15.04.2019 | Parlament

Vortrag von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble vor der Académie des sciences morales et politiques in Paris am 15. April 2019 zum Thema „Zwei Parlamente, ein Ziel. Zur Zusammenarbeit von Assemblée nationale und Deutschem Bundestag“

[Es gilt das gesprochene Wort]

Zwei Parlamente, ein Ziel. Zur Zusammenarbeit von Assemblée nationale und Deutschem Bundestag.

Anrede

Vor drei Wochen haben wir hier in Paris die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung konstituiert, eine bi-nationale Kammer von Assemblée nationale und Deutschem Bundestag. Sie wird von nun an regelmäßig in Berlin und in Ihrer Hauptstadt tagen, um zwischen unseren beiden Ländern Übereinstimmung in zentralen politischen Standpunkten anzubahnen und die parallele Umsetzung in politisches Handeln zu ermöglichen.

Charles de Gaulle hat einmal nüchtern bemerkt: „Staaten haben keine Freunde, nur Interessen.“ Um genau diese Interessen geht es: Mit der bi-nationalen Versammlung wollen wir als Abgeordnete die legitime Position des jeweils anderen in die eigene Perspektive einbeziehen, um auf Gemeinsamkeiten hinzuarbeiten. Wir wollen einen gemeinsamen parlamentarischen Alltag, in dem politische Entscheidungen abgestimmt, gleichzeitig und vor allem gleichlautend getroffen werden.

Das ist nicht selbstverständlich – nicht in den gegenwärtigen internationalen Beziehungen und erst recht nicht in der historischen Rückschau.

Deutschland und Frankreich: „Die beiden Partner [sprechen] nicht die gleiche Sprache und [haben] unterschiedliche geistige und moralische Werte.“ Dieses unmissverständliche Urteil stammt von François Perroux. In den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts untersuchte der renommierte Ökonom den Unterschied im Denken zwischen unseren beiden Nachbarstaaten, die sich als vermeintliche Erbfeinde gegenüberstanden – und in denen dennoch erste Bestrebungen der Verständigung Früchte getragen hatten. Dafür waren die visionären Außenminister Aristide Briand und Gustav Stresemann 1926 mit dem Friedensnobelpreis geehrt worden.

Der Wirtschaftsforscher Perroux sah damals allerdings noch immer unüberbrückbare Gräben zwischen Deutschland und Frankreich – begründet in der jeweiligen Mentalität: Die Deutschen interessierten Verträge oder Regeln nicht, so Perroux. Für sie zähle allein Treu und Glauben, der Staat werde die Dinge schon richten. Die Haltung der Franzosen beschrieb er diametral anders, emanzipatorisch geprägt: In Frankreich sei die persönliche Vertragstreue anerkannt als dauerhafte und absolute Richtschnur.

Ein bemerkenswertes Urteil. Und eines, das die heute gängige Zuschreibung nationaler Eigenarten geradezu auf den Kopf stellt. Die Wirtschaftswissenschaftler Markus Brunnermeier, Harold James und Jean-Pierre Landau führen deshalb in ihrer Analyse des Euro als ein Kampf der Wirtschaftskulturen Perroux als Beispiel für die Veränderungsfähigkeit von modernen Gesellschaften an. Denn sie selbst beschreiben die Unterschiede in der politisch-ökonomischen Herangehensweisen Deutschlands und Frankreichs sehr präzise – und genau umgekehrt: Die Franzosen verfügen demnach über die Erfahrung eines starken, effizienten Staates, der Krisen bewältigen kann, ohne dabei auf Regeln versessen zu sein. Wir Deutschen sind dagegen geprägt von der föderalen Tradition mit einer schwachen Zentralmacht und wollen Krisen möglichst vermeiden – und dazu braucht man vor allem Regeln.

Ich finde: Beides hat seine spezifischen Vorteile. Und deswegen glaube ich, dass wir viel voneinander lernen können, wofür die gemeinsame Kammer nun den geeigneten Ort bietet.

Deutlich wird: Menschen ändern sich. Und damit auch Nationen. Historische Entwicklungen sind, das lehrt die Geschichte unseres Kontinents in besonderer Weise, auch Lernprozesse.

Nicht nur die deutsch-französische Verständigung ist aus einem solchen Lernprozess hervorgegangen, auch die Europäische Union. Und wenn diese sich behaupten will, muss sie sich auch weiter als lernfähig erweisen, muss sie flexibel und offen bleiben. Brunnermeier, James und Landau empfehlen dazu, die heute oft verwirrend komplexen und miteinander verwobenen Krisensituationen in Europa als Chance zu begreifen: Angesichts der Fülle von Problemen gebe es Paketlösungen, in denen bei der einen Gelegenheit die einen zurückstecken und die anderen ausdrücklich profitieren – während sich das bei anderer Gelegenheit umkehre. Die Ökonomen beschreiben so den innereuropäischen Interessenausgleich im besten Sinne.

Damit dieser gut und womöglich noch besser als bislang funktioniert, muss sich nach meiner Überzeugung das europäische Projekt insgesamt neu ausrichten. Es braucht dringender denn je unsere Bereitschaft und die Fähigkeit, die Perspektive des jeweils anderen bei Entscheidungen mitzudenken. Die des Nachbarn, die der übrigen Mitgliedsstaaten. Wo früher über Adelsfamilien dynastische Verbindungen von Herrscherhaus zu Herrscherhaus gespannt waren, braucht es heute Eliten, die ein vertieftes Verständnis für die legitimen Interessen sowie die kulturelle und historische Prägung der anderen Nationen aufbringen. Braucht es Politiker, die nationale Besonderheiten nicht nur kennen und erdulden, sondern verstehen und respektieren. Braucht es nationale Parlamente, in denen bei der Debatte über europäische Fragen neben dem nationalen Standpunkt mit seinem begrenzten Blickwinkel auch eine tatsächlich europäische Perspektive eingenommen wird. Nur so werden wir zu gemeinsamen Lösungen in Europa kommen. Und die sind nötig, in vielen Bereichen sogar überfällig.

Die vereinbarte Zusammenarbeit zwischen Assemblée nationale und Deutschem Bundestag ist deshalb eine zeitgemäße Antwort auf die gegenwärtigen Herausforderungen, zu der unsere beiden Nationen im Übrigen in der Lage sind, weil wir aus den Erfahrungen einer inzwischen jahrzehntelangen Zusammenarbeit schöpfen, die ich – bei allem Respekt vor General de Gaulle – sehr wohl als freundschaftlich bezeichne.

Der nationale Blickwinkel wird in Paris und Berlin also künftig, wo dies notwendig und möglich ist, stärker geweitet. Ergänzt um den des Freundes. Wir tun das im Wissen um die unterschiedlichen Verfassungstraditionen, die nicht vergleichbare Rechtslage, das jeweils unterschiedliche Gewicht, das die Verfassungen den Parlamenten in Deutschland und Frankreich verleihen. Das Präsidialsystem der Fünften Republik ist mit der parlamentarischen Demokratie, wie sie das Grundgesetz ausformuliert, nicht identisch. Der bewährte Zentralismus Ihres Staatswesens unterscheidet sich fundamental vom Föderalismus der Bundesrepublik mit ihren eigensinnigen Ländern. Der Bundesrat ist eben auch etwas anderes als der französische Sénat.

Das ist so. Und dennoch haben sich beide Parlamente nicht nur auf ein beliebiges Alibiprojekt eingelassen, um am erneuerten Elysée-Vertrag der Regierungen beteiligt zu sein. Sondern sie haben gemeinsam ihren Willen unterstrichen, mit ihrer engeren, institutionalisierten Zusammenarbeit bei konkreten Projekten auch als Vorbild für andere in Europa zu wirken.

Mit der europäischen Idee ist es uns gelungen, auf unserem Kontinent vertrauensvolle zwischenstaatliche Beziehungen zu etablieren. Nach dem beispiellosen Zivilisationsbruch im Nationalsozialismus, nach den Verbrechen des Zweiten Weltkrieges und nach dem Ende des Kalten Krieges. Die Hoffnungen, die am Ende der Teilung der Welt in Ost und West standen, sind heute allerdings einer neuen Unübersichtlichkeit gewichen. Europa erlebt derzeit, was der Völkerrechtler Rein Mullerson dawn of a new order nennt. Dabei werden auf der ganzen Welt unverhohlen multipolare Rivalitäten ausgelebt. Auf internationaler Ebene schwindet die Verlässlichkeit. Für Mullerson kann es eine neue Ordnung auf der Grundlage des Völkerrechts nur in einer multipolaren Welt geben, in der sich die Staaten im Bewusstsein ihrer Unterschiede als „Gleiche“ akzeptieren. Auch er mahnt deshalb nachdrücklich dazu, in die eigene Strategie immer die Sicht der anderen einzubeziehen – ein Ansatz, den wir etwa im Zuge der Osterweiterung von NATO und EU mit Blick auf die Interessen und Befindlichkeiten Russlands offenkundig zu stark vernachlässigt haben. Mit entsprechenden Folgen.

Eine Herangehensweise aber, die uns die deutsch-französische Zusammenarbeit und die europäische Einigung abverlangt. Sie beide sind die besten Ideen, die wir im 20. Jahrhundert hatten. Auch angesichts der globalen Veränderungen des 21. Jahrhunderts mit seinen Herausforderungen. Kein europäisches Land – und sei es noch so stark – wird allein damit fertigwerden. Nur im Verbund können wir den globalen Wandel gestalten. Diese Ansicht teilt übrigens mehr als die Hälfte aller Deutschen.

Sie wünschen sich einer jüngsten Umfrage zufolge die engere Zusammenarbeit der europäischen Mitgliedsstaaten. Obwohl, oder womöglich gerade weil sich die Befragten gleichzeitig Sorgen um die Europäische Union machen. 56 Prozent von ihnen meinen, die Gemeinschaft sei in schlechtem Zustand. Und das ist nicht allein den Wirren um den Brexit geschuldet. Dennoch erwarten die Menschen Kooperationen in drängenden politischen Fragen wie der Asyl- und Migrationspolitik, bei Sicherheit und Terrorbekämpfung, in der Außen- und Verteidigungspolitik, in Umwelt- und Energiefragen. Denn sie haben verstanden, dass ein gemeinsames europäisches Vorgehen einer national ausgerichteten Politik immer überlegen ist. Aber es liegt an der EU zu zeigen, dass sie dazu auch in der Lage ist.

Diesen Beweis muss sie zu einer Zeit erbringen, in der sich die westlichen Demokratien einem regelrechten Stresstest ausgesetzt sehen. Weil wir es global längst mit einem neuen Wettbewerb der Systeme zu tun haben. Einem Wettbewerb, in dem die Demokratien bei Gestaltungskraft und Effizienz gegenüber konkurrierenden autoritären Systemen erkennbar unter Druck geraten. In dem aber zugleich die westlichen Werte, die Prinzipien der Französischen Revolution, weltweit noch immer hohe Anziehungskraft ausüben.

Unsere beiden Länder, die westlichen Demokratien insgesamt, stehen nicht vor identischen, aber doch vor ähnlichen Herausforderungen. Eine liegt im Vertrauensverlust der Politik begründet, wenn nicht der Eliten allgemein. Das hat damit zu tun, wie einzelne Repräsentanten ihre Verantwortung wahrnehmen. Aber nur zum Teil. Wirkmächtiger erscheint mir die stetig wachsende Individualisierung in der Gesellschaft, eine veränderte Öffentlichkeit, in der der Einzelne seine Meinung zunehmend absolut setzt. Der deutsche Romanist Gerhard Poppenberg hat unlängst die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts den „kleinen Ideengespinsten des 21. Jahrhunderts“ gegenübergestellt, in denen Einzelgruppen ihre Privatideologien bilden würden und andere als falsch denunzierten. Der britische Entwicklungsökonom Paul Collier spricht deshalb inzwischen von einer sich in den westlichen Demokratien herausbildenden „Rottweiler-Gesellschaft“: Die gegenseitige Achtung voreinander sinke, vielen gehe es nur noch darum, das eigene Recht durchzusetzen. Dahinter schwinden ein Pflichtgefühl gegenüber der Gesellschaft und das Verantwortungsgefühl für andere Menschen.

Das Allgemeine, das Verbindende in den Gesellschaften tritt immer mehr zurück – mit am Ende schwerwiegenden Folgen für die Kompromissfähigkeit und damit die Mehrheitsbildung in einer Gesellschaft. Einigen lässt sich dann nämlich nicht mehr auf etwas, sondern nur noch gegen etwas. Beispiele dafür finden wir genügend – und beileibe nicht nur auf der britischen Insel. Wo es aber an Gestaltungsmehrheiten fehlt, gibt es keine echten Entscheidungen mehr, also das, woran Politik gemessen wird. Wenn wir politisch nichts mehr gestaltet bekommen, wächst zwangsläufig der Unmut, schwindet das Vertrauen in die Politik, in Regierungen und Parlamente, und erodieren damit die Grundlagen der Demokratie.

Vor diesem Hintergrund warne ich inzwischen regelmäßig in Abwandlung eines bekannten Wahlkampf-Slogans von Bill Clinton: „It's the implementation, stupid!“ Denn wenn wir bei der Umsetzung politischer Ziele nicht erkennbar besser werden, droht der Demokratie ein Glaubwürdigkeitsverlust gegenüber anderen, gerade autoritären Modellen, die global um Einfluss kämpfen. Und die mit einem ungefährdeten Effizienzversprechen für sich werben.

Deshalb kommt es für uns in Europa heute wesentlich darauf an, dass wir gemeinsam daran arbeiten, attraktiv zu bleiben, gemeinsam Lösungen suchen und voneinander lernen, wie wir bei der Umsetzung besser werden. Jedes Mitgliedsland der EU steht bei der Bewältigung der Herausforderungen vor spezifisch nationalen Eigenarten, die Lösungen oftmals erschweren, manchmal sogar verhindern. Solche Selbstblockaden zu überwinden, schaffen wir nicht alleine. Aber im Austausch untereinander, wenn wir unsere wechselseitigen Erwartungen artikulieren und unbequeme Sachfragen offen debattieren, kann uns das sehr wohl gelingen.

Ein Beispiel: Aufgrund unserer Vergangenheit haben Frankreich und Deutschland unterschiedliche Vorstellungen von der Verteidigungspolitik und der militärischen Zusammenarbeit. Diese Gegensätze werden sich nicht über Nacht verflüchtigen. Schließlich gibt es bei uns eine verfestigte politische Stimmung gegen jedes militärische Engagement. Wir Deutschen kommen über diese Hemmnisse, die sich aus unserer Geschichte auch in der Zeit der Teilung und eingeschränkten Souveränität ergeben, alleine nicht hinweg. Aber vielleicht, wenn wir es deutsch-französisch oder europäisch versuchen. Die Arbeit in der gemeinsamen Parlamentskammer – unter Einbeziehung des Sénat – kann dazu führen, dass wir uns so annähern, dass eine gemeinsame Rüstungs- und Verteidigungspolitik möglich wird – die ich im Übrigen für zwingend halte, wenn wir in Europa vorankommen wollen. Umgekehrt gibt es auch in Frankreich Politikfelder, in denen der intensivierte Erfahrungsaustausch zwischen unseren Ländern helfen kann, Blockaden abzuräumen: etwa auf dem Arbeitsmarkt und in der Sozialpolitik. Hier vermag ein europäisches Umfeld notwendige Reformen zu begünstigen.

Gelingt es uns hingegen nicht, in Europa gemeinsam voranzukommen, wird die bereits heute unüberhörbare Kritik an der Politik weiter anschwellen. Sie äußert sich in unterschiedlicher Tonlage – auf der Straße, bei Wahlen, in sozialen Medien, in gelben Westen. Beiderseits des Rheins erleben wir diese wütenden Unmutsäußerungen als beunruhigend. Es ist mehr als Kritik, hier werden oftmals Selbstverständlichkeiten untergraben, Gewohnheiten in Frage gestellt. Und Gewissheiten fundamental in Zweifel gezogen. Nicht zuletzt das demokratische Prinzip der Repräsentation.

Wir erfahren auch in Deutschland gegenwärtig, wie viel Zulauf Populisten bekommen. Ihre Methode ist erschreckend einfach: Sie geben in der Regel simple Antworten auf komplexe Fragen, provozieren oft und zeichnen dabei häufig Feindbilder. Das Resultat sind Ängste, Xenophobie, sogar Hass. Jenseits der Frage, ob sie ernsthaft an der Lösung gesellschaftlicher Probleme interessiert sind, bleibt festzustellen, dass die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung vergiftet ist.  

Wenn heute in öffentlichen Debatten auf den gefestigten Frieden oder Parameter wie die längere Lebensdauer, gesetzlich garantierte Sozialleistungen und andere positive sozio-ökonomische Daten verwiesen wird, um eine Entwicklung zum Besseren zu belegen, finden diese Argumente kaum Gehör. Vielmehr wird lautstark auf verbliebene Defizite und bestehende Ungerechtigkeiten gezeigt – und mögen sie noch so kleine Gruppen der mehrheitlich im Wohlstand oder doch zumindest abgesichert lebenden Bürger betreffen. Es stimmt: Diese Probleme existieren. Und sie sind nicht zu beschönigen. Aber sie sind politisch zu lösen.

Worunter allerdings die Gesellschaft insgesamt über alle Maßen leidet, ist die Tatsache, dass diese Defizite in der öffentlichen Debatte vielfach überdimensioniert erscheinen – insbesondere von einem globalen Standpunkt aus. Ein paradoxes Phänomen: Je geringer die sozialen Ungleichheiten, desto sensibler wird die Bevölkerung für eben diese nur relativ gravierenden Disparitäten. Dieses Paradoxon ist im Übrigen nicht neu: Die Soziologie hat es nach Tocqueville benannt, er hat es bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als beunruhigende Tendenz in Nordamerika ausgemacht.

Mit Kritik müssen sich politisch Verantwortliche, aber auch Wissenschaftler und Medien dennoch intensiv auseinandersetzen. Auch mit Meinungen und Forderungen, die auf die Straße getragen werden. Da ist vieles ungerecht. Auch unwürdig. Und ausdrücklich sei gesagt: Nichts rechtfertigt Aggressivität oder Gewalt! Gleich welche Farbe die Weste hat, die ein Gewalttäter trägt: Wer andere unter Druck setzt, nötigt, Steine schmeißt, Autos blockiert oder Feuer legt, begeht Straftaten und verwirkt seinen legitimen Anspruch darauf, mit seiner Meinung gehört oder ernst genommen zu werden.

Wer in der Demokratie aber auf friedlichem Weg seinen Unmut über Missstände äußert, hat dazu ein Recht. Er kann sogar Dinge äußern, die falsch oder unanständig sind. Das passiert immer häufiger, wie wir wohl alle erfahren, und das ist bisweilen schwer zu ertragen. Aber das müssen wir, die Gesellschaft der Demokratiewilligen und Demokratiefähigen, aushalten. Und wir müssen dagegenhalten, um Werte und Wahrheit zu verteidigen. Auch um wirklich Kritikwürdiges von Populistischem zu trennen. Denn eines ist auch wahr: So groß die Errungenschaften in unseren Ländern sind – niemand sollte so tun, als gäbe es an seinem Handeln nichts zu verbessern. Das gilt für alle Mitglieder der Eliten in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.

Politische Entscheidungen werden in der Regel nach bestem Wissen und Gewissen getroffen. Aber ewigen Bestand müssen sie in der Demokratie nicht haben. Charles de Gaulle hat einmal auf den Mut hingewiesen, den es in der Politik angesichts der menschlichen Fehlbarkeit braucht: „Es ist besser, unvollkommene Entscheidungen durchzuführen, als ständig nach vollkommenen Entscheidungen zu suchen“, hat er gesagt – wohl wissend, dass es letztere, die vollkommenen Entscheidungen, im irdischen Leben niemals geben wird.

Im Wesen der Demokratie ist ihre Entwicklungsfähigkeit angelegt. Dass Fehler korrigiert werden können. Und es ist eine Errungenschaft, dass unsere Gesellschaften die im Verlaufe der Zeit notwendig gewordenen Veränderungen tatsächlich einfordern können. Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch darauf. Und ihre gewählten Repräsentanten sollten über die nötige Souveränität und Entscheidungskraft verfügen, zwischen sinnvoller Forderung im Interesse des Gemeinwohls und überzogenem Einzelinteresse abwägen zu können.  

Genau das ist der politische Prozess, bei dem unsere Parlamente gefragt sind. Als Ort, an dem diese Abwägung ausgetragen werden muss. Zwischen Meinungen, von denen manche abwegig, andere mehrheitsfähig sind. Die Volksvertretungen haben hier eine immense Integrationsverantwortung innerhalb der Gesellschaft.

Und sie haben auch die Aufgabe, sich immer wieder selbst die Frage zu stellen, ob sie die Gesellschaft noch ausreichend repräsentieren. Ob das parlamentarische System noch in der Lage ist, die Vielfalt an gesellschaftlichen Interessen und Meinungen abzubilden. Ob die Partizipationserwartungen der Bevölkerung ausreichend bedient werden. Hier ist in den vergangenen Jahren viel in Bewegung geraten. Überall wird intensiv über neue Verfahren der Bürgerbeteiligung diskutiert, manches auch ausprobiert – bis hin zum letztlich gescheiterten Selbstversuch einer digitalaffinen Partei in Deutschland, dem Ideal des „plébiscit de tous les jours“ via Internetgestützter permanenter Abstimmungen zu ganz neuer Bedeutung zu verhelfen.

Wir werden trotzdem weiter über neue Formen der öffentlichen Willensbildung nachdenken, uns in Europa darüber austauschen und miteinander diskutieren müssen. Mit dem Ziel, unser politisches System attraktiv und effizient zu halten, die Beteiligung der Bürger zu sichern und damit einen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in unseren westlichen Demokratien zu leisten.

Für den israelischen Philosophen Avishai Margalit ist die decent society, die anständige Gesellschaft, eine, die den Menschen nicht erniedrigt. Nur in einer solchen Gesellschaft könne, so Margalit, Gerechtigkeit herrschen. Gemeint sind hier weniger die ökonomischen Bedingungen als vielmehr ein Lebensgefühl der Gleichwertigkeit. Als Grundvoraussetzung nennt Margalit Bedingungen, in denen Selbstachtung und Selbstwert, Ehre und Integrität des einzelnen Bürgers gewahrt werden.

Wenn wir jüngsten soziologischen Analysen folgen und über die Problematik sprechen, dass ländliche Regionen in unseren beiden Ländern anders als urbane Zentren weniger oder gar nicht von der Digitalisierung und der Globalisierung profitieren – können wir dann wirklich sicher sein, dass die Menschen dort anerkannt und geschätzt werden?

Möglicherweise dominiert unter ihnen das Gefühl, dass ihre traditionelle Lebensweise nicht geachtet, geschweige denn geschützt werde. Eine anständige, lebenswerte Gesellschaft ist aber eine, in der Defizite behoben werden. In der Verbesserungs- und Veränderungsprozesse angegangen werden. Mit dem gestalterischen Willen, eine Balance zu finden zwischen unaufhaltsamer Veränderung und notwendigem Halt. Diese Balance braucht es.

Wir erleben doch derzeit, wie inmitten unseres Wohlstands die Verunsicherung wächst, Zukunftspessimismus dominiert. Unbegrenzte Freizügigkeit weckt auch Unbehagen. Die Freiheiten, die wir in unseren offenen Gesellschaften haben, durch die Globalisierung und die neuen Kommunikationsmittel, können überfordern.

Glück und Zufriedenheit der Menschen entscheiden sich eben nicht alleine an der Frage, wie viele und welche Autos in der Garage stehen. Nicht daran, wie viele Reisen man sich leisten kann, in die exotischsten Länder der Welt. Nicht einmal daran, wie viele „Likes“ man in Sozialen Medien sammelt. Glück und Zufriedenheit der Menschen entscheiden sich daran, ob man sein Leben so führen kann, dass man mit sich im Einklang ist. Dass man Bindungen erfährt, sich verwurzelt fühlt, geborgen ist. Dass man Halt hat, ein zu Hause.

Wohlstand und auch Armut sind sehr relative Begriffe, so wie das Glück. Der Hinweis auf unseren materiellen Wohlstand, erst Recht im internationalen Vergleich, löst deshalb die Probleme nicht. Und den materiellen Wohlstand weiter zu mehren, macht allein auch noch nichts besser. Das ist eine Fehleinschätzung, der die Politik allzu gerne erliegt.

Wir haben in den westlichen Demokratien Chancen und Risiken der Globalisierung und Digitalisierung lange zu sehr nur unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet. Die immense Beschleunigung des Wandels auf allen Ebenen wird aber in den Gesellschaften von vielen Menschen als disruptiv, als Entfremdung wahrgenommen, als Auflösung des Bekannten, Hergebrachten, Vertrauten. Sie fürchten, von den Veränderungen überrollt zu werden, einer immer komplexeren Welt ausgeliefert zu sein. Das hat Fragen nach Zugehörigkeit wieder aufgeworfen, die Debatte um Identität neu entfacht. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama zeigt in seinem aktuellen Essay, dass es dabei längst nicht mehr allein um Achtung und Anerkennung gesellschaftlicher Minderheiten geht. Vielmehr habe sich die gesamte politische Debatte quer zu den überkommenen ideologischen Gräben identitätspolitisch aufgeladen. Wenn aber eine Gesellschaft versuche, so Fukuyama, Interessenvertretung nur noch per Identität zu definieren, etwa entlang ethnischer Trennlinien, werde das System funktionsunfähig. Er fordert deshalb von den westlichen Demokratien, den Wunsch nach Anerkennung ernster zu nehmen, nach einem Gemeinschaftsgefühl. Vor diesem Hintergrund gewinnt für ihn die Frage nach nationaler Identität neu an Gewicht.

Zur europäischen Wirklichkeit gehören die Nationalstaaten. Sie sind ein vertrauter Zufluchtsort für Menschen, die von den alltäglich auf sie einstürzenden Veränderungen der Globalisierung verunsichert sind. Umso wichtiger wird, das zentrale Verständnis dafür zu stärken, dass kein europäisches Land ohne Europa noch eine Zukunft hat. Identitäten können sich verändern, deshalb müssen wir daran arbeiten, dass sich eine europäische Identität herausbildet. Ein Gemeinschaftsgefühl, das sich aus den historischen Wurzeln und kulturellen Grundlagen speist. Das aber auch der Überzeugung folgt, dass wir die globalen Ordnungsfragen im europäischen Sinne nur wirkungsvoll mit beantworten können, diese Welt in Bewegung mit unseren Werten und Überzeugungen mit gestalten können, wenn wir es als Europäer gemeinsam tun.

Verschiedenheit zu akzeptieren, die Vielfalt legitimer Interessen, Blickwinkel und Meinungen anzuerkennen und die eigenen Vorstellungen nicht zum Maß aller Dinge zu erklären – nochmal: Das ist der gedankliche Schlüssel dabei, um ein Mehr an Gemeinsamkeit zu schaffen.

Verantwortliche Politik muss den Menschen das Gefühl geben, dass sie gehört werden, in den Parlamenten. Dass ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden: Sicherheit, der Erhalt sozialer Bindungen, Zusammengehörigkeit. Das fordert von allen Beteiligten Geduld, Aufrichtigkeit und sehr viel guten Willen. Wir können aber nur so wütende Proteste entbehrlich machen. Der Radikalität den Boden entziehen, auf dem sie gedeiht. Menschen für politisches Engagement neu begeistern.

Das kann in unseren westlichen Demokratien mit ihrer permanenten Kommunikationserwartung nur gelingen, wenn wir in einem gemeinsamen Kraftakt Mut, Elan und Visionen aufbringen. Und die Probleme da gemeinsam angehen, wo sie nur gemeinsam zu lösen sind. So haben es die Begründer der deutsch-französischen Freundschaft und der Europäischen Gemeinschaft seinerzeit auch getan. Deutscher Bundestag und Assemblée nationale gehen heute voran. Als Transmissionsriemen nicht mehr nur zwischen Wählern und Gewählten, der nationalen Regierungen und den Bürgern, sondern auch im weiter intensivierten Austausch unserer Länder. Hier gibt es kein Ende der Geschichte. Im Gegenteil: Hier stehen wir in Europa noch immer am Anfang.

In diesem Sinne: Vive la France! Vive l‘amitié franco allemande! Vive l‘Europe!

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