01.09.2019 | Parlament

Grußwort von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble nach dem Gottesdienst im Berliner Dom zum Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren

[Es gilt das gesprochene Wort]

Ich bin Ihnen sehr dankbar, Frau Sejmmarschall, dass Sie so kurz nach Ihrer Amtsübernahme meiner Einladung nach Berlin gefolgt sind. Es ist nicht selbstverständlich, dass Sie heute gerade hier zu uns gesprochen haben – inmitten der deutschen Hauptstadt, wo vor 80 Jahren der verbrecherische Überfall auf Ihr Land geplant und von wo aus der deutsche Vernichtungskrieg im Osten Europas geführt wurde.

Ihr Kommen bedeutet uns viel. Denn wir sind uns der historischen Schuld und der uns daraus erwachsenden bleibenden Verantwortung bewusst. Und wir wissen: Es braucht die Begegnung, das Zuhören, den Austausch, wenn wir einander besser verstehen wollen – gerade die Traumata unserer jeweiligen Geschichte. Eine Last, die uns nicht aufs Neue trennen sollte.

Der Berliner Dom ist der geeignete Ort, um des schmerzlichsten Teils der deutsch-polnischen Vergangenheit vor einem weiten historischen Horizont zu gedenken. Als dynastische Grabstätte der Hohenzollern ist der Dom eng mit der Geschichte Preußens verbunden – eines Staates, der heute nicht mehr existiert, der aber mit den drei polnischen Teilungen die Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarn so nachhaltig geprägt hat.

Dieser Ort verweist zugleich auf die christlichen Werte, die Deutsche und Polen verbinden. In einer wechselvollen Geschichte, die immer gesamteuropäisch eingebettet war – seit dem Akt von Gnesen im Jahr 1000, als die außergewöhnliche persönliche Beziehung von Kaiser Otto III. und Boleslaw Chrobry begründet wurde.

In diesem Gotteshaus erinnern wir uns insbesondere an die zentrale Rolle der Kirchen im langen Prozess der Verständigung und Versöhnung unserer Völker. Der Glaube macht an Grenzen nicht halt. Die Kirchen konnten deshalb einen erheblichen Anteil daran nehmen, dass Deutsche und Polen wieder zueinanderfanden. Ich denke vor allem an den mutigen Brief der polnischen Bischöfe, die im November 1965 an ihre deutschen Amtsbrüder schrieben: „Wir vergeben und wir bitten um Vergebung.“ Das waren nur 20 Jahre nach Kriegsende bahnbrechende Worte der Versöhnung und eine großzügige, zukunftsweisende Geste. Die heute mit diesem Gottesdienst begründete Partnerschaft zwischen der Warschauer St. Trinitatis-Kirche und der Berliner Domgemeinde setzt ein eigenes Zeichen für die intensivierte Zusammenarbeit und enge Freundschaft über die Grenze hinweg.

Und das an einem 1. September!

Ihre eindringlichen Worte, Frau Sejmmarschall, haben den besonderen Stellenwert dieses Datums in der kollektiven Erinnerung Ihrer Nation noch einmal verdeutlicht. Zusammen mit dem 23. August und dem 17. September 1939 bildet es eine traumatische Trias, die sich in das historische Bewusstsein der polnischen Nation eingebrannt hat. Als eine „noch nicht erloschene“ Vergangenheit, wie der Historiker Henryk Wereszycki es einmal nannte.

Der Hitler-Stalin-Pakt und in seiner Folge der Einmarsch auch sowjetischer Truppen in Polen Mitte September 1939 bedeuteten faktisch die vierte Teilung des Landes – gerade zwei Jahrzehnte, nachdem Polen seine staatliche Souveränität erst wiedererlangt hatte! Sich das zu vergegenwärtigen, relativiert die deutsche Schuld nicht. Es stärkt aber unser Verständnis für die polnische Perspektive, für die Sicht unseres Nachbarn auch auf gegenwärtige Herausforderungen. Wir Deutschen machen uns noch immer viel zu wenig bewusst, wie stark in Polen das Erleben des Zangengriffs übermächtiger Nachbarn und die doppelte Diktaturerfahrung bis heute nachwirken. So wie wir auch noch immer viel zu wenig vom polnischen Widerstand im Weltkrieg wissen: von den geheimen Universitäten, dem polnischen Untergrundstaat und vom Heldenmut im Warschauer Aufstand, diesem ungebrochen Willen und Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit.

Erst die Umstürze 1989 brachten den Polen nach Jahrzehnten kommunistischer Vorherrschaft, die auf den deutschen Terror folgten, volle Freiheit. Sie haben sich die Demokratie erkämpft. Wir vergessen es nicht: Ohne den Mut der Polen, die wiederholt gegen die kommunistische Diktatur aufbegehrten, ohne den Beitrag von Papst Johannes Paul II. und ohne Solidarność wäre auch die Friedliche Revolution in der DDR vor 30 Jahren nicht möglich gewesen; es hätte die deutsche Wiedervereinigung so nicht gegeben.

Wir haben gerade die Seligpreisungen aus der Bergpredigt gehört: „Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.“

Kinder Gottes – „nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau“, wie Paulus an die Galater schreibt. Das gilt auch für uns heute, auf beiden Seiten der Oder: Frieden stiften – das ist eine immerwährende Aufgabe. Wir alle wissen, dass der Friede zwischen Menschen wie zwischen Staaten und Völkern nicht selbstverständlich ist. Nichts ist so sicher, dass es nicht gefährdet werden könnte. Auch nicht im friedensverwöhnten Europa.

Die ursprüngliche Begründung der europäischen Integration, Frieden für die Zukunft zu sichern, ist ja nicht obsolet geworden. Das zeigte der Bosnienkrieg, das beweist der Krieg im Osten der Ukraine. Im heutigen Europa fällt Polen und Deutschland als Partner und Freunde eine besondere Aufgabe zu – mehr denn je. Wir wollen gemeinsam einen Beitrag dazu leisten, die größte Errungenschaft der europäischen Integration zu festigen: Die Überwindung der Spaltung des Kontinents in Ost und West. Der einstige polnische Außenminister, der unvergessene Władysław Bartoszewski, hat es 2002 so ausgedrückt: „Unsere Nachbarschaft wird im hohen Maße entscheiden, ob, wann und wie rasch der so lange künstlich geteilte Kontinent zusammenwachsen wird.“ Seine Worte sind weiter aktuell. Das spüren wir gerade heute, am Tag des Gedenkens an den deutschen Überfall auf Polen vor 80 Jahren. Und diesem Gedanken fühlen wir uns verpflichtet, Deutsche und Polen gemeinsam, als Partner, als Freunde.

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