Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zur Eröffnung der Willy-Brandt-Ausstellung im Paul-Löbe Haus
[Es gilt das gesprochene Wort]
Anrede
„Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts“: So lautet eine der bekanntesten Aussagen von Willy Brandt. Neben dem Frieden sei Freiheit wichtiger als alles andere, „ohne Wenn und Aber.“ Und zwar „die Freiheit für viele, nicht nur für die wenigen. Freiheit des Gewissens und der Meinung. Auch Freiheit von Not und von Furcht.“
Frieden und Freiheit – diese zwei Werte machen die Grundüberzeugung Willy Brandts aus. Dafür kämpfte er leidenschaftlich – als Gegner der Nationalsozialisten, vor denen er hatte fliehen müssen, als Sozialdemokrat, nach seiner Rückkehr nach Deutschland. Als internationaler Brückenbauer und Friedensstifter. Als Abgeordneter, als Regierender Bürgermeister von Berlin und als Bundeskanzler. Sein politisches Credo brachte er knapp auf den Punkt: „Links ja, aber frei!“
Gestern vor 50 Jahren wurde Willy Brandt zum vierten Bundeskanzler dieser Republik gewählt. Brandt wollte mehr Demokratie wagen – seine Worte haben einen festen Platz im politischen Gedächtnis unseres Landes. Sie setzten der Nachkriegszeit ein Ende. Der Jahrestag ist ein guter Anlass, seinen ungewöhnlichen Lebensweg mit einer Wanderausstellung zu würdigen. Dass sie in Berlin und hier im Bundestag ihre erste Station macht, ist folgerichtig.
Willy Brandt war viele Jahrzehnte lang Parlamentarier – im Bundestag, im Berliner Abgeordnetenhaus und im Europäischen Parlament. Seine erste Rede vor dem Bundestag hielt er in der 100. Sitzung des Parlaments am 10. November 1950. Es ging um den Bundeshaushalt und die Erhöhung des „Notopfers“ für Berlin. Brandt sprach als „Berliner Abgeordneter“, der in Bonn – außer bei Abstimmungen zur Geschäftsordnung – nicht stimmberechtigt war. Schon damals setzte er sich vehement für die geteilte Stadt ein. Später, als Regierender Bürgermeister der „Frontstadt“ im Kalten Krieg, war Brandt Hoffnungsträger für viele Menschen in beiden Teilen Berlins und in der „Sowjetisch besetzten Zone“.
In den Tagen nach dem Mauerbau sah und hörte ich – als 18-Jähriger – seine Rede vor dem Schöneberger Rathaus. Stellvertretend für die Berliner appellierte er wörtlich „an alle Funktionäre des Zonenregimes, an alle Offiziere und Mannschaften: …Lasst euch nicht zu Lumpen machen!“ Brandt rief in Anlehnung an seinen legendären Amtsvorgänger Reuter die Völker der Welt und ihre Repräsentanten dazu auf, „hierher nach Berlin zu sehen, wo (Zitat) “die blutende Wunde eines Volkes verkrustet werden soll durch Stacheldraht und genagelte Stiefel.„
Die Politik Brandts hat gerade meine Generation stark beschäftigt. Er fand Anhänger über das eigene Lager hinaus. Trotz aller Unterschiede in grundlegenden politischen Auffassungen: Als er 1971 den Friedensnobelpreis erhielt, berührte das auch seine Gegner. So wie die unvergessene Geste seines Kniefalls in Warschau im Jahr zuvor. Doch die neue Ost- und Deutschlandpolitik, die Brandts kurze Kanzlerschaften prägte, löste heftige Auseinandersetzungen aus. Die Union war hin- und hergerissen, die Bundesrepublik gespalten in der Frage, ob die Anerkennung der Ostgrenzen und der Grundlagenvertrag mit der DDR dem Grundsatz der Einheit der Nation entgegenstanden?
1972 – bei seiner Wiederwahl – hatte Willy Brandt nicht nur für sich diese Fragen längst beantwortet. Die Wahl war ein persönlicher Triumph für ihn. Rückblickend wissen wir: damit war der Höhepunkt seiner Kanzlerschaft erreicht. Entspannungspolitik und KSZE-Prozess waren in Gang gesetzt – seine Mission war erfüllt, er selbst erschöpft.
Heute ist weitgehend unbestritten, dass “der Wandel durch Annäherung„ zum Ende der DDR beigetragen hat. Er brachte humanitäre Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland und machte Kontakte über die Mauer hinweg möglich. Willy Brandts Nachfolger Schmidt und Kohl bauten auf der von ihm eingeläuteten Entspannung auf. Pragmatisch wurde die “Politik der kleinen Schritte„ betrieben. Der DDR-Führung trotzte man über die hermetisch abgeriegelten Grenzen hinweg Reiseerleichterungen ab. Den Mauerfall konnte im Kalten Krieg niemand vorhersehen – das bescheidene Ziel war, ein Gefühl für die Einheit der Nation wachzuhalten.
Zur Wahrheit gehört, dass auch Willy Brandt in seiner Haltung zur Deutschen Frage schwankte. In den 80er Jahren bezeichnete er – auch er! – die Wiedervereinigung mehrfach als “Lebenslüge„ der Bundesrepublik, noch im Jahr 1988. Doch anders als viele andere – gerade auch in seiner eigenen Partei – erkannte Willy Brandt angesichts der Maueröffnung und der Friedlichen Revolution die Zeichen der Zeit. Am Tag, nachdem Helmut Kohl seinen 10-Punkte-Plan vorgelegt hatte, mahnte er in der SPD-Fraktion, die Verfechter der Zweistaatlichkeit würden “fortgeschwemmt„ von der “Einheit von unten„. Bei seinem Auftritt in Rostock am 6. Dezember wiederholte er nicht nur seinen inzwischen legendären Ausspruch über das deutsch-deutsche Zusammenwachsen, sondern bekundete zugleich, er könne sich eine Wiedervereinigung schwer vorstellen. Wir müssten etwas Neues schaffen – “im Respekt voreinander„. Brandt konnte nicht ahnen, dass diese Mahnung noch dreißig Jahre später ihre Berechtigung hat.
Am 20. Dezember 1990 eröffnete Willy Brandt die Konstituierende Sitzung des ersten von Ost- und Westdeutschen gewählten Bundestages als Alterspräsident. Dieses Amt hatte er dreimal inne – ein einsamer Rekord.
Die Ausstellung zeigt – Willy Brandts politisches Vermächtnis steht in keinem Verhältnis zu seiner kurzen Amtszeit als Kanzler. Er faszinierte gerade auch junge Menschen und politisierte sie. Er hat sich früh die Themen der Grünen zu eigen gemacht – hätte sich die Parteienlandschaft anders entwickelt, wenn er nicht zurückgetreten wäre? Eine spekulative Überlegung. Angesichts der “Fridays for Future„-Bewegung aber ist sein weitsichtiges Eintreten für die Interessen und Belange der Menschen in anderen Teilen der Welt zu würdigen. Als Vorsitzender der internationalen Nord-Süd-Kommission versuchte er bereits in den Siebziger Jahren, den Blick der Öffentlichkeit auf globale Entwicklungen – oder eben Fehlentwicklungen – zu lenken. Ihm war schon damals bewusst, wie eng die großen Fragen der Welt miteinander verflochten sind, wie sehr die gesamte Menschheit von der Lösung elementarer Probleme abhängt. Es sind die Fragen unserer Gegenwart.
Diese Ausstellung erzählt auch davon. Ich danke allen, die dazu beigetragen haben, und wünsche ihr viele interessierte Besucher.
Dass Sie, lieber Herr Thierse, jetzt das Wort ergreifen, gibt mir Gelegenheit, auch Ihnen viel Gutes zu wünschen. Ich gratuliere Ihnen herzlich zum 76. Geburtstag, den Sie heute feiern. Als Willy Brandt so alt war wie Sie jetzt, begann die Entwicklung, die zu Mauerfall und Friedlicher Revolution führte. Im Prozess der Einheit verbanden sich auch die West-SPD mit Ihrer Partei, der wiedergegründeten Sozialdemokratie im Osten – ein Moment, der Willy Brandt Tränen in die Augen trieb und über den Sie einmal sagten, er sei der Höhepunkt Ihres politischen Lebens gewesen.
Sie haben jetzt das Wort.