10.10.2019 | Parlament

Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zur Adenauer Lecture 2019 an der Universität zu Köln

[Es gilt das gesprochene Wort.]

Anrede

„Haben wir noch eine Zukunft? Dunkel liegt sie vor unseren Blicken. Dunkel ist die Zukunft dieser Stadt, dunkel die Zukunft dieses Volkes … Im Innern des Landes wandert der Geist der Zwietracht und des Aufruhrs.“

Konrad Adenauer fand nicht gerade fröhliche Worte auf dem Festakt zur Eröffnung – oder genauer: zur Wiedereröffnung – der Universität Köln vor einhundert Jahren.

Im Sommer 1919 sah der Kölner Oberbürgermeister wenig Anlass zu Überschwang oder Optimismus. Noch vor dem Abschluss des Friedensvertrags von Versailles prognostizierte er vor der versammelten Professoren- und Studentenschaft: „Hier am Rhein … werden während der nächsten Jahrzehnte die deutsche Kultur und die Kulturen der westlichen Demokratien zusammenstoßen. Wenn ihre Versöhnung nicht gelingt, wenn die europäischen Völker nicht lernen, über der berechtigten Wahrung ihrer Eigenart das aller europäischen Kultur Gemeinsame zu erkennen und zu pflegen, … dann ist Europas Vormacht in der Welt … verloren.“   

Konrad Adenauer nahm vorweg, was Historiker in der Rückschau den „überforderten Frieden“ nennen:

Der Versailler Vertrag brachte nach dem Ersten Weltkrieg eine trügerische Ruhe, Versöhnung stiftete er nicht. Die Nationen waren weit entfernt davon, über Grenzen hinweg das „Gemeinsame zu erkennen und zu pflegen“. In Deutschland blieb das Gefühl der Demütigung haften, verschärft durch den Kriegsschuldparagraphen und die Reparationsforderungen an das Deutsche Reich. Weiten Teilen der Bevölkerung fehlte das Vertrauen in das neue politische System. Die Demokratie war ihren Feinden ausgeliefert. Mit gravierenden Folgen für die Stabilität der Weimarer Republik – sie wurde von den politischen Extremen von links und rechts bekämpft und schließlich zerstört.

Adenauer erlebte die Auseinandersetzungen um die labile Demokratie aus einer doppelten Perspektive: als Präsident des Preußischen Staatsrates und Oberbürgermeister seiner Geburtsstadt. Er widersetzte sich der Auflösung des Preußischen Landtages und provozierte in Köln den NS-Gauleiter, der ihn seines Amtes enthob – zu Beginn einer wirklich dunklen Zukunft Europas, die Adenauer wiederholt Gestapo-Haft eintrug.

Nach zwölf Jahren Nationalsozialismus wurde er wieder Bürgermeister von Köln – die Geschichte wiederholt sich nicht, doch auch dieser Neubeginn vollzog sich unter schwierigsten Bedingungen. Adenauer und seine Mitstreiter gründeten eine neue politische Kraft, und gemeinsam mit Vertretern der anderen Parteien nahmen sie den Versuch auf, eine stabile Verfassung ins Werk zu setzen und die zersplitterte Gesellschaft zusammenzuführen. Eine Gesellschaft aus Nazis und Mitläufern, Verfolgten und Verfolgern, Soldaten, Ausgebombten und Flüchtlingen aus dem Osten, Katholiken und Protestanten, Versehrten und Davongekommenen, Bürgerlichen und Arbeitern, Deutschnationalen, Zentrumsanhängern und Liberalen, Menschen, die von Politik nichts mehr wissen und Menschen, die sie vor Radikalen schützen wollten. Wie tief die Gräben zwischen all denen waren, die für die Demokratie gewonnen werden sollten, machen wir uns oft nicht bewusst. Unsere Diversität heute ist ein andere, doch auch damals stand man vor der gewaltigen Aufgabe, die Gesellschaft zu einen und eine neue demokratische Kultur zu verankern.

Es ist gewagt, Adenauer für die Analyse oder gar die Lösung der Probleme von heute heranzuziehen. Er ist zweifellos ein Mann des vergangenen, ausweislich seines Geburtsjahres ein Mann sogar des 19. Jahrhunderts. Und doch hilft die Rückschau zu erkennen, was fortlebt oder zeitlos ist.        

„Nehmen sie die Menschen, wie sie sind, andere gibt es nicht“, lautete einer seiner Grundsätze. Dafür wurde der spätere erste Bundeskanzler heftig gescholten. Allzu großzügig hatte er Posten mit NS-Belasteten besetzt – allen voran Hans Globke. Dass es Adenauer nicht mehr schadete, erklärt sich aus seiner persönlichen Glaubwürdigkeit. Er mag ein politisches Schlitzohr gewesen sein, aber er war eben Autorität. Er hielt die Balance zwischen seiner volkstümlichen Direktheit und seinem bürgerlichen Anspruch. Und er sprach in verständlicher Sprache über komplexe Fragen, um die es auch in der jungen Bundesrepublik schon ging.     

Der einer Nähe zur CDU unverdächtige Politikwissenschaftler Franz Walter beschreibt Adenauer in seinem Band „Charismatiker und Effizienzen“ als „autoritären Patron“ und würdigt Adenauers Verdienste: „Über den autoritären Patriachalismus des ersten Bundeskanzlers fand auch das konservativ-protestantische Bürgertum einen Zugang zur parlamentarischen Demokratie, die in diesen Kreisen noch während der Weimarer Republik als schwatzhafte und kraftlose Veranstaltung verachtet und bekämpft wurde.“

Damit legte Adenauer in der Frühphase der Bundesrepublik den Grundstein zu deren politischer Kultur – eine manchmal unterschätzte Versöhnungsleistung, die neben seinem Engagement für die deutsch-französische Aussöhnung, für die Westbindung der Bundesrepublik und das Zusammenwachsen West-Europas steht. Adenauer war im Rheinland verwurzelt und verankerte die Bundesrepublik auch dort – in Abgrenzung zur DDR. So sehr er für die europäische Kultur stritt – im Kalten Krieg war es die westeuropäische und transatlantisch geprägte. Erst mit den tiefgreifenden Veränderungen vor 30 Jahren in Osteuropa gelang die Überwindung der Teilung Europas – jetzt erst konnte eingelöst werden, was Robert Schuman einst „die Zurückstellung der nationalistischen Engherzigkeit“ genannt hatte. Ein gemeinsames Europa, mit den Ost- und Mitteleuropäern und den baltischen Staaten – mit ihrem kulturellen Reichtum und ihren unterschiedlichen Prägungen und Erfahrungen.  

Die Menschen waren politisch auch zu Adenauers Zeiten nicht einer Meinung. Adenauer selbst polarisierte mit seinem rigorosen Antikommunismus. Aber die Gesellschaft versammelte sich hinter der freiheitlichen Demokratie – zumal es dank der Sozialen Marktwirtschaft ökonomisch rasant aufwärts ging. Sollbruchstellen in der Gesellschaft gab es dennoch – immer wieder brauchte es Kitt, um Spaltungen zusammenzufügen.    

„Eine der erstaunlichsten und erschreckendsten Erfahrungen, die man heute … macht, ist die enorme Erbitterung und Feindseligkeit, die Teile der Bevölkerung im Verhältnis zu anderen Teilen fühlen.“ Diese Beobachtung machte der Soziologe Norbert Elias in den späten 1970er Jahren in der Bundesrepublik. Er beschreibt ein Phänomen, das Adenauer schon kannte und das auch uns heute wieder Sorgen bereitet. Die Radikalität und offene Konfrontation in der öffentlichen Auseinandersetzung. Eine Erfahrung, die heute – aus anderen Gründen als in der Zeit des Terrorismus der RAF – Besorgnis und Unsicherheit auslöst. Wir spüren: Unsere Demokratie ist unter Druck.

In der politischen Kultur unseres Landes gibt es eine Zeitenwende, deren Auswirkung noch niemand überblickt – auch das war bei früheren Zäsuren natürlich nicht anders. Die relativ bequeme Dominanz und Prägekraft zweier großer Volksparteien der alten Bundesrepublik ist geschwunden, an die neuen, volatilen Mehrheitsverhältnisse sind wir noch nicht gewöhnt.

Zudem beobachten wir Spaltungstendenzen, die an anderen Linien als bisher verlaufen und an die Grundfesten unserer politischen Werteordnung rühren – in Deutschland und in Europa. Die Grundrechte – Meinungs- und Pressefreiheit – werden von den Gegnern der Demokratie in Anspruch genommen, um eben diese Demokratie zu de-legitimieren.

Nach dem Ende des Kalten Krieges, mit dem Fall der Mauer und dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs sehen wir innerhalb Europas – wie in unserem eigenen Land – eine neue Kluft zwischen Ost und West. Viel wechselseitiges Misstrauen und Unverständnis. Grundvoraussetzung für die Gestaltung einer europäischen Gemeinschaft ist, die Sicht der Anderen zu verstehen – das ist die moderne Entsprechung zu Adenauers Appell, das Gemeinsame in der politischen Kultur in Europa zu erkennen und zu pflegen.

Die Staaten, die nach zweifacher, gewaltsamer Fremdherrschaft erst vor 30 Jahren ihre nationale Unabhängigkeit wiedererlangten, haben andere politische Erwartungen als die europäischen Gründungsstaaten im Westen. Die Auswirkungen auf das Vertrauen in das demokratische System sind erheblich. Denn aus der unendlichen Vielfalt von Meinungen, Anschauungen und Interessen müssen wir am Ende zu gemeinschaftlichem Handeln und zu Entscheidungen kommen – das ist das Ziel alles Politischen, ob europäisch oder national.

Im komplizierten Prozess demokratischer Mehrheitsbildung und Entscheidungsfindung brauchen wir Institutionen und Verfahren, die ein hinreichendes Maß an Fairness und Zukunftsverantwortung gewährleisten. Das gelingt noch immer am besten im Modell der Repräsentation. Doch gerade dieses Prinzip steht heute unter Druck. Es scheint unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen und dem tiefgreifenden Strukturwandel der Öffentlichkeit in Zeiten der Digitalisierung nicht mehr hinreichend in der Lage, die Bürger zu erreichen.

Einerseits können wir auf 70 Jahre Bundesrepublik schauen und 30 Jahre Deutsche Einheit feiern – niemand will die DDR zurück. Andererseits beherrscht viele Menschen im Osten nach dem gewaltigen Umbruch, den sie erlebt haben, ein Gefühl der Heimatlosigkeit, ein Bedürfnis nach Anerkennung – und eine Abwehrhaltung gegenüber Veränderungen, denen wir alle in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung ausgesetzt sind. Im Westen dagegen verbreiten drohende Veränderungen, insbesondere die Folgen des Klimawandels, Zukunftsangst, oft bis zur Hysterie gesteigert. Gemeinsam ist Ost und West, dass sich viele Menschen fragen, ob unser demokratisches System eigentlich noch in der Lage ist, den Herausforderungen gerecht zu werden. Sie erleben unsere Ordnung, der sie den Schutz der Menschenrechte, die Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit verdanken, als schwerfällig und ineffektiv: Entscheidungen fallen viel zu langsam, und sind sie endlich getroffen, können sie kaum umgesetzt werden, weil sie sich in einem Dschungel von Regelungen verfangen. Als Folge schwindet das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen weiter. Bei den Menschen wächst ein Gefühl der Orientierungs- und Haltlosigkeit, wenn sich der Eindruck verfestigt, dass die Politik nicht in der Lage sei, den Wandel so zu gestalten, dass ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden: Sicherheit, der Erhalt sozialer Bindungen, Zusammengehörigkeit.

Die politische Auseinandersetzung im Netz trägt zu Verunsicherung und Desintegration bei: Jeder – ohne Ansehen seiner Position oder seines Sachverstands, seiner Absicht oder seiner Integrität – kann sich quasi mit der gleichen Autorität ausgestattet beteiligen und online Anhänger mobilisieren. Die technische Möglichkeit der Teilhabe aller schien gut für die Demokratie, eine große Verheißung. Doch sie erweist sich eher als gigantisches Geschäftsmodell und trägt nicht dazu bei, den Diskurs zu versachlichen – immerhin verschärft die online-Kommunikation das Bewusstsein für die anstehenden großen politischen Fragen.     

Klimawandel und Migration, Digitalisierung und demographischer Wandel – diese Stichworte begegnen uns überall. Niemand kann sich diesen Themen entziehen, und zugleich wissen wir, dass wir noch keine Lösungen für die dringlich gestellten Fragen gefunden haben. Dass wir nicht alles auf einmal in den Griff bekommen werden. Und dass es eine Illusion ist, zu glauben, früher sei alles besser und jedes Problem beherrschbar gewesen. Wir müssen neue Wege beschreiten, wenn wir Ordnung in die Unübersichtlichkeiten von heute bringen und eine neue Zuversicht entwickeln wollen. Für das Vertrauen der Bürger in das politische System und in die Soziale Marktwirtschaft ist zentral, dass es uns auch unter den Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung gelingt, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu wahren.

Wir müssen die bürokratische Überregulierung so korrigieren, dass Entscheidungen und ihre Umsetzung in angemessener Zeit möglich bleiben. Auch da geht es um das rechte Maß. Es gibt keine Freiheit ohne Grenzen und Regeln, aber auch diese Balance findet sich nicht allein durch die Politik, sondern auch durch Werthaltung der Bürger, auch Selbstbeschränkung. Notwendige Interessenvertretung darf nicht im Partikularismus enden, und Demokratie darf sich nicht auf Anliegerbetroffenheit reduzieren. Wenn sich viele auf die Zukunft einlassen, können wir sie auch gestalten.

Wir können unsere innovative Kraft wieder steigern – wenn wir uns offen den immensen Herausforderungen der Gegenwart stellen. Sie können uns aus der Starre und Saturiertheit führen, in die wir nach Jahrzehnten stetig wachsenden Wohlstands geraten sind.

„Es geht darum, Raum für Freiheit und Mut freizuhalten. Der Mut der freien Menschen muss einen Platz haben.“ Das hat einst Heinrich Böll gefordert, auch er war seiner Geburtsstadt Köln eng verbunden. Der Literaturnobelpreisträger kämpfte stets für die Meinungsfreiheit, aber er war zugleich ein scharfer Kritiker all dessen, was in seinem geschlossenen Weltbild keinen Platz hatte. Doch die Zivilität einer Gesellschaft wird nicht durch die Vielfalt von Argumenten bedroht, sondern dann, wenn das Recht des anderen auf seine eigene Meinung nicht anerkannt wird. Wenn Thesen nicht widerlegt, sondern abgetan werden. Joachim Gauck hat Recht, wenn er fordert, weniger auszugrenzen und mehr zu streiten. Nicht jeder mit einer anderen Meinung sei gleich ein Antidemokrat, sagt unser früherer Bundespräsident – und richtet seinen Blick auf linksliberale Kreise, die pauschal alles ablehnen, was rechts von der politischen Mitte ist. Aber nicht alles, was der Manstream nicht akzeptiert, so Gauck weiter, sei deshalb gleich verfassungsfeindlich, sondern vielleicht nur altmodisch, konservativ, vielleicht sogar reaktionär – aber deshalb doch noch lange keine Straftat oder moralisch so verwerflich, dass es aus dem Diskurs verbannt werden müsste.

Tendenzen, die Freiheit des Arguments einschränken zu wollen, eine moralisierende und rechthaberische Abkehr von Toleranz, machen auch vor Universitäten nicht Halt. Wiederholt war und ist an deutschen Hochschulen zu erleben, dass im Schutze eigener Anonymität öffentliche Attacken gegen Lehrende gefahren und diese persönlich verächtlich gemacht werden – um zu bestimmen, worüber diskutiert und was gesagt werden darf. Dass zu Boykotten aufgerufen wird, als Eingeständnis fehlender eigener Argumente, um offen miteinander zu streiten. Dass sogar Entlassungen oder der Ausschluss Einzelner gefordert wird, um sich unliebsame Meinungen vom Hals zu schaffen – als wären sie damit widerlegt. Wenn Gleichgesinnte sich ihre eigene Welt schaffen und sich in ihrer Überheblichkeit einrichten, hat das Abschottung und Ausgrenzung zur Folge.

Das einstige Aufbegehren gegen Autoritäten, um an den Universitäten einem breiten Meinungsspektrum Gehör zu verschaffen, scheint ins Gegenteil gekippt zu sein. Die Redefreiheit wird unter Verweis auf die political correctness eingeschränkt, wenn ein selbsternannter demokratischer Mainstream darüber befindet, was diskutiert werden darf und was nicht.

In Wahrheit kann bei uns alles diskutiert werden. Wenn sich aber der Eindruck verfestigt, bestimmte Positionen dürften nicht vertreten werden, dann geschieht, was der ZEIT-Autor Maximilian Probst jüngst beschrieben hat. Dann bemächtigen sich Populisten dieser Positionen und treiben die Spaltung der Gesellschaft in ihrem Sinn voran. Sie behaupten, den gesunden Menschenverstand des Volkes gegen die Wissenschaft zu verteidigen. Gesund, so Probst, sei der aber doch nur dann, wenn er pragmatisch genug sei, zu wissen, dass es ohne die Wissenschaft nicht geht. Wenn Volk und Wissenschaft miteinander korrespondieren und sich gegenseitig korrigieren würden, in einer „Gesprächsgemeinschaft aus Laien und Wissenschaftlern“.

Meinungsfreiheit sichert nur, wer sie konsequent anwendet. Die Fähigkeit, andere, womöglich sogar abwegige Meinungen auszuhalten, mit ihnen fair umzugehen und in einen sachorientierten, produktiven Streit zu treten, hat viel mit Bildung zu tun – auch daran müssen Universitäten arbeiten. Sich nicht allein über die eigene Peergroup zu definieren, sondern sich eine eigene Meinungen zu bilden und für sie zu streiten, ohne dem Gegenüber das Recht auf eine andere Argumentation, auf Widerspruch abzusprechen – das ist unabdingbar in der freiheitlichen Gesellschaft wie in der Wissenschaft. Auch in der akademischen Auseinandersetzung braucht es eine faire Debattenkultur, selbst wenn hier – anders als in der Politik – nicht die Mehrheit, sondern Plausibilitätserwägungen zu Ergebnissen führen: Der produktive Streit, die Auseinandersetzung sind gleichermaßen konstitutiv für die Wissenschaft wie für die demokratische Gesellschaft. Es braucht deshalb eine klare Haltung. Es reicht nicht, dass wir uns seit 70 Jahren auf die Meinungs- und die akademische Freiheit berufen können – wir müssen sie auch verteidigen und leben.

„Die Erziehung zur Demokratie wird eine der praktischen Herausforderungen der Demokratie selbst“: Das hat der Staatsrechtler Hans Kelsen nicht vor einhundert, aber vor 90 Jahren in einem Text über das Wesen und den Wert der Demokratie geschrieben. Kelsen war auf Anregung von Adenauer 1930 nach Köln gekommen – 1933 wurde auch er „beurlaubt“ und schließlich in den Ruhestand versetzt. Über Umwege konnte er in die USA emigrieren. Seine Warnung, dass die „Erziehung zur Demokratie“ eine fortwährende Aufgabe bleiben würde, ist bis heute gültig – sie nimmt auch die Universitäten in die Pflicht. Sie können – zumal in einer Zeit, in der die universitäre Bildung nicht mehr einer kleinen, exklusiven gesellschaftlichen Gruppe vorbehalten ist – Orte sein, an denen Demokratie gelebt wird. An denen die freie geistige Entfaltung möglich ist und der offene Diskurs gepflegt wird. Meinungsfreiheit sichert nur, wer sie konsequent anwendet. Wer andere, womöglich sogar abwegige Meinungen aushält, mit ihnen fair umgeht und in einen sachorientierten, produktiven Streit tritt.

Auch da stoßen wir derzeit an Grenzen. Wie soll man umgehen mit der Spannung zwischen der Unbedingtheit, der Unerbittlichkeit der apokalyptisch begründeten Forderungen an die Politik und der Schwerfälligkeit des demokratischen politischen Prozesses, fragte jüngst der emeritierte Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg. Seine Antwort: „Der demokratische Verfassungsstaat muss zeigen, dass er sich aus dem politischen Alltagstrott zu lösen und im Gewirr der auf ihn eindringenden, einander widersprechenden Einwirkungen die von der Lage gebotenen Prioritäten zu setzen vermag, ohne in den Sog apokalyptischer Panik zu geraten.“

Der Blick auf die von Adenauer beschriebenen düsteren Momente unserer Geschichte zeigt: Die Demokratie ist klüger, als wir meinen. Und 70 Jahre Grundgesetz bestätigen das. Es wurde unter düsteren Bedingungen verfasst, die wir uns kaum mehr vorstellen können. Genauso wenig konnten sich die Väter und Mütter unsere Welt heute ausmalen. Aber sie hatten die Hoffnung, das Grundgesetz könne langfristig vor weiteren politischen Katastrophen schützen – vor Krieg, Gewalt, und Diktatur, die damals gerade überwundenen waren. Die Verfassung, die zunächst ein Provisorium sein musste, hat bewiesen, wozu sie taugt. Sie ist stabil, weil sie flexibel ist. Sie lässt sich an veränderte Bedingungen anpassen, wenngleich hohe Hürden zu überspringen sind, um sie zu verändern. Mit dem Grundgesetz war die Soziale Marktwirtschaft, die Wiederbewaffnung und die Einbettung unseres damals noch geteilten Landes in zwei wichtige Bündnissysteme, die NATO und die Europäische Union oder deren Vorläufer möglich, die Bekämpfung des Terrorismus – und die Deutsche Einheit nach der Friedlichen Revolution. Alles unvorhersehbare Entwicklungen, über die politisch gestritten wurde, die neue Dynamik und Veränderung brachten, die sich aber immer als beherrschbar erwiesen.

Wir befinden uns – anders als es in der öffentlichen Debatte oft scheint – nicht auf einer abschüssigen Bahn. Zu diesem Urteil kommt der Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Andreas Voßkuhle bescheinigt unserem politischen System solide Erfahrung im Umgang mit Zäsuren und Veränderung, „weil wir eine gute politische Kultur haben“, so drückt Voßkuhle es aus.

Ohne Adenauer wären wir nicht dorthin gekommen, wo wir heute sind. Die Aufgabe politischer Führung ist es auch heute, dem Prozess der Veränderung Form, Richtung, Nachhaltigkeit zu geben – die Gesellschaft zu einen und Mut zur Veränderung zu wecken. An großen Herausforderungen mangelt es nicht, im Gegenteil. Wir stehen vor Mammutaufgaben, nicht zuletzt der, ökologische mit ökonomischer Nachhaltigkeit dauerhaft zu vereinen und dabei den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu wahren. Aber über Aufgaben gewinnen wir die Zukunft – wenn wir in ihnen die Chancen erkennen. Sogar das könnten wir von Konrad Adenauer übernehmen, der der festen Überzeugung war: „Man darf niemals ‚zu spät‘ sagen. Auch in der Politik ist es niemals zu spät. Es ist immer Zeit für einen neuen Anfang.“

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