01.09.2019 | Parlament

Grußwort von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble am Askanischen Platz in Berlin zum Gedenken an die polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs

[Es gilt das gesprochene Wort]

„Die Ewigkeit der Toten dauert so lang, solange man sich ihrer erinnert“: Diesen Gedanken formulierte einst die polnische Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska. Das Erinnern ist ein Auftrag an die nachfolgenden Generationen.

Heute ist ein besonderer Tag dazu! Mit dem deutschen Überfall auf Polen begann vor 80 Jahren der Zweite Weltkrieg, ein rassenideologischer Vernichtungsfeldzug, dessen erstes Opfer die Polen waren. Meine Amtskollegin, Frau Sejmmarschall Witek, und ich haben eben zusammen bei einem Gedenkgottesdienst im Berliner Dom daran erinnert – als Zeichen unseres Willens, im Wissen um die traumatische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts eine friedliche Zukunft im geeinten Europa zu gestalten. Gemeinsam. Auf der Grundlage christlicher Werte, die uns verbinden.

„Nach jedem Krieg
muss jemand aufräumen.
So eine Ordnung danach
macht sich schließlich nicht von selbst.“

Auch das sind Worte der Dichterin Szymborska. Trümmer kann man wegräumen. Aber Erfahrungen und Erinnerungen? Umgang mit der Geschichte heißt Totengedenken. Erinnerungen für „die Ordnung danach“ zu sortieren, ist ein schmerzvoller, über Generationen dauernder Prozess, denn er betrifft die kollektiven Erinnerungen der Völker, das Gedächtnis der Familien und die Prägung jedes einzelnen von uns. Zum Aufräumen braucht es beides: fundiertes Wissen und Raum für Gefühle. Denkmäler können Orte der Erinnerung sein, wenn sie zum Nachdenken anregen, indem sie Fragen beantworten und neue Fragen aufwerfen – Fragen, die in die Zukunft weisen.

Der Publizist Peter Bender hat einmal gesagt: „Ich interessiere mich für Polen, weil ich mich für Deutschland interessiere.“ Er hat Recht: Nur wer dem anderen zuhört, wer den Blickwinkel des anderen auf die Vergangenheit versteht, kann eine Ordnung schaffen, die dem eigenen und dem Bedürfnis des anderen gerecht wird.

Ein Denkmal zur Würdigung polnischer Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft kann dazu beitragen. Deshalb soll hier, im Zentrum von Berlin, ein sichtbares Zeichen errichtet werden. Die Initiative dazu kommt aus der Mitte der deutschen Gesellschaft, sie wird inzwischen auch von mehr als 200 Mitgliedern des Deutschen Bundestages unterstützt und weiter vorangebracht. Der Askanische Platz vor der Ruine des Anhalter Bahnhofs wäre der passende Ort für dieses Denkmal. Hier wurde im November 1940 der sowjetische Außenminister Molotow, einer der Architekten des für Polen so verhängnisvollen Hitler-Stalin-Paktes, zum Besuch empfangen. Das erinnert daran, dass Polen im Zweiten Weltkrieg zweimal besetzt wurde – zuerst von Deutschland, dann von der Sowjetunion. Das mindert die deutsche Schuld nicht. Für Polen ist es aber eine Tatsache mit prägender Bedeutung bis heute; sie erklärt viel über die Sicherheitsbedürfnisse unseres Nachbarn und die polnische Sicht auf Europa. Wir täten gut daran, in unseren Überlegungen diese polnische Perspektive stets mitzudenken.

Die unmittelbare Nachbarschaft zum künftigen Dokumentationszentrum der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ im Deutschlandhaus verdeutlicht die schmerzhafte Spannung zwischen Erinnerungen und Deutungen unserer Geschichte. Die Verortung des künftigen Denkmals legt gleichzeitig Kausalitäten offen – den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Und das inmitten unserer Hauptstadt, im öffentlichen Raum.

Ein Denkmal für die polnischen Opfer war auch ein Herzensanliegen von Władysław Bartoszewski, der Auschwitz überlebt und in beiden Diktaturen Widerstand geleistet hat. Unvergessen bleibt seine Rede als Außenminister Polens im Deutschen Bundestag 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Er sagte damals: „Das Gedenken und die historische Reflexion müssen unsere Beziehungen begleiten. Sie sollten dafür jedoch nicht Hauptmotivation sein, sondern den Weg bereiten für die gegenwärtigen und in die Zukunft gerichteten Motivationen.“

Hier ist der Ort, um einen wichtigen Schritt auf diesem Weg zu machen: die Erinnerung in unsere gemeinsame europäische Zukunft zu tragen.

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