den revolutionären Anspruch zum Ausdruck, dem erkämpften Prinzip der Volkssouveränität nun auch verfassungs-rechtlich Geltung zu verschaffen. Dem Mehrheitswillen. Nicht zuletzt daraus erklärt sich das Gewicht direktdemokratischer Elemente in der Weimarer Verfassung.
Die Erfahrung, wohin der Mehrheitswille führen kann, bewog dagegen die Mütter und Väter des Grundgesetzes zu einer gegenteiligen Richtungsentscheidung: Ihnen ging es gerade um die Einhegung der Macht der Mehrheit, um den Schutz der Minderheit und die Rechte des Individuums – darum, auch die Mehrheit vor sich selbst zu schützen. Das Grundgesetz prägt deshalb stärker als die Weimarer Verfassung das Primat des Rechts vor der Politik. Das Recht schützt den Schwächeren. Und der Rechtsstaat hat die Pflicht, das durchzusetzen. Mehrheit sichert eben noch keine Freiheit. Das sieht man überall dort, wo die Demokratie gegen den Rechtsstaat ausgespielt wird – auf Kosten der Rechte, die den Einzelnen vor der Mehrheit und vor staatlicher Willkür schützen.
Manchmal scheint es, als hätten wir den Blick für die notwendige Verbindung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verloren. Auch in Deutschland begegnet uns inzwischen die populistische Anmaßung, ‚das‘ Volk gegen politische Gegner, gegen vermeintliche und tatsächliche Minderheiten, auch gegen die vom Volk Gewählten in Stellung zu bringen. Aber niemand hat das Recht zu behaupten, er allein vertrete ‚das‘ Volk. Der Souverän ist keine Einheit, sondern eine Vielheit widerstreitender Kräfte. So etwas wie ein Volkswille entsteht erst in der Debatte und nur durch Mehrheiten, die sich ändern können.
Wir erleben derzeit, wie schwierig es sein kann, den notwendigen Streit zu führen. Weil Tabus aufgebaut werden, Meinungen zu schnell als unsagbar abqualifiziert, Erfahrungen und Empfindungen anderer nicht ernst genommen werden. Schnell gilt der eine als Rassist oder wird sogar als „Nazi“ denunziert. Oder umgekehrt bestenfalls als „Gutmensch“ belächelt, häufig aber auch als Volksverräter beschimpft. Dies macht einen konstruktiven Diskurs und die Suche nach Lösungen von vornherein unmöglich. Darum, dass der befriedende Kompromiss möglich bleibt, müssen wir kämpfen.
Die Zivilität unserer Gesellschaft wird nicht durch Meinungsvielfalt bedroht. Sondern wenn das Recht des anderen auf seine eigene Meinung nicht anerkannt wird. Dieses Recht ist konstitutiv für eine demokratische Gesellschaft, selbst wenn man eine Meinung für dumm oder unanständig halten sollte. Der Theologe Richard Schröder sagt zurecht: Erst anstößigen Meinungen gegenüber muss sich das Recht auf Meinungsfreiheit bewähren. Wo aber Persönlichkeitsrechte oder Rechtsvorschriften verletzt werden oder der demokratische Rechtsstaat gefährdet wird, ist die Grenze des Tolerablen erreicht. Diese Grenze wird durch die zuständigen Behörden und gegebenenfalls durch die Gerichte gezogen, nicht durch Selbstgerechtigkeit.
Stark ist eine Demokratie allein dann, wenn sie sich der Vielfalt an Meinungen aussetzt, wenn sie den Meinungsstreit aushält.
Nur in einem darf es keine geteilte Meinung geben: Gewalt und Drohung mit oder Einschüchterung durch Gewalt, ist niemals ein gerechtfertigtes Mittel der politischen Auseinandersetzung. Darauf baut unser Staat auf, das unterscheidet ihn bislang grundlegend von Weimarer Verhältnissen.
In einem Klima extremer Polarisierung und unerbittlicher Konfrontation wächst die Gefahr von Gewalttaten. Es ist eine zivilisatorische Leistung und Grundvoraussetzung für das friedliche Zusammenleben, das Freund-Feind-Denken zu überwinden. Immer wieder. Ich wiederhole deshalb auch hier, was ich unlängst im Bundestag empfohlen habe: Statt permanent den anderen zu beschuldigen, sollten wir uns daran erinnern, was Gustav Heinemann 1968 gesagt hat, anlässlich der Ausschreitungen nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke: „Wer mit dem Zeigefinger allgemeiner Vorwürfe auf den oder die vermeintlichen Anstifter oder Drahtzieher zeigt, sollte daran denken, daß in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich drei andere Finger auf ihn selbst zurückweisen.“
Wir alle sind verantwortlich dafür, dass die politische Auseinandersetzung, die wir führen müssen, nicht Anlass zu Hass und Hetze gibt. Deshalb müssen wir wachsam bleiben. Sprache sorgsam nutzen. Und sensibel bleiben für die Wirkmacht von Begriffen – das gilt für Versuche, Grenzen des Sagbaren schleichend zum Unsäglichen zu verschieben genauso wie für offene Tabubrüche.
Die wehrhafte Sicherung unserer Ordnung ist ein wichtiger Fortschritt im Vergleich zur Weimarer Reichsverfassung. Eine „Versicherungspolice gegen alle Erosionen von Demokratie und Rechtsstaat“ ist sie aber nicht, wie der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio zurecht betont. Die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie erschöpft sich nicht in Verboten, auch nicht in der Beobachtung durch den Verfassungsschutz oder den Möglichkeiten des Strafrechts, wenn gegen Gesetze verstoßen wurde. Vielmehr muss auch die Mehrheit der Bürger in der Demokratie willens und fähig dazu sein, Extremisten zu isolieren und zu ächten. Daran gilt es zu erinnern, weil wir immer wieder erleben, dass friedliche Demonstrationen von links- wie rechtsextremen Gewalttätern als Schutzraum missbraucht werden. Wenn wir gegenseitige Toleranz und Respekt untereinander sichern wollen, müssen wir darauf bestehen, dass Gewalt oder die Aufforderung zur Gewalt genauso verboten sind wie die Verwendung von Parolen und Symbolen, die den demokratisch-rechtsstaatlichen Grundkonsens unserer Republik in Frage stellen.
Meine Damen und Herren,
die Bezüge auf Weimar hatten in den vergangenen Jahrzehnten Konjunktur. Unser Bild von der ersten Republik veränderte sich dabei. Die Wissenschaft löste sich zuletzt von der starken Fokussierung auf ihr tragisches Ende und das, was darauf folgte. Beides wirft noch immer einen übermächtigen Schatten auf Beginn und Verlauf dieser Republik. Ein Schatten, aus dem die damals Handelnden lange gar nicht mehr treten konnten – verbunden mit einer gewissen Zwangsläufigkeit des Geschehens.
Nun wird der Blick geweitet auf die Menschen in ihrer Zeit. Als das Vergangene noch das Gegenwärtige war. In dem es Handlungsspielräume gab, Entscheidungsoptionen in die eine oder andere Richtung. Als das Vergangene sogar noch Zukunft war, die es zu gestalten galt. Gegenüber dem Scheitern werden damit heute auch die Chancen der Republik stärker prononciert. Ihre Leistungen – mit der Einführung des Frauenwahlrechts etwa, einer Arbeitslosenversicherung oder der Finanz- und Steuerreform Matthias Erzbergers, immerhin das umfangreichste Reformwerk der deutschen Steuer- und Finanzgeschichte.
Die Weimarer Republik erscheint dadurch längst nicht mehr allein als die viel zitierte Republik ohne Republikaner. Sie weckt inzwischen auch Interesse als eine ideengeschichtlich spannende Phase der Begründung freiheitlicher Demokratie, einflussreich für die Zeit nach 1945. Selbst die landläufige Kritik der Weimarer Verfassung erfährt partiell eine Relativierung. Etwa wenn Udo di Fabio darauf hinweist, dass die umstrittenen weitreichenden Befugnisse des Reichspräsidenten die Republik erst stabilisierten – jedenfalls solange sie in den Händen Friedrich Eberts lagen. Es dürfte bezweifelt werden, so spitzt di Fabio seine Sicht zu, ob die Republik unter den Bedingungen des Grundgesetzes auch nur bis zum Jahr 1924 gekommen wäre. Damit schärft er unseren Blick für veränderte Konstellationen, für die Verantwortung der Handelnden – und für Kontingenz, das Unvorhersehbare, die frühen Tode herausragender republiktragender Persönlichkeiten, ob Friedrich Ebert, Matthias Erzberger oder Gustav Stresemann.
Deutlich wird: Eine Verfassung kann bessere oder schlechtere Rahmenbedingungen schaffen, sie bleibt aber ein Rahmen, der durch die Politik ausgefüllt und von den Menschen getragen werden muss. Die freiheitliche Demokratie lebt eben nach dem bekannten Böckenförde-Diktum auch von Voraussetzungen, die der Staat nicht schaffen kann. Von einem Wertebewusstsein und einer politischen Kultur, in der man die gesellschaftliche Vielheit annimmt und trotzdem zu gemeinsamen Handeln kommt: durch Ausgleich und für alle tragbare Entscheidungen. Dazu gehört die Bereitschaft, das Gegenüber zu achten und die demokratischen Verfahren zu akzeptieren, das heißt vor allem: die am Ende zustande gekommenen Beschlüsse der Mehrheit mitzutragen, die allerdings nie auf Ewigkeit angelegt sind.
Weimar fehlte es am Ende am demokratischen Selbstbehauptungswillen, an einer demokratischen Streitkultur und im mitentscheidenden Moment an der Fähigkeit zum Kompromiss. Auch heute braucht es Demokraten, die bei allem Dissens in der Sache den Grundkonsens über die demokratischen Verfahrensregeln wahren. Ernst Fraenkel sprach vom „nicht-kontroversen Sektor“ in einer ansonsten plural verfassten Gesellschaft. Darauf müssen wir bestehen und dafür müssen Demokraten streiten. Gemeinsam.
Dem Grundgesetz liegt kein Konzept verantwortungsloser, individualistischer Freiheit zugrunde. Es verpflichtet uns, unser Leben bewusst zu gestalten, für unsere Werte und unsere Entscheidungen Verantwortung zu übernehmen. Engagement und Bürgersinn kann der Staat nicht verordnen; aber er baut darauf auf. Eine Freiheitsordnung ohne Engagement von Menschen, die Verantwortung übernehmen, funktioniert nicht.
Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind groß. Das waren sie immer. Vor 100 Jahren waren sie gewiss schwerer als heute. Auch 1949. Die Studenten, die sich damals an dieser Universität einschrieben, haben nicht resigniert. Sie haben sich in Zeiten größter Ungewissheit ihre Zuversicht bewahrt. Darin gründet jeder Gestaltungswille – persönlich und gesellschaftlich.
Zuversicht braucht es auch heute.
Wenn wir zurückschauen auf siebzig Jahre, dann hat dieses Land nicht nur einfache Jahre erlebt. Es gab turbulentere Phasen und auch krisenhafte Zuspitzungen. Am Ende ist es unserer freiheitlichen Gesellschaft aber immer wieder gelungen, sich in den Herausforderungen weiterzuentwickeln, erfahrener zu werden, auch weltoffener. Von Weimarer Verhältnissen waren wir stets weit entfernt. Wir sind es auch heute noch. Die Weimarer Republik bleibt für uns dennoch ein wichtiger Bezugspunkt – um die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in größere historische Linien einzuordnen und sie dadurch besser zu verstehen. Mit immer neuen Fragestellungen, aus veränderten Perspektiven. Als Aufgabe beileibe nicht nur, aber vor allem auch der Universitäten und der Forschung.