07.07.2019 | Parlament

Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zum 50. Jubiläum der Björn-Steiger-Stiftung

[Es gilt das gesprochene Wort]

Anrede,

„Unglück hat mich gelehrt, Unglücklichen Hilfe zu leisten.“ Diese Erkenntnis Vergils gibt dem heutigen Jubiläum ein treffendes Motto. Denn wenn wir heute 50 Jahre Björn-Steiger-Stiftung begehen, denken wir auch an ein Unglück, an einen tragischen Unfall, bei dem ärztliche Hilfe zu spät kam. Der Tod von Björn Steiger hat unser Land verändert. Weil seine Eltern, Ute und Siegfried Steiger, nicht in ihrem persönlichen Unglück erstarrt sind, sondern daraus Lehren für die ganze Gesellschaft gezogen haben. Sie wollten etwas tun, um weitere vermeidbare Tragödien zu verhindern. Daraus ist ein großes Werk entstanden. 

Liebe Familie Steiger, mit der Stiftung, die den Namen Ihres Sohnes und Bruders trägt, haben Sie den Grundstein für das flächendeckende Rettungswesen in unserem Land gelegt, die Notfallhilfe in Deutschland regelrecht revolutioniert. Und auch international konnten Sie durch Ihre Tatkraft und unermüdlichen Einsatz für Notfallopfer vieles bewirken. 

Wer kennt diesen Satz nicht? „Im Notfall wählen Sie 112.“ Diese und weitere Notfallnummern werden tagtäglich tausendfach gewählt. In einem heißen Sommer wie jetzt noch häufiger als sonst. Der Anruf setzt ein gut aufeinander abgestimmtes Rettungssystem in Gang ein. Das ist in Deutschland heute Standard, gilt als selbstverständlich. Vor 50 Jahren war es das nicht. „Rückspiegelrettung“ nannte man damals den Transport von der Unfallstelle ins Krankenhaus. Denn auf dem Weg konnte der Fahrer des Krankenwagens nichts für den Verletzten tun, außer in den Rückspiegel zu schauen. Notarztbesetzung, Beatmungsmaschine, Defibrillator, Infusionen und Notmedikation – das alles gab es unterwegs nicht. Nicht einmal über Funkgeräte verfügten die üblichen Krankenwagen damals – im Gegensatz zu Taxen. 

Vieles, was uns heute im Rettungswesen so selbstverständlich erscheint, geht auf die Initiative der Björn-Steiger-Stiftung zurück. Von ihren Verdiensten wird heute noch häufiger die Rede sein – die Liste ist lang. Sie reicht von der bundesweiten Notfallnummer, dem kostenfreien Notruf und Rufsäulen an Bundes- und Landstraßen über die Einführung des Rettungsdienstes und der zivilen Luftrettung, Schnellbergungswagen und Baby-Notarztwagen bis hin zur Verbreitung von Laien-Defibrillatoren, einer Mobile-Retter-App sowie Forschungs- und Schulprojekten. Sogar neue Berufsbilder sind dank der Stiftung entstanden: der Rettungssanitäter und Rettungsassistent. 
Die Stiftung begreift sich als ein „Motor der Notfallhilfe“ und ist auch heute mit viel Kreativität und Innovationsdrang auf der Suche nach zeitgemäßen Lösungen mit modernster Technik. Und immer mit dem gleichen Ziel: der Rettung von Menschenleben. 

Karl Popper wusste: „Wir können unsere Welt verbessern, indem wir Verantwortung tragen.“ Bürgerschaftliches Engagement entsteht meist dort, wo ein Missstand erkannt wird, wo es aber zur Abhilfe des Einsatzes durch Private braucht, weil der Staat sie nicht leistet. Die Björn-Steiger-Stiftung hat eine solche Schieflage im deutschen Rettungswesen in das gesellschaftliche und politische Bewusstsein gehoben. Solche zivilgesellschaftlichen Initiativen sind als unkonventionelle Impulsgeber und Korrekturinstanzen unverzichtbar. Es waren Bürgerinitiativen, die Umweltthemen und soziale Fragestellungen überhaupt erst auf die Tagesordnung von Politik und Gesellschaft gebracht haben. Viele Reformen der letzten Jahrzehnte wären ohne das Engagement der Bürgergesellschaft nicht zustande gekommen. Heute treibt unsere Jugend die Politik durch ihr Engagement bei den Freitagsdemonstrationen aus Sorge um den schnellen Klimawandel und seine Folgen für die Zukunft der Menschheit an. Auch das ist bürgerschaftliches Engagement. 
Der Deutsche Bundestag hat bereits vor 20 Jahren eine Enquete-Kommission eingesetzt, um einen fundierten Überblick über die Bandbreite und die Bedeutung bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland zu gewinnen. Daraus ist ein ständiger Unterausschuss im Parlament hervorgegangen, der sich kontinuierlich – inzwischen schon in der fünften Legislaturperiode in Folge – mit dem Thema bürgerschaftliches Engagement befasst. Die Befunde sind komplex.
Erfreulich ist, dass die Bereitschaft, sich für die Gesellschaft einzusetzen, in Deutschland nach wie vor stark ausgeprägt ist. Und seit Ende der 1990er Jahren sogar kontinuierlich wächst. Rund 44 Prozent der Deutschen sind ehrenamtlich aktiv, zum Teil mit erheblichem Zeitaufwand – davon profitiert auch die Björn-Steiger-Stiftung. 
Und 50 Prozent derjenigen, die sich noch nicht engagieren, sind dazu prinzipiell bereit. 
Gleichzeitig wandeln sich die Formen des Engagements. Die Menschen wollen frei darüber entscheiden, wo sie sich einbringen. Viele wollen lieber projektbezogen helfen und sich nicht binden, ihren Einsatz flexibel und individuell gestalten. Hop on, hop off. Je nach ihrer verfügbaren Zeit, ihrer beruflichen Beanspruchung, ihrer familiären Situation.

Das hat natürlich auch mit dem schnellen gesellschaftlichen Wandel zu tun. Wir stecken mitten in einer digitalen Revolution, die mit einer ungeheuren Wucht praktisch alle Bereiche des Lebens verändert und durchdringt. Immer schneller. Die Welt rückt immer näher an uns heran. Und sie wird immer weniger überschaubar. Menschen sind heute mobiler, ortsunabhängiger. Wollen ihre Freiheiten behalten.
Auch das ist Globalisierung. Ein ambivalentes Phänomen. Überall ist davon die Rede, doch wir lernen erst, was Globalisierung wirklich bedeutet – neben fast unbegrenzten neuen Möglichkeiten auch vielfache Ungewissheiten. 
Für mich steht außer Frage: Die Globalisierung ist trotz aller Herausforderungen und Risiken ein weltweites Wohlstandsprojekt – mit bisher ungekannten Chancen. Milliarden Menschen bekommen so die Möglichkeit, sich mit der Dynamik freier Märkte erstmals aus eigener Kraft aus der Armut zu befreien. Das ist ein Teil der Wirklichkeit. 
Der andere ist weniger rational. Aber genauso real: Das Gefühl, dass etwas aus den Fugen geraten ist. Das müssen wir ernst nehmen. Wir leben in Umbruchzeiten, die mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts durchaus vergleichbar sind. Und wir spüren: Unsere, die offenen Gesellschaften stehen unter Druck, die freiheitlichen Demokratien werden einem Stresstest unterzogen. Mit der Folge, dass die Chancen, die jeder Wandel bietet, im Bewusstsein der Menschen verblassen. Dafür treten die befürchteten Risiken in den Vordergrund. Das Gefühl, benachteiligt zu sein, abgehängt und missachtet droht die Gesellschaft zu spalten.

Das hat weitreichende Konsequenzen für den einzelnen Menschen und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Entwicklungsökonom Paul Collier spricht gar von einer „Rottweiler-Gesellschaft“. Die gegenseitige Achtung voreinander sinke, vielen gehe es nur noch darum, das eigene Recht durchzusetzen. Die Pflichten gegenüber der Gesellschaft und das Verantwortungsgefühl für andere Menschen treten dahinter zurück. 
Zusammenhalt in der Gesellschaft hat viel mit Solidarität zu tun. Der Soziologe Heinz Bude hat diesen Begriff gerade neu durchdekliniert. Sein Fazit: Wir kommen gesellschaftlich nur weiter, wenn wir einen Begriff von Solidarität entwickeln, der alle mit einbezieht. Die Björn-Steiger-Stiftung praktiziert das bereits – die Nothilfe kommt allen zugute!

Wie passen die Befunde zusammen? Einerseits eine ehrenamtlich und bürgerschaftlich engagierte Mehrheit der Gesellschaft. Andererseits weitverbreiteter Individualismus und eine gespaltene Gesellschaft aus sich voneinander separierender Gruppen. In einer aktuellen Studie der Universität Bielefeld ist sogar von einer „Generation Rücksichtslos“ die Rede. Umfragen unterfüttern das: 81 Prozent der Befragten meinen, der Zusammenhalt habe in den letzten Jahren abgenommen. Nur 20 Prozent halten ihn für stark bis sehr stark. Nicht von ungefähr kommt also die Rede von Spaltungen in der Gesellschaft – politischen, sozialen, kulturell begründeten, durch Herkunft oder Religion. Spaltungen zwischen Ballungsräumen und ländlichen Gebieten, zwischen einer gebildeten Elite und den weniger Gebildeten, die in Augen der kosmopolitischen Gesellschaftsschicht als moralisch unterlegen gelten. Diese Entwicklungen müssen wir ernst nehmen. Dem weiteren Auseinanderdriften entgegentreten. Dabei bin ich zuversichtlich, wenn ich sehe, was unsere Zivilgesellschaft in den vergangenen Jahren geleistet hat. 
Menschen wollen solidarisch sein. Und wer solidarisch ist, erfährt, dass er gebraucht wird. 

Bürgerschaftliches Engagement lässt sich aber nicht staatlich verordnen. Es kann nur von unten wachsen. Es braucht geeignete Rahmenbedingungen. Hier ist die Politik gefragt. Und sie hat in den vergangenen Jahren ihren Beitrag dazu geleistet – etwa durch die Reform des Stiftungsrechts oder das Gesetz „Hilfe für Helfer“. Neben der politischen Unterstützung braucht das freiwillige Engagement vor allem Motivation durch Anerkennung in der Gesellschaft. 

Meine Damen und Herren, 
Winnenden ist untrennbar mit der Arbeit der Björn-Steiger-Stiftung verbunden. Aber auch mit einem schrecklichen Amoklauf. Das Leid dieser Tragödie vor 10 Jahren wirkt bis heute nach. Es hat die Stadt verändert. Es war kein Unfall. Am Ende aber waren 16 Menschen tot. Dabei wurde noch Schlimmeres verhindert – durch das schnelle Eingreifen der Polizei. Und die beispielhafte Nachsorge vor Ort. 
Der Amoklauf vom 11. März 2009 zeigt: Überall, wo Menschen am Werk sind, kommt die menschliche Natur in ihrer Widersprüchlichkeit zum Ausdruck: Der Mensch ist zur Freiheit begabt, aber zugleich unvollkommen und fehlbar, stark und schwach, ebenso zum Guten fähig wie zum absolut Bösen. Er braucht Grenzen und Regeln, die seiner Freiheit erst einen Rahmen geben. Er braucht Maß und Mitte. Gerät er aus der Balance, kann es in eine Katastrophe führen – im Privaten wie im öffentlichen Raum.

Die menschliche Doppelnatur offenbart sich auch bei Unfällen – insbesondere auf den Autobahnen. Menschen, die vermutlich im Privaten hilfsbereit und empathisch auf Leid reagieren, behindern die Arbeit von Polizei und Rettungskräften, weil sie unwillig sind, schnell eine Rettungsgasse zu bilden, weil sie gaffen, weil sie Unglückstellen filmen oder fotografieren, um damit in den sozialen Medien anzugeben. Womöglich sogar „Likes“ zu erhaschen. Menschen waren schon immer schaulustig. Das ist kein neues Phänomen. Doch mit den neuen Kommunikationstechniken hat auch die Sensationsgier eine neue Dimension erreicht. In welchem Kontrast steht dieses Verhalten zum Kampf der Björn-Steiger-Stiftung um das Leben jedes Unfallopfers! 

Das Gaffertum ist nicht harmlos. Und es ist nicht hinnehmbar. Wir sollten das Gespür in der Bevölkerung dafür schärfen. Wie das Bewusstsein, dass jeder allein durch richtiges Verhalten dazu beitragen kann, Leben zu retten. Wenn schon nicht aus Empathie, dann im Wissen, dass jeder selbst in eine Situation kommen kann, in der es um sein Leben geht. 
Die Björn-Steiger-Stiftung fordert noch schärfere Vorschriften und Sanktionen im Straßenverkehr. Auch darüber muss diskutiert werden. Das gehört zu den Aufgaben der Politik. Sie muss die Regeln für das gesellschaftliche Zusammenleben gestalten und auf Missstände reagieren. 

Hermann Gmeiner, Gründer der SOS-Kinderdörfer, hat einmal gesagt: „Alle Wunder dieser Welt entstehen dadurch, dass einer mehr tut, als er tun muss.“ Sie, liebe Familie Steiger, haben unendlich viel getan. Und die Geschichte Ihrer Stiftung besteht aus unzähligen kleinen und großen Wundern. Auch nach 50 Jahren bleibt viel zu tun in der Weiterentwicklung des Rettungswesens in Deutschland und in der Welt. Die Björn-Steiger-Stiftung wird weiter zu den Impulsgebern und Innovationstreibern der Rettungshilfe gehören. Dafür wünsche ich Ihnen das notwendige Durchhaltevermögen und alles Gute für die nächsten 50 Jahre! 

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