10.09.2019 | Parlament

Festrede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zum 70. Jubiläum der CDU/CSU-Bundestagsfraktion

[Es gilt das gesprochene Wort]

Anrede

„Für mich ist es das Fegefeuer, wenn ich in die Fraktion muss.“

So soll es unser erster Fraktionsvorsitzender empfunden haben. Konrad Adenauer, der Vorsitzende mit der bislang kürzesten Amtszeit – vierzehn Tage nach seiner Wahl wurde er Bundeskanzler. Dieses Amt hatte Adenauer schon viele Jahre inne, als er dem Protestanten Eugen Gerstenmeier die Frage beantworten sollte, was das Fegefeuer sei.

Heute feiern wir 70 Jahre CDU/CSU-Fraktion – nicht Vorhölle und auch nicht Paradies, vielmehr einen ganz irdischen Ort mit menschlichem Charakter, also: mit Höhen und Tiefen, so wie der Mensch eben geschaffen ist.

Der Beitrag unserer Fraktion zur Festigung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Aufbau der sozialen Marktwirtschaft ist unbestritten, genauso bei den anderen großen politischen Weichenstellungen der vergangenen Jahrzehnte: Westbindung, Wiederbewaffnung, europäische Integration, deutsche Einheit.

Formal spielen die Fraktionen in unserer politischen Ordnung gar keine hervorstechende Rolle; das Grundgesetz betont den Abgeordneten mit seinem freien Mandat. Fraktionen tauchen explizit nur in Art. 53 Abs. 1 Satz 2 auf, in den Bestimmungen zur Zusammensetzung des Gemeinsamen Ausschusses. Und doch sind sie aus dem politischen Alltag nicht wegzudenken, als „notwendige Einrichtungen des `Verfassungslebens´“, wie sie das Bundesverfassungsgericht bezeichnet hat. Die Demokratiegeschichte unseres Landes zeigt: Ohne stabile Fraktionen kein stabiles Parteiensystem. Hans-Peter Schwarz drückte es so aus: „Fraktionen leisten (…) ihren unentbehrlichen Beitrag zum parlamentarischen System der Bundesrepublik, weil sie recht ingeniös das Prinzip der Repräsentativität mit dem Gebot der institutionellen Stabilität verbinden.“

Wenn ein Genie – oder doch wenigstens eine Institution, die als „ingeniös“ bezeichnet wird – 70 Jahre alt wird, dann ist das ein Grund zu feiern. Und auch dazu, uns an prägende, unvergessene Köpfe unserer Fraktionsgemeinschaft zu erinnern. Einigen der politischen Schwergewichte aus der Anfangsepoche bin ich bei meinem Einzug in den Bundestag noch begegnet, Ludwig Erhard etwa, Kurt Georg Kiesinger, Hermann Höcherl oder Bruno Heck, dem ersten Generalsekretär der CDU. Mit ihnen wurde die CDU/CSU-Fraktion zum „maßgeblichen politischen Gravitationsfeld“, wie Hans Peter Schwarz weiter schreibt – der allerdings, so viel Wasser gehört in den Wein auch einer Festveranstaltung, trotzdem „viel totes Holz“ in der Fraktion der ersten Legislaturperioden auszumachen glaubte.

Totes Holz? Das Verdikt scheint dann doch stark übertrieben – und damit wiederum nicht untypisch für manch Urteil zum realexistierenden Parlamentarismus. „Das kritikbedürftigste Moment des Bonner Parlamentarismus ist die Kritik, die an ihm geübt wird.“ Mit dieser Einschätzung hat Ernst Fraenkel auf eine Schizophrenie aufmerksam gemacht: Die Kritiker des Parlaments sehnen sich nach „einer starken Regierung und (bekennen) sich öffentlich zur Herrschaft eines allmächtigen Parlaments“. Sie beschimpften die Abgeordneten, wenn es zu einer Regierungskrise kommt und verhöhnten ihn, wenn er getreulich die Fraktionsparole befolgt. Diese Art der Kritik ist uns allen vertraut. Heute kommt sie vielstimmig vor allem über die neuen Medien, aber sinngemäß ist sie identisch mit dem, was die Parlamentarier bereits in den 1960er Jahren erlebten: Kritik die, so nochmal Fraenkel, „die notwendigerweise repräsentative Natur eines jeden funktionierenden Parlamentarismus (verkennt) und (…) seinen Charakter (verfälscht), indem sie ihn plebiszitär zu interpretieren versucht.“

2011, zur Zeit der europäischen Schuldenkrise und der Euro-Rettungsschirme, erschien ein kleiner Sammelband über das freie Mandat, das Rederecht und die Fraktionen. Herausgegeben wurde es vom vormaligen Verfassungsgerichts- und Bundespräsident Roman Herzog. Darin schildert der FAZ-Parlamentskorrespondent Günter Bannas, selbst langediente Abgeordnete würden mehr und mehr das Gefühl bekommen, (Zitat) „die Freiheit ihres Gewissens habe sich vor allem auf den Erhalt der Regierungsfähigkeit ihrer Fraktion zu konzentrieren“. Der Befund sollte ein Urgestein der Parlamentsberichterstattung eigentlich nicht wirklich erstaunen. Schließlich führt diese Beobachtung mitten hinein in das spannungsvolle Verhältnis zwischen Abgeordneten, Fraktion und – gegebenenfalls – Regierung.

Es ist eben nicht einfach, aus der Vielfalt der ganz unterschiedlichen Auffassungen, Probleme, Schicksale zu gemeinsamen Handlungen zu kommen. Aber ohne sie geht es nicht. Es braucht in der pluralen Gesellschaft die Reduzierung auf entscheidungsfähige demokratische Mehrheiten. Der Sinn von Fraktionen liegt doch gerade darin begründet, aus den vielen Meinungen auch jedes Abgeordneten eben diese Mehrheiten zu bilden. Hier gilt es wie überall, die richtige Balance zu finden, Maß zu halten, es nicht in die eine oder die andere Richtung zu übertreiben: etwa durch zu viel Druck auf die Abgeordneten zur fraktionellen Geschlossenheit oder – umgekehrt – durch den Drang nach zu großer individueller Eigenständigkeit auf Kosten der fraktionellen Einheit.

Geschlossenheit ist wichtig, aber es müssen nicht alle einer Meinung sein – es braucht Raum für die begründete kritische Rückfrage. In der Bevölkerung wird sie schließlich auch gestellt. Die Fraktion einer Volkspartei hat zwar die Aufgabe, widerstreitende Interessen zu integrieren, das heißt aber nicht, dass deshalb nicht gestritten werden sollte. Im Gegenteil. Wir müssen Differenzen untereinander austragen, sie auch aushalten! Es ist wie in der Statik: Stabilität entsteht durch Widerlager – und auch im Interesse der Regierung und des eigenen Kanzlers ist es keineswegs nur schädlich, solche Widerlager zu haben. Es dürfen nur nicht zu viele sein, denn wenn die Widersprüche überdehnt werden, dann wird’s brüchig. Deswegen gilt das Prinzip, dass man zwar lange diskutiert, aber am Ende mit Mehrheit entscheidet und das dann auch umsetzt Dass das umso besser klappt je knapper die Mehrheit im Parlament ist, gehört dabei zu den interessanten Erfahrungswerten.

Eine Koalition verschärft das Problem der Balance zwischen freiem Abgeordnetenmandat und notwendiger Fraktions-Geschlossenheit noch einmal. Man muss sich untereinander verständigen, und es geht auch nicht ohne das wechselseitige Zugeständnis, nicht mit wechselnden Mehrheiten abzustimmen. Aber Koalitionsverträge müssen doch auch nicht zwangsläufig in bürokratische Monster ausarten mit Festlegungen, die im parlamentarischen Alltag dann nur noch abzuarbeiten sind. Das bedeutet die Ersetzung der Politik durch bloße Bürokratie. Natürlich braucht es die politische und parlamentarische Alltagsarbeit. Politische Führung verlangt aber den Blick für die wirklich großen Aufgaben – und die Fähigkeit, das gesellschaftliche Interesse darauf zu lenken. Die Menschen von der Dringlichkeit zu überzeugen, die Richtung vorzugeben und Orientierung zu vermitteln. Auch Demokratie braucht Führung, Charisma. Das Parlament ist eben immer auch Bühne und nicht bloß eine notarielle Veranstaltung. Wenn wir das Prinzip der Repräsentation wieder stärken wollen, dann müssen wir uns wieder mehr um diese Faszination der großen, strittigen Debatte bemühen.

Und das nicht nur im Plenum, auch in der Fraktion. Ich erinnere mich noch lebhaft an die heftigen Auseinandersetzungen vor und nach der Wahl 1972 um die Ostverträge. Diese ost-und deutschlandpolitische Debatte wurde nicht nur leidenschaftlich zwischen Regierung und Opposition geführt, sondern auch innerhalb unserer Fraktion. Das hat lange nachgewirkt – aber es hat uns am Ende nicht geschadet, so wenig wie im Jahrzehnt zuvor der Streit zwischen ‚Atlantikern‘ und ‚Europäern‘ um Eugen Gerstenmeier und Gerhard Schröder. Es hat nicht geschadet, weil jeder sehen konnte: Wir machen es uns nicht leicht, wir ringen um unsere Position – was im Übrigen am Ende auch ermöglichte, die Unterlegenen weiter einzubinden.

Der beständige Ausgleich der widerstreitenden Positionen innerhalb der eigenen Fraktion – zwischen dem Abgeordnetem und seiner Fraktion, zwischen Fraktion und Regierung –, ist nicht nur eine hohe Kunst. Sie ist Konstruktionsprinzip und Voraussetzung der Stabilität unserer Demokratie. Die Geschichte unserer Fraktion als die Fraktion von Maß und Mitte zeigt eindrücklich, was politische Stabilität heißt. Sie spricht nicht zuletzt aus der Verweildauer im Amt der Fraktionsvorsitzenden, die auf Adenauer gefolgt sind: Heinrich von Brentano, Heinrich Krone, Rainer Barzel, Karl Carstens, Helmut Kohl, Alfred Dregger. Nach meiner eigenen Amtszeit: Friedrich Merz, Angela Merkel und Volker Kauder, der mit dreizehn Jahren Vorsitz eindeutig Spitzenreiter ist. Und nun Ralph Brinkhaus.

Der Politikwissenschaftler Michael Eilfort hat über das Amt des Fraktionsvorsitzenden einmal festgehalten: „Wenige politische Ämter sind thematisch so breit angelegt und vielschichtig, verlangen so viele Fähigkeiten in einem strukturell besonders schwierigen Umfeld und stellen eine derartige Herausforderung dar.“ Spielräume müssen immer wieder neu errungen werden, erst Recht in Regierungskoalitionen. Aber auch Helmut Kohl betrachtete seine Jahre als Fraktionsvorsitzender im Rückblick als „die mit Abstand schwierigsten meines politischen Lebens“ – eine gewichtige Aussage, schließlich hat er im Laufe seines politischen Lebens viele dicke Bretter gebohrt.

Kohl beschrieb diese Zeit ausdrücklich als politische Lehrjahre. Er war überzeugt, ohne Kenntnis der innerfraktionellen Abläufe könne man das Amt des Bundeskanzlers nicht übernehmen, und ich vermute mal, die Bundeskanzlerin würde nicht widersprechen. Kohl fügte noch hinzu: Und auch nicht ohne „ein gutes Ohr, um zu hören, wenn Leute in Feinarbeit am Stuhl sägen.“

Taub war der spätere Bundeskanzler ebenso wenig wie naiv. Er wusste um die Bedeutung der inneren Verfasstheit der Fraktion, er wusste Posten zu besetzen und Vertrauen zu gewähren oder zu entziehen – wie es gerade nötig war, um die innere Balance des hochsensiblen Gremiums auszutarieren.

Zur Wahrheit gehört: Manchmal waren auch für die stärksten Fraktionsvorsitzenden die Spannungen nicht mehr auszugleichen; dann kam es zum Bruch, weil nur noch der Austritt einen Ausweg bot. Ich habe bereits in der vergangenen Woche beim Werkstattgespräch der CDU an Herbert Gruhl erinnert, den Pionier der Umweltbewegung. In unserer Fraktion stieß er damit in den 1970er Jahren noch an. Die Folgen der unüberbrückbaren Differenzen sind bekannt: Er trat aus der CDU aus und schloss sich neuen Gruppierungen an, erst den Grünen, dann der ÖDP. Bereits Anfang der 60er Jahre hatte der Verleger Gerd Bucerius immer wieder unüberbrückbare Konflikte heraufbeschworen, bis er schließlich sein Mandat niedergelegte – unter anderem, weil er der Fraktionsspitze in den sensiblen deutschlandpolitischen Fragen unzuverlässig schien. Aber auch weil sich seine Verantwortung als Verleger des „Stern“ und „Zeit“-Herausgeber mit dem politischen Alltag kaum mehr vertrug. Die Gratwanderung zwischen Loyalität und freiem Mandat wurde ihm unmöglich.

Als ich 1972 Teil dieser Fraktion wurde, hatten zum ersten Mal auch die 18jährigen wählen dürfen. Das Wort des Jahres hieß damals „aufmüpfig“. Rainer Barzel begrüßte uns Parlaments-Neulinge damals vielleicht auch deshalb besonders herzlich – und mit einer klaren Botschaft. Er sagte sinngemäß: „Reden können Sie alle. Was Sie hier lernen, ist zuhören.“

Barzel hatte damit einen sensiblen Punkt getroffen. Denn als Abgeordnete stehen wir alle vor der gleichen Herausforderung, uns einerseits profilieren zu müssen, andererseits uns aber auch den Ansprüchen der Fraktion zu beugen. Wie weit man diesen Spagat treibt, muss jeder für sich entscheiden – zumal nicht nur Fraktionskollegen, sondern auch der Wähler erkennt, wenn es nicht mehr um die Sache geht, sondern das Abweichen von der Fraktionslinie bloßer Eitelkeit folgt und allein um der Schlagzeile willen vollmundig im Interview platziert wird. Ein Patentrezept gibt es hier nicht. Aber das Spannungsverhältnis besteht, und dessen sollten wir uns stets bewusst sein.

Das gilt erst recht für das, was uns Artikel 38 GG abverlangt: Ein Abgeordneter ist eine Art Ombudsmann seiner Wähler, der mit seiner Arbeit und seinen Begegnungen vor Ort diese Wirklichkeit auf die Ebene der Bundespolitik vermittelt. Aber er ist eben immer auch zugleich Vertreter des ganzen Volkes. Dazu müssen wir die Vielzahl von Interessen, Meinungen, Befindlichkeiten mit den Begrenztheiten und der Endlichkeit der Realität zusammenbringen, und das zwingt zu Kompromissen. Ich habe das vor zwei Jahren in meiner Antrittsrede mit einer an Kant angelehnten Maxime beschrieben: Handle stets so, dass das Prinzip Deiner Handlung immer auch das Prinzip der Handlungen aller anderen sein könnte, dass es immer auch allgemeines Gesetz sein könnte. Also: Handle so, dass menschliches Miteinander nicht zusammenbräche, wenn alle so handelten wie Du selbst. Für den Erfolg einer Fraktion ist das jedenfalls keine schlechte Maxime.

Wir Abgeordnete kommen aus allen Regionen und – im Unterschied zu anderen elitärer verfassten Staaten – aus den unterschiedlichsten Schichten des Volkes. Trotzdem bilden wir, ob wir das wollen oder nicht, auch eine Elite. Daraus leiten sich bestimmte Privilegien ab – nicht weil wir etwas Besonderes sind, sondern weil wir eine herausgehobene Verantwortung tragen. Eine Verantwortung, die uns verpflichtet, nicht zu übertreiben und jeden Eindruck der Selbstbedienung zu vermeiden. Das gilt auch da, wo die Grenze zwischen Expertise und Interessenvertretung gar nicht mehr sauber zu definieren ist.

Auf Bürgernähe kommt es an, auf Verlässlichkeit. Und darauf, bisweilen mehr Zurückhaltung zu üben, große Dinge anzukündigen, und dafür mehr Kraft darauf zu verwenden, das Notwendige oder sogar Überfällige umzusetzen. So wie die Wahlrechtsreform. Wir kennen doch alle die Klage, dass wir keine Entscheidung mehr zustande bringen. Und jeder von uns spürt, dass es unerträglich ist, wenn vor der Wahl offen bleibt, wie groß der nächste Bundestag sein wird. Jeder weiß auch, dass es nur gemeinsam mit den politischen Konkurrenten gelingen kann. In einem Konsens. Deswegen müssen wir es jetzt endlich angehen. Um zu zeigen, dass wir es in diesem System zustande bringen. Sonst wächst am Ende die Überzeugung bei immer mehr Bürgern, dass das System nichts taugt.

Fraktionen sind im Übrigen immer auch ein Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen. Die Konfessionszugehörigkeit etwa, die in den frühen Jahren für die Balance bei der Postenvergabe und dem Interessenausgleich in der Fraktion eine immens große Rolle gespielt hatte, ist heute völlig irrelevant. Dafür spielt der Proporz nach Landesgruppen und soziologischen Gruppen eine immer stärkere Rolle. Auch das ist notwendig. Landesgruppen als Machtfaktor sind im Föderalismus weder abwegig noch anstößig, sondern im besten Fall dem Wettbewerb zuträglich. Aber es gilt eben auch hier: der Proporz darf nicht das alles Dominierende sein. Es braucht die richtige Balance, um als Fraktion mit dem bestmöglichen Personal in der Öffentlichkeit zu bestehen. Dass allerdings der Frauenanteil in den ersten elf Legislaturperioden – also bis 1990! – stets unter 10 Prozent lag, gehört nun tatsächlich nicht zu den Ruhmesblättern unserer Fraktion.

Geändert haben sich auch die Binnenstrukturen unserer Fraktion, nicht zuletzt als Folge der stetig komplexeren Aufgaben, rechtlich, ökonomisch, technologisch. Die Abgeordneten der ersten Legislaturperioden waren noch nahezu auf sich gestellt, nur eine Handvoll Mitarbeiter stand ihnen in der bundesrepublikanischen Pionierzeit zur Seite. Noch vor der Bundestagswahl 1969 waren ganze vierzig Personen in der Fraktion beschäftigt! Nach den Wahlen wurden mehr als doppelt so viele Mitarbeiter eingestellt. Ihre Zahl stieg laut Datenhandbuch des Bundstages bis 1981 auf 175 – und es ist kein Geheimnis, dass diese Entwicklung weiterging, nicht nur in unserer Fraktion,

Wer über 70 Jahre CDU/CSU-Fraktion redet, kann ein Alleinstellungsmerkmal nicht unerwähnt lassen: Seit 1949 bilden unsere Schwesterparteien eine Fraktionsgemeinschaft – eine Verbindung, die auf Grundlage der Geschäftsordnung des Bundestages regelmäßig zu Beginn einer Wahlperiode erneuert wird. Es ist ein eingespieltes Verfahren – und begründet dennoch eine nicht immer einfache Beziehung. Tatsache ist: Ohne die starke CSU wäre die Unions-Fraktion nie geworden, was sie ist, früher nicht und auch heute nicht. Die Stärke der CSU ist auch die gemeinsame Stärke der Union. Aber auch hier gilt es, Maß und Mitte zu wahren. Volksparteien erheben den Anspruch, für alle Schichten und Regionen zu arbeiten und für sie wählbar zu sein, und immer wieder zu gemeinsamen Positionen zu kommen. Deswegen gehört die CSU in Bayern und die CDU in dem kleinen Rest der Bundesrepublik Deutschland zusammen. Das war 1976 trotz Sonthofen richtig, und das gilt heute, wo die Volksparteien unter vielerlei Druck sind, umso mehr. Nur als gemeinsame Fraktion von CDU und CSU werden wir unserer Verantwortung für den Zusammenhalt unserer freiheitlichen Gesellschaft gerecht.

Natürlich ist die CSU-Landesgruppe einzigartig, aber nur als Teil der Fraktion – sonst wäre sie übrigens gar nicht einzigartig. Wir sind die Fraktion mit starker föderaler Verankerung, aber eben auch die Fraktion der deutschen Einheit.

Es waren unsere Mitglieder, die sich an jenem unvergesslichen November-Donnertag vor 30 Jahren, als die Nachricht von der Maueröffnung im Wasserwerk eintraf, als erste erhoben. Die spontan „Einigkeit und Recht und Freiheit“ anstimmten. Bei uns liegt auch heute die besondere Verantwortung dafür, dass diese Einigkeit nicht verspielt wird. Dass wir gerade auch nach den Wahlen vom 1. September der Spaltung in unsere Gesellschaft nicht nachgeben, sondern es gelingt, die Erfahrungen der Menschen in West und Ost zusammenzubringen, um voneinander zu lernen, um aneinander zu wachsen. Für den Zusammenhalt in unserem Land.

Wir erleben doch derzeit, dass die parlamentarische Demokratie massiv unter Druck steht. Sie ist einem regelrechten Stresstest ausgesetzt. Nicht nur bei uns, auch in anderen westlichen Demokratien. Der Wettbewerb um Aufmerksamkeit hat sich in der digitalisierten Welt immens verschärft. Die Gesellschaft ist immer stärker fragmentiert. In der „Krise des Allgemeinen“ liegt aber auch eine Chance für das Prinzip der Repräsentation. Wenn das Parlament ein Ort der Bündelung ist, der Konzentration auf die wichtigen Fragen unserer gesellschaftlichen Zukunft. Dazu braucht es verantwortlich handelnde Akteure, die neben der Vertretung legitimer Interessen ihrer Wähler auch das auszuhandelnde Gemeinwohl im Blick behalten. Und es braucht das Verständnis in der Öffentlichkeit für die Komplexität der Aufgabe, bei der Vielzahl von Interessen, Meinungen und Befindlichkeiten am Ende zu Entscheidungen durch Mehrheit zu kommen, Entscheidungen, die der Bevölkerung das Vertrauen geben, dass ihre Anliegen berücksichtigt werden. Das ist das Prinzip der Repräsentation. Dafür tragen wir alle und die Fraktionen in besonderem Maße Verantwortung.

Womöglich kann uns dabei sogar eine Mammutaufgabe wie die der Nachhaltigkeit helfen. Sie kann uns national und global ein Stück weit voranbringen, wenn wir sie als eine Chance begreifen. Wenn es uns gelingt, die Menschen zu überzeugen, dass darin das Potential liegt, uns auch aus einer gewissen Starre und Saturiertheit zu lösen, in die wir durch Jahrzehnte stetig wachsenden Wohlstands geraten sind. Eine große Aufgabe macht schließlich erfinderisch, sie kann Kräfte mobilisieren und das Vertrauen in uns stärken, Großes leisten zu können, statt uns an das Bestehende zu klammern, weil wir fürchten, Veränderungen nicht gewachsen zu sein. Viele Bürger sind unzufrieden, wir spüren ihren Unmut, auch Überdruss. Den meisten Menschen in unserem Land geht es – den Wirtschaftsdaten nach zu urteilen – gut. Dennoch vermissen sie etwas: Orientierung, ein Ziel.

Wir, unsere Fraktion trägt hier große Führungsverantwortung. Wir werden ihr aber nur dann gerecht, wenn wir uns nicht nur um uns selbst und unsere relativ kleinen Probleme kreisen. Wir müssen uns vorrangig um die großen Aufgaben heute wie Frieden, Sicherheit, Nachhaltigkeit, Migration, Digitalisierung, ökonomische Stabilität kümmern. Über den richtigen Weg dürfen wir streiten, leidenschaftlich – unter uns und mehr noch mit dem politischen Gegner. Aber dann müssen wir auch zu Entscheidungen kommen, und als selbstbewusste Fraktion sollten wir diese ermöglichen. Mit Zuversicht – und mit einem Anspruch, den Konrad Adenauer einst prägnant so formuliert hat: „Wenn die anderen glauben, man ist am Ende, muss man erst richtig anfangen!“

Das sollten wir auch in der Zukunft beherzigen.

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