Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble zum Politischen Buß- und Bettag im Berliner Dom
[Es gilt das gesprochene Wort]
Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben.
Der Vers aus dem Buch der Sprüche Salomos steht über dem Bußtag. Mit einer scheinbar einfachen Botschaft. Die sich leicht politisch deuten oder auch missdeuten lässt: Ihr Politiker, macht, dass Gerechtigkeit herrscht und dann wird alles gut. Doch so kann es nicht gehen, denn gemeint ist das Volk. Wir alle sollen uns auf den Weg zur Gerechtigkeit machen.
Salomo kann sich nicht wehren, er erduldet Deutungen aller Art und erträgt, dass die Gerechtigkeit Gottes aus dem Alten Testament heute, in der säkularen Welt auf einen Gerechtigkeitsbegriff reduziert wird, der sich an modernen Vorstellungen von Verteilungsgerechtigkeit orientiert.
Es ist nicht neu, dass sich in der Debatte um Gerechtigkeit eine Welt des Irrtums entfaltet, wie Goethe sagt. Im Faust, der Tragödie zweiter Teil. Dort schreibt der Kanzler dem Kaiser die Fähigkeit zu, für Gerechtigkeit zu sorgen, und bemerkt, dass dies Versprechen im Volk nicht verfängt:
Gerechtigkeit! — Was alle Menschen lieben,
Was alle fordern, wünschen, schwer entbehren,
Es liegt an ihm, (dem Kaiser,) dem Volk’ es zu gewähren.
Doch ach! Was hilft dem Menschengeist Verstand,
Dem Herzen Güte, Willigkeit der Hand,
Wenn’s fieberhaft durchaus im Staate wütet,
Und Übel sich in Übeln überbrütet.
Diese nicht sehr optimistische Sicht auf die Stimmung im Volk ist deutlich schöner formuliert als Meinungsumfragen heute. Doch sind beide ähnlich ernüchternd. Deutlich mehr als die Hälfte der Deutschen meinen, es ginge bei uns derzeit ungerecht oder sogar sehr ungerecht zu.
Aber was heißt Gerechtigkeit für all die Befragten im Einzelnen?
Auch Bärbel Bohley hatte ihre Erwartung an die historische Zeitenwende 1989/90 und ihre Enttäuschung über die gesamtdeutsche Realität mit diesem Begriff in Verbindung gebracht: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“ Für die viel zu früh verstorbene Protagonistin der Friedlichen Revolution ist eine gerechte Welt das Gegenstück zu einem System, in dem der Mensch nichts als ein fest verschraubtes Rädchen ist. „Ich wollte (…) da ankommen, wo ich Mensch sein kann“, hat sie einmal gesagt. Und damit einen Anspruch formuliert, dem wir uns immer wieder annähern müssen. Das Grundgesetz bietet den Rahmen dazu.
Der Begriff Gerechtigkeit ist positiv besetzt. Wir wünschen alle: Es soll gerecht zugehen. Wenn so viele Menschen Gerechtigkeit fordern, wünschen, schwer entbehren, dann muss gefragt werden, was zu tun ist – um erhöht zu werden, also um Gott näherzurücken. Und um, wie Goethe vielleicht gesagt hätte, das Fieber, das im Staate wütet, zu senken.
Unser Grundgesetz ist in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden. Wir haben in vielfältiger Weise an dieses Jubiläum erinnert, wir haben das Grundgesetz gefeiert und gewürdigt. Gerade mit Blick auf den eben in der Sprechmotette zitierten Grundgesetzartikel 4 – die Glaubens- und Gewissensfreiheit – merken wir, dass wir uns in der pluralen, multireligiösen Gesellschaft auf das Grundgesetz verlassen können. Es bietet den Rahmen für die säkulare Gesellschaft, in dem alle, Gläubige und militante Atheisten, Gleichgültige und die Mitglieder der Kirchen- und Religionsgemeinschaften Platz haben. In dem sie Flexibilität und Toleranz beweisen können.
An anderen Artikeln sehen wir, dass wir unserem Hang zur Perfektion erliegen. Der geänderte Asylrechtsartikel ist inzwischen ein Ungetüm, er hat seine sprachliche Klarheit verloren – und das in einer Zeit, in der er so wichtig geworden ist: Flucht und Vertreibung sind biblische Themen, sie haben eine historische Bedeutung und sind weltweit von hoher Aktualität – auch in der Gerechtigkeitsdebatte in unserem Land.
Viele Auseinandersetzungen darüber werden heute in einem Ton geführt, der Angst macht. Eine fiebrige Wut grassiert. Sie äußert sich verbal, im Netz vor allem, sie schreckt aber auch vor tätlicher Gewalt nicht zurück. Ein Allheilmittel dagegen haben wir nicht. Außer unserer festen, auch christlich geprägten Überzeugung: Keine Gewalt! Der Gedanke, der im Herbst ‘89 so viel verändert hat.
Demokratie und Rechtstaatlichkeit sind für die Stabilität der Gesellschaft ebenso wichtig wie Wohlstand und Prosperität. Wir sind alle aufgerufen, unsere Werte zu verteidigen – sie bändigen die entgrenzten Prozesse in der Welt und sorgen im globalen Wettbewerb für Ausgleich. Unsere Werteordnung schützt jeden Einzelnen und gilt nach innen wie nach außen. Selbstverständlich und unangefochten ist sie nicht, so stabil das Grundgesetz auch ist.
Gerechtigkeit kommt darin übrigens nicht oft vor: Artikel 1 betont, dass die Menschenrechte Grundlage „jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ sind. Auch die Amtseide enthalten das Wort – in der Verpflichtung, „Gerechtigkeit gegen jedermann“ zu üben. Genauere Hinweise aber haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes nicht formuliert. Es ist an uns, den Begriff mit Leben zu füllen. Ihn von einem Wort, aus dem eine tiefe Sehnsucht spricht, in politisches Handeln zu übersetzen. Immer wieder neu.
Die Aufgabe können wir nur gemeinschaftlich lösen. Im Dialog. So schwer der dieser Tage auch fallen mag. Gerechtigkeit ist im Kern kein finanzielles Problem. Wer viel hat, will noch mehr haben. Das kann ein Aufstiegsmotiv sein, aber eben auch Ausdruck von Neid und Unersättlichkeit. Wir vergleichen uns ja selten mit denen, die weniger haben. Menschliche Eigenschaften, die alles andere als gut für das Streben nach Gerechtigkeit sind.
Jahrzehnte des immens gewachsenen Wohlstands in unserem Land, der nicht allen, aber den allermeisten Menschen zu einem materiell guten Leben verhilft, haben in eine gewisse Starre, zu Saturiertheit geführt. In eine Erwartungshaltung, die stark vom eigenen Ich ausgeht. Das ist menschlich. Aber eine derart fordernde Haltung ist weit vom christlichen Begriff der Gerechtigkeit entfernt. Wir müssen aufpassen, sonst verliert unsere Gesellschaft ihre Gemeinwohlorientierung und zerfällt weiter.
Wir erleben, dass viele Menschen, die selbst eine Aufstiegserfahrung machen konnten, heute in der Sorge leben, ihren Kindern ginge es später nicht besser als ihnen heute. Es muss also immer besser gehen, immer mehr dazukommen. Auch das ist menschlich verständlich. Aber wir sollten darüber diskutieren, was dieses besser heißen soll. Was mehr dazukommen soll.
Wir trauen uns oft nicht, den Blick auf jene zu lenken, die weniger haben. Zwar gibt es in unserem Land viele, die freiwillig helfen, sich engagieren. Aber es gibt eben auch die weitverbreitete Haltung: Der Staat ist die Kuh, die gemolken wird. Wer die Kanne nur deshalb rausstellt, weil es der Nachbar auch tut, der sollte darüber nachdenken, ob er wirklich Durst hat. Das ist eine Gerechtigkeitsfrage, wenngleich eine sehr irdische. Und keine, mit der man sich beliebt macht.
Wollen wir Gerechtigkeit, müssen wir uns damit auseinandersetzen, was das sein soll. Unser christliches Verständnis sagt, dass es mehr ist als finanzieller Ausgleich. Not ist nicht unbedingt ein materieller Missstand, auch wenn das natürlich keine Ausrede dafür sein kann, nicht alles Mögliche für den sozialen Ausgleich zu tun.
Ja, es braucht auch mehr Geld. Doch gegen Not – denken Sie an die Pflege – braucht es eine darüber liegende Einsicht. Die Lebensqualität alter, einsamer Menschen, die sich nicht mehr so äußern können, wie wir es gewohnt sind, ist nicht dann gesichert, wenn sie schnell gewaschen und gut gefüttert sind. Nur mit der Einsicht, dass es zum Sozialleben mehr braucht, werden wir Dementen, ihren Familien und den Pflegekräften gerecht.
Die Not von Migranten und Asylsuchenden lindern wir auch nicht allein, wenn wir sie versorgen. Es braucht unsererseits die Einsicht, dass sie an uns eine enorm hohe Erwartung haben – und wir ihnen diese nicht einfach so erfüllen, sondern zu unseren Bedingungen: Integration ist ein beiderseitiges Versprechen. Nur so ist sie zum Wohle aller und gut für das soziale Miteinander.
Es braucht Verständnis – dafür, dass Inklusion nicht Gleichmacherei heißt, sondern die Grundlage des Zusammenseins immer ist, dass auf den Einzelnen in der Gemeinschaft geachtet wird. Der Schülerin, die leicht lernt und zu Hause bestens unterstützt wird, sollte die Schule genauso entgegenkommen, wie dem, der Mühe hat und von der Familie keine Hilfe erfährt. Beide sind in Not, beiden muss die Schule gerecht werden. Das wissen wir eigentlich seit langem – Chancengerechtigkeit haben wir nicht. Not ist Obdachlosigkeit, Not ist vererbte Armut und Hoffnungslosigkeit. Not herrscht dort, wo Daseinsvorsorge und Gemeinschaftsleben verkümmern, Menschen unfreiwillig in Isolation geraten und Mitmenschlichkeit fehlt.
Dahin müssen wir schauen. Aufmerksamkeit schenken. Mitleid allein hilft nicht. Aber echtes Interesse. Anerkennung und Respekt. Kommunen funktionieren besser, wenn sie ihre Bürger ernst nehmen, auf sie hören, sie anregen und ihnen dienen, statt sie anonym zu verwalten und alles zu regeln.
Regeln haben wir genug – so viele, dass sie uns schon fesseln. Wenn der eine Sonderfall geregelt ist, erwartet der Nächste, dass auch seinem Spezialproblem mit einer eigenen Regelung beigekommen wird. Summum ius, summa iniuria, wussten schon die alten Römer. Am Ende überblickt niemand mehr den Regelungsdschungel – und alle, deren Interessen nicht einzeln erwähnt sind, fühlen sich ungerecht behandelt. Diesem Mechanismus gilt es Einhalt zu gebieten. Er entmündigt die Bürgerinnen und Bürger, lähmt die Verwaltung, er überfordert die Politik. Auch das Grundgesetz wird nicht besser, wenn immer neue besondere Schutzziele formuliert sind!
Der Buß- und Bettag ist der Tag der Umkehr, oder zumindest des Innehaltens. Seit 1995 gibt es diesen Tag als arbeitsfreien Feiertag in den allermeisten Bundesländern – mit der Ausnahme Sachsens – nicht mehr. Er ist damals nach harten Debatten der Pflegeversicherung geopfert worden. Ich bezweifele, dass der Verzicht auf diesen Feiertag die beste oder einzige Variante zur Finanzierung der Versorgung pflegebedürftiger Menschen gewesen ist. Der Wert eines Tages, an dem Umkehr gepredigt wird, lässt sich in einer volkswirtschaftlichen Rechnung nicht abbilden. Wir müssen nicht alle fromme Christen sein. Aber ein Jom Kippur, ein Versöhnungstag, täte unserer fiebrig wütenden Gesellschaft gut.
Oder sind Büßen und Beten überkommene Rituale?
Der Buße geht das Eingeständnis voraus, einen Fehler begangen zu haben – ihn anzuerkennen oder wieder gut zu machen – das hat viel mit Gerechtigkeit zu tun. In den Psalmen heißt es: Gott vergibt die Ungerechtigkeit der Sünde.
Das klingt wirklich sehr biblisch. Nicht nur, weil das Wort Sünde im 21. Jahrhundert kaum noch anders gebraucht wird als im Zusammenhang mit dem Genuss von zu viel Schokolade. Unsere zweifellos christlich geprägte, aber von Ritualen entfremdete Gesellschaft lässt für Schuldeingeständnisse und Fehler wenig Raum. Sie gibt sich unversöhnlich, oft gnadenlos. Das sollten wir nicht zulassen!
Buße tun – das ist nicht nur notwendig, sondern verbunden mit einer zentralen Einsicht. Der Einsicht in unsere Fehlbarkeit, in unsere Begrenztheit als Menschen. Das hilft gegen die Versuchung von Allmachtsphantasien. „Wo immer in der Welt einer nicht mehr weiß, dass er höchstens der Zweite ist, da ist bald der Teufel los“, sagte Bischof Joachim Reinelt zum 50. Jahrestag der Dresdener Bombennacht. Wir sind nach dem Bilde Gottes gemacht – und doch ein Häufchen Staub. Sich das vor Augen zu führen, widerstrebt dem modernen Menschen und holt ihn doch auf den Boden der Tatsachen zurück. Buße ist heilsam, aber in unserem Alltag selten.
Selbstverständlich hat sich die Gesellschaft in den vergangenen 70 Jahren erheblich gewandelt – nicht zuletzt auch im Blick auf Glaube und Religion. Die in den Gründungstagen des Grundgesetzes noch gängige Kirchenmitgliedschaft hat ihre Selbstverständlichkeit verloren. Unser Land ist vielfältiger und säkularer geworden. Die jüdisch-christliche Deutung des Lebens und der Welt ist damit längst nicht mehr das einende Dach über den Menschen.
In dem Maße, in dem unsere Gesellschaft – wie viele andere in Europa auch – den Bezug zu den Wurzeln ihrer Werte verliert, kommt ihren Mitgliedern das Wissen um Buße oder Vergebung abhanden. Heute kennen viele Menschen diese Begriffe und deren Bedeutung nicht mehr.
Mit dem Verlust der „religiösen Musikalität“ weiter Teile der Gesellschaft geht das Wissen über biblische Gleichnisse und kirchliche Rituale verloren. Das ist mehr als ein Kulturverlust. Zwischenmenschliches Verhalten oder auch grundsätzliche politische Entscheidungen erklären sich dann nur noch aus sich heraus – es geht ihnen eine tiefe, eben religiöse Begründung und Wahrhaftigkeit verloren. Das macht nichts, solange unsere Werte nicht grundsätzlich infrage gestellt werden. Solange deren Begründung noch zählt.
Deshalb braucht unsere Gesellschaft den lebendigen Bezug zum Christentum. Wir leiten daraus ein wichtiges Korrektiv ab. Die Bitte um Vergebung. Auch im Politischen erschöpft sich Versöhnung oder Aussöhnung nicht in der Annäherung an einstige Kriegsgegner. Gräben, die sich mitten durch unsere Gesellschaft ziehen, können in einem offenen Versöhnungsprozess überbrückt und wieder geschlossen werden.
Wir kennen die Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit. Das Lob der Gerechten. Das Ideal von einer gerechten Welt. Wer weiß, dass er in „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ handelt, der muss nicht fromm sein, um zu spüren, dass er nicht nur sich selbst verpflichtet ist. Der wird es leichter haben, gerecht wider seinen Nächsten zu handeln. Im Sinne des Grundgesetzes. Und im Geiste Salomos.